Ampelkoalition oder R2G

Martin Schulz muss sich entscheiden

Bisher hat sich die SPD im Wahlkampf davor gedrückt, inhaltlich Farbe zu bekennen – und wurde mit sinkenden Umfragewerten und drei heftigen Wahlniederlagen abgestraft. Wenn die Sozialdemokraten noch eine Chance auf das Kanzleramt haben wollen, müssen sie sich entscheiden, ob sie eine sozialliberale oder eine rot-rot-grüne Koaltion anstreben. Ein Kommentar von Philipp Stachelsky.

Genossen, hört die Signale. Foto: Pixabay

Drei Landtagswahlen in Folge verloren, eine historische Schlappe im „Stammland“ Nordrhein-Westfalen, sinkende Umfragewerte im Bund: Dass sich die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Martin Schulz derzeit in der schwersten Krise dieses noch nicht einmal richtig gestarteten Wahlkampfs befindet, lässt sich kaum bestreiten. Wesentlich kontroverser verläuft da schon die Debatte über die Ursachen dieser Krise – und welche Schlüsse die SPD daraus ziehen sollte.

Die konservative Ursachenanalyse geht in etwa wir folgt: Martin Schulz hat bisher einen Wahlkampf geführt, der primär auf das Thema soziale Gerechtigkeit abzielte, was bei der Mehrheit im Land aber nicht verfängt, weil diese mit der Lage durchaus zufrieden sei. Deutschland geht es nun einmal gut.

Diese Analyse hat nur zwei kleine Schönheitsfehler: Erstens unterliegt sie dem (Wunsch-)Denken, dass die soziale Gerechtigkeit das deutsche Wahlvolk nicht interessieren würde. Dem ist aber nicht so, wie diverse Umfragen seit geraumer Zeit zeigen. Auch in NRW war die soziale Gerechtigkeit Nachwahlbefragungen zufolge das wahlentscheidende Thema. Es ist eben kein Widerspruch, die Lage im Land prinzipiell für gut zu halten, aber dennoch Verbesserungen bei der sozialen Gerechtigkeit zu verlangen. Gut ist eben nicht perfekt. Die Frage sollte also eher lauten: Warum trauen so wenige Wähler der SPD zu, das Gerechtigkeitsthema vernünftig zu adressieren?

Daran anknüpfend besteht der zweite Fehler der konservativen Wahlanalyse in der Annahme, dass Schulz bisher einen Soziale-Gerechtigkeits-Wahlkampf geführt habe. Hat er aber nicht. Richtig ist: Schulz hat angekündigt, einen solchen Wahlkampf führen zu wollen – aber er war bisher nicht in der Lage oder willens, dieses Thema auch inhaltlich mit Leben zu füllen.

Der einzig konkrete Vorschlag besteht aus einem Beschluss des SPD-Parteivorstands, in dem minimale Korrekturen an der Agenda-Politik vorgeschlagen werden. Außerdem sollen die Haushaltsüberschüsse in die Kinderbetreuung und Infrastruktur investiert werden. In der Vorwoche legte Schulz in einer Rede vor Unternehmern noch den Hauch einer Andeutung von Entlastungen für Geringverdiener und die Forderung nach „mehr Investitionen“ nach, was ökonomisch ungefähr so kontrovers wie der Wunsch nach Weltfrieden ist.  Das war´s dann aber auch schon.

Profilierung und Glaubwürdigkeit

In einem Wahlkampf kommt es auf zwei eng miteinander verknüpfte Dinge an: Profilierung und Glaubwürdigkeit. Für die Profilierung braucht es zunächst Themen. Eines davon ist für die SPD definitiv die soziale Gerechtigkeit. Nicht zuletzt aufgrund der Euro-Reformpläne Macrons ist auch die Europapolitik dazugekommen, in der das reflexhafte „Nein“ aus dem konservativen Lager den Sozialdemokraten jede Menge Spielraum zur Abgrenzung bietet.

Die Profilierung mittels dieser Themen wird jedoch nur gelingen, wenn Martin Schulz glaubwürdig vermitteln kann, dass er diese auch umsetzen will. Dass ihm dies nicht einmal ansatzweise gelungen ist, zeigt sich ebenfalls in den jüngsten Umfragen: So gaben 56% der Befragten an, dass es mit Martin Schulz wieder „sichtbare inhaltliche Unterschiede“ zwischen SPD und CDU gäbe. Gleichzeitig sagten aber 66%, dass ihnen gar nicht klar sei, welche Politik Martin Schulz überhaupt umsetzen wolle – Profilierung geht jedenfalls anders.

