Kommentar

Die EU-Kommission hat die beste aller schlechten Optionen gewählt

Die EU-Kommission hat erneut darauf verzichtet, säumige Mitgliedsstaaten für das Verfehlen der Haushaltsregeln zu bestrafen. Angesichts der momentanen Situation ist das die richtige Entscheidung.

Muss Strafe wirklich sein? Foto: chauromano via Flickr (CC BY 2.0)

Wie schon in den Jahren zuvor hat die EU-Kommission bei ihren in der letzten Woche im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorgestellten „länderspezifischen Empfehlungen“ darauf verzichtet, säumige EU-Länder mit Sanktionen zu belegen. Dafür hagelte es insbesondere aus Deutschland heftige Kritik – auch das hat inzwischen eine gewisse Routine. Das EU-Defizitverfahren wird als „zahnloser Tiger“ verspottet, das nur noch auf dem Papier existiert und in der Praxis ohne jede Relevanz ist.

Diese Behauptung dürfte nur zum Teil richtig sein, wie weiter unten noch gezeigt werden wird. Vor allem aber hat die Kommission mit ihrem Sanktionsverzicht sich richtigerweise für das kleinste Übel entschieden.

Das Defizitverfahren ist das Relikt einer gescheiterten Krisenpolitik

Das Defizitverfahren in seiner heutigen Form ist in einer Zeit entstanden, in der die deutsche Bundesregierung die europäische Krisenpolitik maßgeblich dominiert hatte. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble vertraten die Meinung, dass die Eurokrise primär eine Staatsschuldenkrise war. Dementsprechend musste Haushaltsdisziplin das Gebot der Stunde sein. Das 2011 im Rahmen des „Sixpack“ verschärfte Defizitverfahren trug dieser Kriseninterpretation Rechnung.

Die Ergebnisse dieser Politik sind bekannt: Die Eurozone stürzte in eine tiefe Rezession. Die Arbeitslosigkeit stieg auf ein Rekordhoch. Die Staatsschulden sind noch weiter explodiert und die Zustimmungswerte für das europäische Projekt erodiert. Es ist nicht nach wie vor nicht auszuschließen, dass die EU oder zumindest die Eurozone diese Katastrophe nicht überleben wird.

Wenn man es mit Merkel, Schäuble und den anderen Verfechtern der rigorosen Sparpolitik gut meint, könnte man sagen, dass ihr Konzept einfach nicht funktioniert hat, aber man das vorher halt nicht so genau wissen konnte. Die Finanzkrise von 2008 und die ab 2010 eskalierende Eurokrise waren ein enormer Schock. Es galt neue Lösungen für unbekannte Probleme zu entwickeln. Wie alle anderen Krisenhelfer mussten es auch die Europäer mit dem Trial-and-Error-Prinzip versuchen. Da kann auch mal etwas schiefgehen (man könnte natürlich auch darauf hinweisen, dass ziemlich viele schlaue Leute das Scheitern dieser Politik schon von Anfang an prognostiziert haben).

Aber spätestens jetzt, wo die Ergebnisse dieser Politik sichtbar geworden sind, ist es an der Zeit, einen anderen Ansatz auszuprobieren. Bei genauerer Betrachtung ist dieser Ansatz schon seit längerem im Gange – und die bisherigen Ergebnisse sind durchaus ermutigend.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte 2012 durch Mario Draghis „Whatever it takes“-Ankündigung die Finanzmarktpanik beendet. Dieses nie eingesetzte OMT-Programm wurde im Frühjahr 2015 durch das QE-Programm erweitert bzw. abgelöst. Diese beiden Programme sind im Prinzip eine Art zeitlich begrenzte Light-Version von Eurobonds, gegen deren Einführung sich die Bundesregierung vehement gesträubt hatte. OMT und QE haben die Refinanzierungskosten der Peripheriestaaten (Ausnahme: Griechenland) erheblich gesenkt und ihnen so ermöglicht, die exzessive Austeritätspolitik zu beenden. Dieser Politikwechsel hat dazu geführt, dass die Rezession in den Krisenländern beendet wurde und die Arbeitslosenquoten langsam zurückgehen. Genau diesem Ansatz hält die Juncker-Kommission mit ihrem Verzicht auf Sanktionen auch weiterhin den Rücken frei.

