Kommentar

Wir brauchen eine richtige Diagnose für die Populismus-Krankheit

USA, Russland, China: Alle drei globalen Großmächte sind zunehmend von einem Populismus befallen, der maßgeblich von den Mittelschichten getragen wird. Die Gründe dafür gehen weit über den Aufstieg einzelner Populisten hinaus. Ein Kommentar von Branko Milanovic.

In westlichen Ländern speisen sich populistische Strömungen vor allem aus den geringen Reallohnzuwächsen der Mittelschichten. Foto: DonkeyHotey via Flickr (CC BY 2.0)

Im November dieses Jahres werden sich die Wähler in den USA zwischen Populismus und Plutokratie entscheiden. Auf diese Wahl habe ich bereits im vierten Kapitel meines Buches Global Inequality hingewiesen, obwohl ich die entsprechende Passage schon vor einem Jahr schrieb, als der außergewöhnliche Aufstieg von Donald Trump noch längst nicht absehbar war.

Dieser Aufstieg, kombiniert mit einer populistischen Reaktion gegen Globalisierung, Einwanderung und Ausländer, ist zum Thema zahlloser Zeitungs- und Magazinartikel geworden, von denen einige in gewisser Weise behaupten (z. B. in der jüngsten New York Review of Books), dass der Aufstieg des Populismus unvermeidbar und vorhersehbar war.

Der Populismus speist sich nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien, Frankreich, Schweden und anderswo aus den sehr geringen oder überhaupt nicht vorhandenen Reallohnzuwächsen der Mittelschichten in den reichen Ländern.

Die folgenden Grafiken zeigen dies eindeutig: Die Einkommensanteile der mittleren vier Dezile sind in den größten entwickelten Volkswirtschaften während der letzten 30 Jahre um 1 bis 4 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts zurückgegangen. Dieses Phänomen ist als kein exklusiv US-amerikanisches, sondern tritt in allen reichen Ländern auf.

Mittelschichten_Einkommensverteilung_USA_UK_Kanada_Deutschland
Quelle: Luxembourg Income Study Data

Die Ursprünge der populistischen Bewegungen in westlichen Ländern sind gut bekannt und in dem Sinne „nachvollziehbar“, als dass sie von einem Prozess der wirtschaftlichen Abschwächung getrieben werden. Allerdings gibt es auch in China einen Anstieg des Populismus zu beobachten, der viel schwieriger zu erklären ist, weil er nicht von einer schrumpfenden, sondern von einer wachsenden Mittelschicht begleitet wird. Die Modernisierungstheorie lehrt uns eigentlich, dass ein wachsender Anteil der Mittelschicht die Demokratisierung von Gesellschaften vorantreibt. In der Tat konnten wir dies in den letzten 40 Jahren beobachten, angefangen von der Nelkenrevolution in Portugal über den Fall des Kommunismus hin zur Verbreitung der Demokratie in Südkorea, Taiwan und in Lateinamerika.

Könnte China zu einer Ausnahme von dieser „Gesetzesmäßigkeit“ werden? Diese Frage stellen sich die kommunistischen Anführer höchstwahrscheinlich selbst. Wenn ihre Antwort „Ja“ lautet, dürften sie ihr Handtuch in den Ring werfen, um ihre Herrschaft zu sichern. Da sie dies allerdings jedoch offenbar nicht wollen und ihnen klargeworden ist, dass die Ideologie des „GDPism“ (der Glaube an ein unendliches doppelstelliges Wachstum der Realeinkommen) nicht aufrechterhalten werden kann, haben sie versucht, die öffentliche Meinung in Richtung eines milden Maoismus oder eines soften Nationalismus zu drehen.

Der wachsende Populismus in China ist nicht das Ergebnis von wirtschaftlichem Versagen – sondern von wirtschaftlichem Erfolg

Keine diese zwei Tendenzen ist bisher stark oder giftig genug – aber das Potential, diese Stimmung wenn nötig anzuheizen, ist gegeben. Im Falle Chinas ist der wachsende Populismus also nicht das Ergebnis von wirtschaftlichem Versagen, sondern im Gegenteil Resultat des wirtschaftlichen Erfolgs. Dieser macht die Aufrechterhaltung des alten politischen Systems schwieriger oder ist sogar damit inkompatibel. Das ist ein Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktionskräfte und der Unzulänglichkeit des Überbaus, die auch jeder Marxist anerkennen würde.

Die dritte populistische Reaktion finden in Russland statt. Sie wird wiederum durch eine andere Kraft genährt – nicht durch zu viel wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg, sondern durch ungerechte Privatisierungen, Ressentiments und Revanchismus. Diese Gefühle gehen auf das Ende des Kalten Krieges zurück, das im Westen (fälschlicherweise) als ein Sieg über Russland interpretiert wurde.

Es ist diese Erzählung, die Wladimir Putin und die russische Mittelschicht verabscheuen und die die Wurzel ihres unheilvollen Populismus und Nationalismus bildet. Es wäre falsch, diese Gefühle als ein von der Elite hergestelltes Produkt darzustellen – es ist eher so, dass die Elite der Mittelschicht erlaubt hat, diese Gefühle auszudrücken.

Auch in den USA hat der Aufstieg von Donald Trump nicht aus sich selbst heraus Populismus produziert, sondern hat populistische Äußerungen akzeptabler gemacht. In der Vergangenheit hatten die Menschen in gewisser Weise Hemmungen, xenophobe oder rassistische Ansichten laut zu äußern. Diese Hemmungen sind verschwunden, als die politischen Anführer solche Ansichten offen geäußert haben und dafür auch noch politische Unterstützung erhalten haben.

Was ist das richtige Heilmittel für die Populismus-Krankheit?

Deswegen haben diejenigen, die das Problem personalisieren und Trump, Xi oder Putin als Schuldige für das „Erschaffen“ von Populismus und Fremdenfeindlichkeit sehen, nur teilweise Recht. Trump, Xi und Putin haben die Äußerung von populistischen Ansichten erlaubt – aber sie haben sie nicht erschaffen. Diesen Populismus gab es schon früher und er basierte auf realen und nachvollziehbaren Gründen.

Eine Diagnose, die die Ursache für unsere Probleme hauptsächlich in verschiedenen Politikern sieht, führt dazu, dass wir eine falsche Medizin verschreiben. Der Versuch, diese Menschen davon abzuhalten, an die Macht zu kommen oder sie zu stürzen, wäre nicht ausreichend. Eine solche Medizin trägt nichts zur Lösung des zugrundeliegenden Problems bei, das die Populisten an die Schwelle zur Macht oder schon darüber hinaus gebracht hat.

Für eine echte Lösung brauchen wir zunächst eine richtige Diagnose. Und die richtige Diagnose lautet: In den USA wurzelt der Populismus im Versagen der Globalisierung, der Arbeiterschicht greifbare Vorteile zu bringen. In Russland wurzelt er in der Unfähigkeit (oder dem Unwillen) des Westens, Russland als gleichberechtigen Partner einzubeziehen. In China wurzelt er in einem unpassenden politischen System.

Sobald wir die Ursachen dieses Problems richtig verstehen, können wir anfangen, es zu lösen. Ansonsten wird die Populismus-Krankheit, die Globalisierung und Ausländer für alle Probleme verantwortlich macht und sich in den drei Großmächten ausbreitet, die 98% aller Nuklearwaffen unserer Welt kontrollieren, zu einem wirklichen Grund, sich Sorgen zu machen.

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut.

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst in Branko Milanovic´Global Inequality-Blog erschienen. Die deutsche Übersetzung erfolgte durch die Makronom-Redaktion mit Genehmigung des Autors.