Ampel oder Rot-Rot-Grün?

Es gibt wenige Fragen, mit denen man Politiker in Wahlkämpfen mehr nerven kann, als mit der Frage nach möglichen Koalitionspartnern. Im Fall der SPD ist diese Frage aber berechtigter als bei allen anderen Parteien. Die Wut über den „Verrat“ der Agenda-Politik sitzt im linken Lager unglaublich tief, ebenso die Sorge vor einer möglichen Wiederholungstat.

Um ihr Glaubwürdigkeits- und Profilierungsproblem zu beheben, müssen die Sozialdemokraten mehr als alle anderen Parteien unmissverständlich klarmachen, was sie denn anders machen wollen. Auch müssen Sie angesichts der real existierenden Umfragewerte und Wahlniederlagen plausibel erläutern, warum sie nach der Wahl nicht wieder als Juniorpartner in einer Großen Koalition enden werden, sprich: eine Machtperspektive in Form einer anderen Koalition aufzeigen. Dafür hat die SPD nur zwei Optionen: eine Ampelkoalition mit Grünen und FDP, oder eine rot-rot-grüne Koalition mit Grünen und Linkspartei.

Die Debatte über den weiteren Kurs der SPD dürfte nach der historischen Niederlage in NRW in den kommenden Tagen weiter Fahrt aufnehmen. Bereits seit einiger Zeit gibt es immer wieder Zeichen, dass die Führung um Martin Schulz eher eine Ampelkoalition als ein Bündnis mit der Linkspartei bevorzugt, auch wenn diese Zeichen wohl gelegentlich etwas überinterpretiert wurden. Auch Ex-Kanzler Gerhard Schröder sprach sich unlängst für die Ampel bzw. gegen eine Zusammenarbeit mit den Linken aus, womit er durchaus repräsentativ für den rechten SPD-Flügel sein dürfte. Martin Schulz selbst lehnt es weiterhin ab, ein rot-rot-grünes Bündnis auszuschließen, lässt aber auch keine große Begeisterung für dieses Projekt erkennen.

Vorbild Macron?

Gerade der Erfolg von Emmanuel Macron in Frankreich scheint einigen Sozialdemokraten als Argument für eine Ampel zu dienen. So forderte etwa der Ökonom Henrik Enderlein, SPD-Mitglied und einer der Köpfe hinter dem Wirtschaftsprogramm des neuen französischen Präsidenten, die SPD solle sich „am sozialliberalen Fortschrittsdiskurs Macrons orientieren“.

Der Blick nach Frankreich scheint zunächst plausibel, ist aber doch irreführend. Zwar hat Macron jenes Wunder geschafft, dass die deutschen Sozialdemokraten jetzt so dringend brauchen, als er binnen weniger Monate an den bis dato mit deutlichem Abstand führenden Kandidaten Le Pen und Fillon vorbeizog. Allerdings ist die Stimmungslage in Frankreich wohl kaum mit der in Deutschland zu vergleichen: So beurteilen nur 15% der Franzosen die wirtschaftliche Lage als „gut“. In Deutschland sind es 87%. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist für jeden zweiten Franzosen das drängendste nationale Problem. In Deutschland finden das 8%.

Frankreich ist also ein Land, dessen Bevölkerung sehr unzufrieden mit der momentanen wirtschaftlichen Lage ist und die deshalb logischerweise eine hohe Reformbereitschaft verspürt – ob das primär die angebotsseitigen Arbeitsmarkt-Reformen sind, die Macron möchte, sei mal dahingestellt. Dagegen hat Deutschland diese „Wir müssen uns neu erfinden, irgendwie“-Phase schon hinter sich. Hierzulande geht es vielmehr darum, Lösungen für die auch von (Teilen) der SPD erkannten Schieflagen zu finden und – mindestens genauso wichtig – Konzepte für die Zukunft der Eurozone zu entwickeln. Die Idee, dass der SPD dies in einer Koalition mit der FDP gelingt, ist aus zwei Gründen unrealistisch und unglaubwürdig.

