Kommentar

Die Brexit-Tragödie fordert auch die Volkswirtschaftslehre heraus

Es wäre ein tragischer Fehler, die europaweite Anti-EU-Stimmung als simple Borniertheit zu interpretieren – denn Rassismus und Xenophobie werden durch die Schmerzen genährt, die die derzeitige Wirtschaftspolitik verursacht hat. Ein Kommentar von Servaas Storm.

Get rich or die tryin‘: Die EU sollte sich dringend ein neues Motto suchen. Foto: James Creegan via Flickr (CC BY 2.0)

Beim Brexit geht es um wesentlich mehr als nur um eine Frustration gegenüber der EU und um Einwanderungsfragen. Es geht vielmehr um den Mangel an vernünftigen und sicheren Jobs, einen unglaublich prekären Arbeitsmarkt, unfassbare Einkommens- und Vermögensungleichheiten, einen beschränkten Bildungszugang und einen furchtbaren Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Und es geht um die unbeirrbare Austeritätspolitik des britischen Finanzministers George Osborne und um das regellose und steuerfreie Umfeld, das für große Banken und Konzerne geschaffen wurde.

Das Ergebnis des Referendums spiegelt eine tiefsitzende Wut und Sorge innerhalb großer Teile der Bevölkerung wider, die sich entmachtet und ignoriert fühlt, und die es nicht länger ertragen kann, in einer thatcheristischen Wüste des freien Marktes (auch bekannt als Camerons „Big Society) zu leben, zu der Großbritannien geworden ist – und die von den New Labour-Regierungen seit Tony Blair noch weiter verwüstet wurde.

 Für viele Leave-Wähler war der Brexit der einzige Weg, ihren Protest gegen ein System auszudrücken, dass sie im Stich gelassen hat

Medial gewiefte und faktenfreie Politiker wie Boris Johnson und Nigel Farage haben diese Wut und Frustration ausgenutzt, indem sie das Einwanderungsthema und die Feindseligkeit gegen Brüssel als Trumpfkarten ausspielten. Für viele Leave-Wähler, wenn nicht sogar für die meisten, war der Brexit der einzige Weg, ihren Protest gegen ein gescheitertes System auszudrücken, dass sie im Stich gelassen hat.

Die Entscheidungsfindung in der Europäischen Union symbolisiert ein größtenteils unverantwortliches, elitäres und undemokratisches System. Das ist der Grund, warum Labour-Chef Jeremy Corbyn nur halbherzig das Remain-Lager unterstützt hat. Die jüngsten Beispiele von Griechenland, Spanien und anderen südeuropäischen Ländern, die sich alle in einem von Brüssel aus errichteten ökonomischen Gefängnis befinden, sprechen deutlich gegen die Realisierbarkeit einer „Reform der EU von innen“.

Welcome to „Borisland“

Der traurige Ausgang des Leave-Votums wird allerdings leider darin bestehen, dass die wiedererlange Souveränität zum Preis einer tiefgespaltenen Nation erfolgte und höchstwahrscheinlich nicht das sozialere und ökonomisch eigenständigere Großbritannien hervorbringen wird, nach dem sich viele Wähler sehnen – und zwar nicht deswegen, weil der Brexit eine (möglicherweise) schwere Rezession auslösen wird.

Stattdessen dürften die Hoffnungen der Progressiven enttäuscht werden, weil sich Großbritannien in ein „Borisland“ verwandelt – eine deindustrialisierte Nation, die von einem durch den Finanzsektor getriebenen Wachstum abhängig ist, der vielleicht etwas Wohlstand nach unten durchsickern lässt. Ein Land, das unter einem trägen Produktivitätswachstum, zunehmender prekärer Beschäftigung und wachsenden Ungleichheiten leidet, und dessen Regierung auf permanenten Austeritäts-Modus geschaltet hat.

In seinem Essay The Lion and the Unicorn schrieb George Orwell einst sehr zutreffend, dass England „einer Familie ähnelt, einer ziemlich spießigen viktorianischen Familie, in der es nicht viele schwarze Schafe gibt, aber deren Schränke bis zum Anschlag mit Skeletten gefüllt sind. Sie hat reiche Beziehungen, vor denen gebuckelt werden muss und schlechte Beziehungen, die in Anspruch genommen werden, und es gibt eine Stillhaltevereinbarung darüber, woher die Familie ihr Einkommen bezieht. […] Es ist eine Familie, in der die jungen Menschen ausgebremst werden und in der die meiste Macht in den Händen von unverantwortlichen Onkels und bettlägerigen Tanten liegt.“ […] [England ist eine] Familie, die von den falschen Mitgliedern kontrolliert wird – viel besser kann man England mit nur einem Satz kaum beschreiben.“

Allerdings bedroht das Brexit-Referendums in erster Linie nicht Großbritannien, sondern die Europäische Union. Auf dem ganzen Kontinent gibt es einen sehr ähnlichen Verdruss und Sorgen über Jobs, Austeritätspolitik, bezahlbaren Wohnraum, Renten und Ungleichheit. Eine demokratische Entmündigung von großen Teilen der Gesellschaft schafft einen fruchtbaren Boden für nationalistisch-populistische linke aber vor allem rechte Bewegungen. Sie werden geführt von Leuten wie Marine Le Pen (Frankreich), Geert Wilders (Niederlande), Norbert Hofer (Österreich), Timo Soini (Finnland), Filip Dewinter (Belgien) und Frauke Petry (Deutschland).

Der Brexit ist nur die jüngste Manifestation der wachsenden Stärke des Euroskeptizismus, der sich im April bereits in der niederländischen Ablehnung des EU-Ukraine-Abkommens  (61% waren dagegen) und der knappen Niederlage der Rechtspopulisten bei der österreichischen Präsidentschaftswahl im Mai ausgedrückt hatte (damals verlor der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer mit 49,7 zu 50,3% gegen Alexander van der Bellen von den Grünen).