Schönwetterkonzept

Es stimmt schon: Eine Währungsunion braucht eine koordinierte Fiskalpolitik und ein gemeinsames Regelwerk, das respektiert und durchgesetzt wird. Aber der derzeitige Rahmen ist ein reformbedürftiges Schönwetterkonzept: Wenn die Wirtschaft brummt, ist es geeignet, die Fiskalpolitik zur nötigen Disziplin anzuhalten.

Die Kommission steht in dem ständigen Konflikt, sich zwischen dem politisch Notwendigen und dem ökonomisch Sinnvollen zu entscheiden

Aber die Eurozone ist nach wie vor weit von einem Boom entfernt, das Wachstum steht auf wackligen Füßen, die politischen Spannungen sind unübersehbar. Die Kommission steht daher in dem ständigen Konflikt, sich beim Defizitverfahren zwischen dem politisch Notwendigen (Durchsetzung der Regeln) und dem ökonomisch Sinnvollen (Wachstum) zu entscheiden. Sie hat sich jetzt wie schon in den Vorjahren für letzteres entschieden. Das ist, frei nach Winston Churchill, eine schlechte Entscheidung – aber es ist noch die beste Option, die ihr zur Verfügung stand.

Viele Kritiker wenden ein, dass die Kommission durch dieses Verhalten ihre „politische Glaubwürdigkeit“ beschädigen würde. Da mag sogar etwas dran sein, interessiert aber außerhalb der Brüsseler und Berliner Polit-Käseglocken dann doch die wenigsten. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass auch nur einer der immer noch mehr als 16 Millionen Arbeitslosen in der Eurozone den Verlust seines Jobs besser verkraftet, wenn ihm oder ihr erklärt wird, dass die europäischen Regeln eben eine kontraproduktive Wirtschaftspolitik erfordern?

Es ist die chronische europäische Wirtschaftskrise, die die „politische Glaubwürdigkeit“ der EU erodieren ließ und den Nährboden für den Aufstieg europafeindlicher (und in der Regel auch menschenverachtender) Parteien bereitet hat. Wenn die EU-Kommission ihr „politisches Kapital“ dafür opfert, dieser gefährlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten, dann möge es doch bitte so sein.

Zahl der Verstöße geht zurück

Es dürfte im Übrigen auch nicht stimmen, dass die europäischen Haushaltsregeln gänzlich ohne Wirkung sind. Laut Berechnungen des ifo-Instituts gab es seit 1999 insgesamt 165 Verstöße gegen das 3%-Maastricht-Kriterium. Davon bewertet das Institut 114 als „nicht erlaubt“ (erlaubt sind Verstöße während einer Rezession). Schlüsselt man diese Verstöße zeitlich auf, zeigt sich, dass sie seit der Verschärfung des Defizitverfahrens im Jahr 2011 deutlich zurückgegangen sind:

*Rückgang des realen BIP. Quellen: ifo, eigene Berechnungen

Diese stärkere Disziplin spiegelt sich auch im Defizitverfahren selbst wider. Im Frühjahr 2011 hatten sich noch 24 Staaten im Defizitverfahren befunden. Sollte der Europäische Rat der Empfehlung der EU-Kommission folgen und Zypern, Irland und Slowenien aus dem Verfahren entlassen, würde die Zahl auf nur noch sechs Länder schrumpfen. Um im eingangs erwähnten Bild zu bleiben: Auch ein zahnloser Tiger kann durchaus eine disziplinierende Wirkung haben. Er muss nicht unbedingt zubeißen.