Die Ampelkoalition ist weit von einer Mehrheit entfernt

Der erste Grund ist rein taktischer Natur: Es ist weiterhin vollkommen unklar, ob es die FDP überhaupt in den Bundestag schafft, und wenn ja: ob eine Ampelkoalition dann auch eine Mehrheit erreichen würde. In den Umfragen schwankt die FDP zwischen 5 und 7%. Die Linkspartei kommt immerhin auf 8 bis 10%. Es gibt nur wenig Anlass zu glauben, dass die FDP also am 24. September mehr Bundestagsmandate als die Linkspartei in eine Koalition einbringen wird. Dass dieser scheinbar kleine Unterschied in den Umfragen letztlich über Regierung oder Opposition entscheiden kann, zeigt die folgende, auf Basis der aktuellen Umfragewerte erstellte Überschlagsrechnung zur Sitzverteilung. Demnach würde die SPD derzeit nur dann eine Regierung anführen können, wenn die FDP den Einzug in den Bundestag verpasst:

Berechnung der Sitze mit Koalitionsrechner von election.de (Sitzzuteilungsverfahren Sainte-Laguë) auf Basis der Umfragewerte des pollytix Bundeswahltrends (Stand: 10.5.). Im Szenario ohne FDP wurde FDP-Stimmanteile auf 4,9% gesetzt. Die überschüssigen FDP-Stimmanteile (1,7%) wurden gleichmäßig auf alle anderen Parteien aufgeteilt. Anmerkung: Der Koalitionsrechner geht davon aus, dass der nächste Bundestag 598 Sitze haben wird, die Mehrheit also bei 300 Sitzen liegt. Aufgrund der kaum prognostizierbaren Entwicklung der Direktmandate dürfte dies aber nicht die endgültige Zahl der zu vergebenen Sitze sein.

Abgesehen davon gibt es kaum ein stichhaltiges Argument dafür, warum sich die FDP überhaupt auf eine Ampelkoalition einlassen sollte, wenn sie stattdessen die Möglichkeit hätte, auch in eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen einzusteigen.

FDP und SPD passen inhaltlich nicht zusammen

Der zweite – und ungleich wichtigere – Grund gegen eine sozialliberale Koalition ist die inhaltliche Ausrichtung der FDP. So stellen sich die Freien Demokraten zwar gerne als Pro-Europa-Partei dar, was prinzipiell zum Pro-Europa-Wahlkampf der SPD passen würde. Allerdings findet sich auf den 95 Seiten des FDP-Wahlprogramms von wenigen Ausnahmen abgesehen kein einziger Vorschlag, der Europa über den Status quo hinausentwickeln möchte. Man darf das durchaus so interpretieren, dass die Freien Demokraten die Massenarbeitslosigkeit und Armut in Südeuropa also nicht als größeres Problem verstehen, was die SPD wohl anders sieht.

Die erwähnten Ausnahmen bestehen in der Einführung einer Insolvenzordnung für Eurostaaten und der Möglichkeit, dass Länder aus der Währungsunion austreten können, ohne gleichzeitig auch die EU verlassen zu müssen. Zudem sollen Banken auch beim Erwerb von Staatsanleihen künftig Eigenkapital vorhalten müssen.

Diese Vorschläge würden bei einer Umsetzung zum jetzigen Zeitpunkt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur dazu führen, die ohnehin schon bestehenden Divergenzen innerhalb der Eurozone weiter zu verstärken: Die Insolvenzordnung und der Austrittsmechanismus dürften ohne eine vorherige institutionelle Stabilisierung der Währungsunion die Finanzierung der nach wie vor angeschlagenen südeuropäischen Staaten weiter erschweren, weil deren Staatsanleihen dann nur – wie schon auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2012 – mit deutlich höheren Zinsaufschlägen emittiert werden könnten, weil ihre Mitgliedschaft im Euroraum dann nicht nur aufgrund von temporären Liquiditätsengpässen, sondern sogar quasi per Gesetz in Frage gestellt werden würde.

Hier zeigt sich ein weiteres Mal: Die FDP ist eine Partei, deren Vertreter sicher eine gewisse betriebswirtschaftliche Kompetenz haben. Aber makroökonomisch – und das ist sowohl für die Verteilungs- als auch für die Europapolitik die entscheidende Kategorie – ist sie eher unterdurchschnittlich alphabetisiert und interessiert.

