Ein altes Sprichwort sagt, dass die Demokratie eine Einrichtung ist, die es den Menschen gestattet, frei zu entscheiden, wer an allem schuld sein soll. Die britischen Wähler sind offenbar überwiegend der Meinung, dass die EU an vielem Schuld ist, was ihnen in den letzten Jahren widerfahren ist.
Das Brexit-Votum hat auch unter Europas Spitzenpolitiker eine wahre Flut an Debattenbeiträgen darüber ausgelöst, wer denn wiederum daran schuld ist, dass die britischen Wähler die EU für schuldig halten, und welche Konsequenzen daraus gezogen werden müssten. So will beispielsweise der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble künftig „das Intergouvernementale“ (formerly known as Hinterzimmerpolitik) wieder stärker in den Vordergrund rücken. Jetzt sei nicht die Zeit für „Visionen“, sondern für eine „pragmatischere“ Politik.
Es ist schon bemerkenswert, die Forderung nach mehr Pragmatismus ausgerechnet von jemandem wie Schäuble zu hören, der in den letzten Jahren gegen jede empirische Erkenntnis eine Politik betrieben hat, die unglaublich ideologiegetrieben und somit das genaue Gegenteil von pragmatisch war. So verwundert es dann auch nicht, dass Schäuble mit „mehr Pragmatismus“ eine schärfere Anwendung der europäischen Schuldengrenzen meint.
Schäubles Ausführungen sind dennoch wertvoll. Der mittlerweile 73-Jährige zeigt einerseits, dass ein höheres Renteneintrittsalter vielleicht doch nicht die Lösung für unsere demografischen Probleme ist, sondern es gerade für politische Schlüsselpositionen eine Altersgrenze geben sollte. Andererseits hilft Schäuble der SPD dabei, in der langsam beginnenden Aufwärmphase für den nächsten Bundestagswahlkampf wieder etwas mehr an politischem Profil gewinnen zu können.
Denn zuvor hatte sich SPD-Parteichef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel dafür ausgesprochen, mit einer Investitionsoffensive gegen die Anti-EU-Stimmung anzugehen – was in ziemlichem Gegensatz zur Haltung des Koalitionspartners steht.
Gabriel knüpft mit seinen Forderungen an die Krisen-Diagnose vieler linker Ökonomen an. So argumentiert etwa Servaas Storm, dass der Brexit und die weiteren Anti-EU-Bewegungen in Europa das Resultat von wachsender prekärer Beschäftigung und einer zunehmenden Ungleichheit – kurz: einer neoliberalen Politik – seien. Storm schreibt: „Für viele Leave-Wähler, wenn nicht sogar für die meisten, war der Brexit der einzige Weg, ihren Protest gegen ein gescheitertes System auszudrücken, dass sie im Stich gelassen hat.“
Diese Sichtweise ist aus zwei Gründen reizvoll. Erstens dürfte sie zu einem großen Teil richtig sein. Diese ökonomische und soziale Katastrophe ist nicht vom Himmel gefallen, sondern war das Ergebnis eines grandiosen „makroökonomischen Missmanagements“, wie Storm zu Recht schreibt. Die millionenfache Verarmung in den europäischen Krisenländern war keine biblische Plage, durch die wir „jetzt halt durchmüssen“, sondern das Ergebnis menschlichen Versagens.
Daraus ergibt sich der zweite Reiz dieser Diagnose: Wenn die Krise selbstverursacht ist, kann sie auch gelöst werden. Die europäischen Staaten und die EU-Institutionen müssen sich darauf konzentrieren, die sozialen Verwerfungen zu korrigieren. Dann würden auch die sozialen und politischen Spannungen, die sich in einem Anwachsen nationalistischer und fremdenfeindlicher Bewegungen äußern, eindämmen lassen. Sprich: Die europäischen Wähler verlangen nach einer linkeren Politik.
Linke Parteien sind in Europa offensichtlich nicht mehrheitsfähig
Diese Diagnose hat nur einen entscheidenden Haken: Die jüngsten Wahlergebnisse sprechen ganz und gar nicht dafür, dass die Wähler in Europa tatsächlich eine linkere Politik wollen. Es ist gerade ein gutes Jahr her, dass die britischen Wähler das letzte Mal eine wichtige Wahl getroffen haben. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2015 statteten sie die Tory-Regierung mit einer absoluten Mehrheit aus – also genau jene Partei, die unter Federführung des britischen Schatzkanzlers George Osborne seit der Finanzkrise eine Austeritätspolitik betrieben hat, gegen die sogar die Sparfüchse aus dem deutschen Finanzministerium wie stramme Keynesianer aussehen.