Umfragen zeigen, dass inzwischen ein Viertel bis ein Drittel aller EU-Bürger dem Europäischen Projekt extrem feindselig gegenüberstehen. Es gibt Befürchtungen, dass der Brexit anderswo ähnliche Referenden auslösen wird – so wird ernsthaft über den Nexit (Niederlande), den Auxit (Österreich) und den Frexit (Frankreich) debattiert. Diese Debatten werden größtenteils von Anti-Einwanderungs- und Anti-Islam-Bewegungen aus dem Spektrum der extremen Rechten vorangetrieben. Unabhängig davon, ob diese Referenden tatsächlich abgehalten werden (was unwahrscheinlich ist), wird die extreme Rechte diese Wut, Frustration, Ängste und anti-elitären Ressentiments künftig noch stärker aktivieren.

Duale Volkswirtschaften

Es wäre aber ein tragischer Fehler, diese Ressentiments gegen die EU nur als rassistisch oder engstirnig zu interpretieren. Sie sind in einem Umfeld der Austerität, eines künstlich geschaffenen Jobmangels, einer steigenden Arbeitslosigkeit, einer zunehmenden Jobunsicherheit und explodierender Ungleichheit gewachsen, während die soziale Absicherung für Arbeitnehmer, Rentner und Familien zugunsten eines ausgedehnten Sicherheitsnetzes für Too-big-to-fail-Banken und Konzerne heruntergefahren wurde.

Wie in Großbritannien gibt es fast überall in der EU eine Polarisierung zwischen einer großen Zahl von Haushalten mit niedrigen Einkommen und einer verschwindend geringen Zahl von sehr reichen Menschen, während die Mittelschicht geschrumpft ist. Es gibt eine Segmentierung in schlecht bezahlte, ungeschützte und prekäre Beschäftigung, meistens im Low-Tech-Sektor, und hoch bezahlte und gut geschützte Arbeitsplätze in der High-Tech-Industrie, in der Finanzbranche, in den Rechtsabteilungen und im Staatsdienst.

Die Arbeitsmarktreformen verwandeln die europäischen Länder in „duale Volkswirtschaften“ – ein Trend, der von der Robotisierung und dem technologischen Fortschritt noch verstärkt wird. Der wahre Grund für die Misere liegt somit in einem vollkommenden makroökonomischen Missmanagement der Finanzkrise und des weiterhin rasanten technologischen Wandels, der – unglücklicherweise nicht zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte – die Voraussetzung für politische Instabilität, Umwälzungen und soziales Chaos geschaffen hat.

Die massiven sozialen Proteste in Frankreich gegen die „Modernisierung der Arbeitsgesetze“ – das ist Neusprech für die Schleifung des französischen Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung im Allgemeinen – durch die „sozialistische“ Hollande-Regierung illustrieren diesen Punkt: Die systematische Demontage des Arbeitnehmerschutzes im Namen der Reduzierung von Lohnkosten und der Verbesserung der Lohnstückkosten-Wettbewerbsfähigkeit wird mit Sicherheit Jobunsicherheit, prekäre Beschäftigung und Ungleichheit erhöhen, ohne dabei irgendwelche makroökonomischen Vorteile zu bringen.

Diese Maßnahmen wurden mittlerweile unzählige Male in der Realität erprobt – jedoch konnte bisher kein stabiler Zusammenhang zwischen Arbeitsschutz auf der einen und Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsleistung und Produktivitätswachstum auf der anderen Seite nachgewiesen werden.

Die Verantwortung für das ökonomische und politische Chaos in Großbritannien, der EU und darüber hinaus liegt maßgeblich bei Ökonomen, die darauf beharren, dass es keine Alternative zu einer globalisierten Marktwirtschaft gibt, die den Reichen Freiheit bietet und dem Rest Unfreiheit, und die kurzerhand alle ernsthaften progressiven Programme zurückweisen, die das System demokratischer und humaner machen wollen. Dies ließ sich etwa anhand der überstürzten Bemühungen vieler US-amerikanischer Mainstream-Ökonomen beobachten, die mit bemerkenswerten Taschenspielertricks Bernie Sanders´ ökonomische Agenda auseinander nahmen.

Wir brauchen dringend ein neues Paradigma, um das System zu reformieren und es zum Wohle der Mehrheit auszurichten, wie etwa Thomas Fricke sehr elegant argumentiert hat. Solange es keine ernsthafte neue ökonomische Denkweise gibt, die über Austerität, Finanzmarktderegulierung und eine von Unternehmen dominierte Politik hinausgeht, werden sich die sozialen und politischen Spannungen innerhalb der EU weiter verstärken.

Im Jahr 1770 schrieb Oliver Goldsmith in The Deserted Village: „Wehe dem Land, auf welches Plagen prasseln wie Scherben, wo Reichtümer wuchern und Menschen verderben.” Daran hat uns der Historiker Tony Judt in seinem 2009 kurz vor seinem Tod erschienenen Buch, dessen Titel Ill Fares the Land sich an eben diese Passage anlehnt, noch einmal erinnert. Es gibt keine einfachen Antworten – aber die Volkswirtschaftslehre muss dringend anfangen, sich selbst zu reformieren und die richtigen Fragen stellen.

 

Zum Autor:

Servaas Storm ist Senior Lecturer für Volkswirtschaftslehre an der Delft University of Technology.

 

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst in englischer Sprache auf der Homepage des Institute for New Economic Thinking (INET) erschienen und wurde von der Makronom-Redaktion mit Zustimmung von INET ins Deutsche übersetzt.