Auch beim Thema soziale Gerechtigkeit erschließt sich nicht, wie eine Kooperation zwischen FDP und Sozialdemokraten aussehen soll. Die Freien Demokraten wollen vor allem den Abbau von „überflüssigen Regulierungen“ bei der Zeitarbeit vorantreiben und Weiterbildungen verbessern. Dabei wollen sie allerdings „nicht mehr Geld ausgeben, sondern bei jedem Euro fragen, ob er nicht besser in Qualifikation als in Transferzahlungen investiert werden kann“. Nicht gerade eine Sprachregelung, die man gewöhnlich an SPD-Wahlkampfständen verwendet.

Das Risiko liegt bei der Linkspartei

„Es ist ein Tag, der sicher dazu beiträgt, dass wir nachdenken müssen“, sagte Martin Schulz unmittelbar nach der NRW-Klatsche. So groß ist die Denksportaufgabe eigentlich nicht: Schulz hatte seine Kandidatur mit dem vollmundigen Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit begonnen und war mit einem Umfragehoch belohnt worden. Als Schulz es versäumte, inhaltlich nachzulegen, begannen seine Werte erst zu stagnieren und dann zu fallen.

Jetzt ist die SPD wieder das, was sie schon vor Schulz war: Eine Partei von Wahlverlierern ohne klares inhaltliches Profil, die das Kanzleramt auch weiterhin nur in der Rolle des Juniorpartners betreten wird. Angesichts dieser Lage ist es fast schon kurios, wenn führende Sozialdemokraten immer noch mehr oder weniger offen ihre Angst davor äußern, dass eine Koalition mit der Linkspartei für die Partei ein „Risiko“ darstelle.

Ohnehin ist es eigentlich eher andersherum: Die Linkspartei hätte in einem solchen Bündnis am meisten zu verlieren.Denn die Linken sind (vielleicht abgesehen von der AfD) die einzige Partei, in der man manchmal den Eindruck haben kann, dass es mehr Meinungen als Mitglieder gibt, wie eventuell auch der Parteiprogrammtag vom 11. bis 13. Juni demonstrieren wird. Diese Risse (z. B. in der Euro-Frage oder in der Flüchtlingspolitik) lassen sich momentan jedoch relativ schnell und ohne größere bleibende Schäden wieder glätten, weil die Partei bisher auf Bundesebene noch nie in der Regierungsverantwortung stand und ihre Handlungen über Parteitagsbeschlüsse hinaus somit keine Wirkung hatten.

In einem rot-rot-grünen Bündnis oder auch nur in den Koalitionsverhandlungen wäre das anders. Dann müssten die verschiedenen Parteiflügel zwangsläufig in schwierigen Fragen (beispielsweise zur NATO) Farbe bekennen und immer wieder schmerzhafte Kompromisse schließen – gerade als kleinerer Koalitionspartner dürften diese das Potenzial haben, eine streitfreudige Partei wie die Linke nachhaltig zu destabilisieren, was möglicherweise sogar der SPD einige von Schröder und Co. verjagte Mitglieder zurückbringen könnte.

Höchste Zeit für die Partnerwahl

Wenn die SPD unbedingt etwas von Emmanuel Macron lernen will, dann am ehesten, dass ein konsequenter Wahlkampf vom Wähler auch manchmal belohnt wird. Macron konnte glaubhaft die Geschichte vom engagierten, dynamischen Macher erzählen, der das Land von seinem parteipolitischen Mief befreien will. Und vor allem hatte er den unschlagbaren Vorteil, dass das einzige konkurrenzfähige gegnerische Lager (noch) für eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung unwählbar ekelerregend war.

Letzteres ist den deutschen Sozialdemokraten glücklicherweise nicht vergönnt. Umso wichtiger wäre es, dass die SPD ihren Worten auch Taten folgen lässt und spätestens auf dem Programmparteitag am 25. Juni anfängt, eine der zwei potenziellen Lebensabschnittsgefährtin ohne Wenn und Aber anzuflirten – am besten die, mit der die SPD auch inhaltlich etwas gemeinsam hat, auch wenn sie gesellschaftlich vielleicht nicht den besten Ruf genießt. In jedem Fall muss sich Martin Schulz so langsam mal für eine Option entscheiden, wenn er am Wahlabend nicht ganz allein nach Hause gehen will, zumal dieses Haus dann sicherlich nicht das Kanzleramt sein wird.