Auch in Spanien reichte es bei den jüngsten Neuwahlen zum wiederholten Male nicht für eine linke Mehrheit. In Deutschland kommt das gesamte linke Parteienspektrum (definiert als SPD, Grüne und Linkspartei) in aktuellen Umfragen auf gerade einmal rund 45%. Und auch bei den Europawahlen 2014 waren die linken Fraktionen meilenweit von einer Mehrheit entfernt.
Man könnte im Sinne der Schuldfrage auch argumentieren, dass dies auch Ausdruck der Schwäche der linken Parteien ist, die – wie Teile von Frankreichs Sozialisten, der deutschen SPD oder der britischen Labour-Partei – einfach vergessen haben, dass die Interessen der Arbeitgeberseite bereits von anderen Parteien vertreten werden.
Aber wenn das Gerechtigkeitsthema tatsächlich das wichtigste Thema für die Mehrheit der Wähler wäre, würden die Wähler dann nicht trotz dieser Mängel eher eine linke als eine rechte Partei wählen? Vegetarier bestellen sich doch schließlich auch nicht auf einmal blutige Steaks, weil die Gemüse-Lasagne gestern nicht ganz so lecker war.
Eine denkbare Erklärung dafür wäre, dass viele Wähler schlicht und ergreifend nicht kapieren, was sie eigentlich wählen müssten, um ihre Ziele zu erreichen, ihr persönlicher Wahl-O-Mat also kaputt ist. Mit einer solchen Sichtweise macht man sich in philanthropischen Zirkeln zwar nicht sonderlich beliebt, hat aber in der Realität einige Anhaltspunkte. Dieses Grunddilemma kann man immer wieder bei linken bürgerlichen Vordenkern beobachten, die in ihren Theorien und Konzepten zum Wohle der Unterschichten argumentieren, aber in genau diesen Schichten keinerlei Gehör finden.
So hatte es schon etwas mitleiderregendes, als SPD-Politiker im stillen Kämmerlein während des Bundestagswahlkampfs 2013 darüber klagten, dass die harte und von Kurzsichtigkeit nur so strotzende Eurorettungspolitik der deutschen Regierung eigentlich die größte Schwachstelle von Angela Merkel darstellen würde – wohl wissend, dass gerade in der SPD-Kernklientel die Haltung der Eisernen Kanzlerin durchaus auf Gegenliebe stieß.
Womit wir bei den nächsten potenziellen Schuldigen wären: den Medien. Es gibt wohl keinen einzigen Menschen, der öffentlich behaupten würde, dass etwa das Fernsehprogramm in den letzten Jahren an Niveau gewonnen hätte. Dennoch offenbart der abendliche Blick aus dem Fenster, dass nicht nur während einer Fußball-EM immer noch genauso viele Fernseher wie vor zehn Jahren leuchten. Kommentare zu Dschungelcamp oder Tatort müllen mehr denn je unsere Twitter-Timelines voll. Offenbar trifft das mediale Angebot also durchaus die Nachfrage.
Unsere heutige Medienlandschaft ist extrem prozyklisch. Sie springt auf bestehende Tendenzen auf und verstärkt sie dadurch noch. Shareability geht vor Credibility. Dieses Prinzip lässt sich vielleicht nirgends so gut beobachten wie in wirtschaftspolitischen Fragen, die naturgemäß etwas komplexer sind und sich nur selten in 140 Zeichen umfassend argumentieren lassen.
Die deutsche Berichterstattung zur Griechenland-Krise war auch deshalb so einseitig, weil offenbar eine strenge Linie gegenüber der griechischen Regierung von Lesern und Zuschauern honoriert wurde. Kommentare und Analysen zur Geldpolitik der EZB-Politik sind auch deshalb so platt, weil sich die „Enteignung des deutschen Sparers“ bei Facebook nun einmal besser verbreitet, als Abhandlungen über die gesamtwirtschaftlichen Gefahren einer Deflation oder Erklärstücke zum Unterschied zwischen Real- und Nominalzinsen.
Was der veröffentlichten Meinung allerdings fehlt, sind die automatischen Stabilisatoren. So wie die Sozialsysteme bei steigender Arbeitslosigkeit Menschen nicht ins Bodenlose fallen lassen und die Nachfrage stabilisieren, sollte es auch Medien geben, die sich Klickraten und Einschaltquoten entziehen. Das ist der Ursprungsgedanke öffentlich-rechtlicher Medien. Aber das Niveau, das etwa ARD und ZDF etwa bei – den ohnehin kaum geführten – wirtschaftspolitischen Debatten an den Tag legen, zerstört inzwischen selbst bei hartgesottenen Verfechtern eines gebührenfinanzierten Rundfunks die Argumentationsgrundlage. Das ist in der Tat ein klarer Fall von staatlichem Versagen.
Medienhäuser sind kommerzielle Unternehmen, die Produkte herstellen, von denen sie glauben, dass sie beim Konsumenten ankommen. Wenn die Konsumenten hochwertigere Produkte wollen, müssten sie diese auch nachfragen, und sollten künftig Bilderstrecken über den Look eines griechischen Finanzministers ignorieren – was sie bisher jedenfalls in der Masse aber offenbar nicht tun.
Die politische Grauzone ist tot
Und dieses Prinzip von Angebot und Nachfrage gilt erst recht für die Politik. Die Wahlkämpfe in industrialisierten Gesellschaften sind so professionalisiert, dass man davon ausgehen kann, dass Politiker und ihre Wahlkampfmanager sehr genau wissen, was ihre potenziellen Wähler von ihnen erwarten.
Einer der meistformuliertesten Vorwürfe an unsere heutigen Politiker lautet, dass sie entweder „profillos“ wären oder jedem nach dem Mund reden würden. Aber offenbar ist es genau das, was wir an der Wahlurne honorieren. Deshalb hat es Angela Merkel auf inzwischen fast elf Regierungsjahre gebracht und ist erst in den Umfragen abgestürzt, als sie in der Flüchtlingskrise eine klare Position bezog. Deshalb werden im November entweder Hillary Clinton (profillos) oder Donald Trump (nach dem Mund reden) ins Weiße Haus einziehen.
Wir wollen offenbar entweder profillose oder populistische Politiker. Dazwischen gibt es keinen Platz mehr. Sicher, das politische Angebot ist in den letzten Jahren extrem gesunken. Aber Populisten wie Trump, Johnson, Petry oder Seehofer haben den Populismus nicht erfunden – sie bedienen lediglich unsere Nachfrage. Wir verlangen nach Politikern, die ihren Job als „Fieberthermometer im Arsch des Zeitgeists“ (Friedrich Küppersbusch) ausüben, und wir bekommen sie. An dieser Stelle funktioniert der Markt tatsächlich perfekt.
Nein, es ist eine reine Beruhigungspille, wenn wir so tun, als wenn der inhaltliche Verfall von Politik und Medien zuerst dagewesen wäre. Viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass Politik und Medien ihr Angebot an unsere Nachfrage angepasst haben. Wir Bürger, Wähler, Medienkonsumenten sind mindestens genauso sehr Täter, wie wir Opfer sind.
Das gilt für auch für das Europäische Projekt. Die EU hat auch deswegen ein demokratisches Defizit und ist zu einem bürokratischen Raumschiff geworden, weil wir europäischen Wähler es durch Passivität zugelassen haben. Die Wahlbeteiligung an den Europawahlen lag 2014 bei 43%. In Großbritannien waren es übrigens 36%.
Prinzipiell hat Jakob Augstein vollkommen Recht, wenn er in seiner jüngsten Spiegel Online-Kolumne trotzdem davor warnt, mehr Volksentscheide abzuhalten: Aber diese Referenden sind vielleicht der einzige Weg, um die breite Masse der Bevölkerung in die Verantwortung zu nehmen. Dann kann zumindest niemand mehr so tun, als wenn er oder sie an der aktuellen Lage vollkommen unschuldig wäre.
Es ist einfach nicht nachvollziehbar, wenn sich Leave-Wähler jetzt enttäuscht darüber zeigen, dass die führenden Köpfe der Brexit-Kampagne binnen nicht mal einer Woche ihre Versprechen im Rekordtempo revidierten. Boris Johnson, Nigel Farage und Co. haben so unglaublich viele unrealistische Versprechungen gemacht, dass man schon sehr blind sein musste, um an deren Erfüllung zu glauben. Deshalb ist es zu einfach, wenn Frances Coppola hinsichtlich des Brexit-Wahlkampfs schreibt: „Die Lügen und Täuschungen waren auf beiden Seiten so weitreichend, dass es den Menschen gar nicht möglich war, eine vollkommen informierte Entscheidung zu treffen.“ Etwas Eigenverantwortung darf man schon verlangen, vor allem bei einer so gewichtigen Entscheidung.
Ist der Wähler wirklich ein homo oeconomicus?
Es scheint aber so, als wenn eine große Zahl von Brexit-Wählern gar nicht zu blöd gewesen wäre, diese offensichtlichen Nachteile zu erkennen, sondern sie billigend in Kauf genommen hat. Diese Herangehensweise ist aber insbesondere für Ökonomen oftmals nicht nachvollziehbar.
Deren Denkweise ist oftmals eine sehr rationale: Sie geht davon aus, dass sich rückständige Bewegungen (Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit) durch eine Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen eindämmen lassen. Das ist ironischerweise genau jenes Verständnis vom Menschen als homo oeconomicus, das gerade von linken Volkswirten sonst vehement – und zurecht – bekämpft wird. Der Mensch trifft seine (ökonomischen) Entscheidungen eben nicht immer auf Grundlage von Fakten, sondern es sind auch noch andere emotionale Faktoren im Spiel, die mit Rationalität nicht viel zu tun haben. Und der Mensch wählt (glücklicherweise) auch nicht immer den Weg, der die vermeintlich meisten (ökonomischen) Vorteile bietet.
Für die EU und unsere Gesellschaften könnte das bedeuten: Viele Menschen haben offenbar einen so starken Wunsch nach Veränderungen, dass selbst negative Veränderungen dem Erhalt des Status quo vorgezogen werden. Daran wird auch das abschreckende Brexit-Beispiel nicht viel ändern. Raucher werden auch nicht deshalb vom Rauchen abgehalten, wenn sie wie jetzt auch in Deutschland durch ekelerregende Schockbilder über die negativen Folgen aufgeklärt werden. Als wenn die nicht längst bekannt wären.
Und dieser destruktive Drang ist auch keinesfalls unnatürlich, sondern lässt sich auf jedem Spielplatz beobachten: Kinder können über Stunden hinweg hochkonzentriert Sandburgen bauen, um sie dann binnen weniger Sekunden mit dem größten Vergnügen zu zerstören. Die EU ist mittlerweile 66 Jahre alt. Und man sagt ja, dass Menschen mit zunehmenden Alter wieder kindlicher werden.
Außerdem kann man das Auseinanderbrechen von bestehenden Ordnungen auch als einen wichtigen Aspekt „sozialer Evolution“ verstehen. Der Biologe und Anthropologe Peter Turchin nennt dies in Anlehnung an Schumpeters „schöpferische Zerstörung“ einen Prozess der „destruktiven Schöpfung“:
„Wenn soziale Formationen dysfunktional werden, müssen sie irgendwie beiseite gewischt und durch kooperativere Formationen ersetzt werden. Das ist das Grundprinzip freier Marktwirtschaften. Unprofitable Firmen erleiden Schiffbruch und effizientere Unternehmen übernehmen ihren Marktanteil.“ Daher kommt Turchin zu dem Schluss: „Anstatt zu versuchen, gegen diesen disintegrativen Trend anzukämpfen, sollten wir den Dingen ihren Lauf lassen und in die EU in ihrer heutigen Form zerstören.“
Jeder hat an allem eine Mitschuld
Eine solche Einstellung hört sich zwar ziemlich feuilletonistisch und lässig an, ist aber für Menschen mit einer lebensbejahenden Grundhaltung nur schwer zu ertragen: Das Leben ist ein bisschen zu kurz, um Europa auch nur ein paar Jahre lang in der Hoffnung auf eine möglicherweise bessere Grundordnung in politischem, sozialem und ökonomischem Chaos zu versenken. Es ist genau diese Mal-kurz-den-Gürtel-enger-schnallen-Mentalität, die die Eurokrise so hat eskalieren lassen.
Aber sie trifft einen wunden Punkt: Alle Vorschläge, die europäische Politik wieder demokratischer und sozialer zu machen, sie „wieder näher an die Menschen“ heranzubringen, sind absolut wünschens- und unterstützungswert – aber sie haben ein entscheidendes Defizit: Wer so tut, als wenn „die Eliten“, egal ob auf supranationaler oder nationaler Ebene, und „die Medien“ es alleine versaut hätten, stiehlt sich einfach nur aus der Verantwortung.
Wir sind alle ein bisschen Brexit – und wenn wir es nicht schaffen, gesamtgesellschaftlich sehr aktiv eine höhere politische und mediale Qualität nachzufragen, wird es auch trotz aller Sonntagsreden keine Verbesserung der Angebotsseite geben.
Dostojewski hat das bereits im an sozialen Spannungen auch nicht gerade armen 19. Jahrhundert erkannt, als es schrieb: „Jeder ist an allem schuld. Aber wenn jeder das wüsste, hätten wir das Paradies auf Erden.“ Angesichts der derzeitigen Lage wäre es inzwischen schon ein Fortschritt, wenn wir Europa wenigstens nicht auf direktem Wege in die Hölle schicken.