"Arbeitslosengeld Q"

Was taugen die SPD-Vorschläge zu den Korrekturen an der Agenda 2010?

Die SPD hat ihre Pläne für die Korrekturen an der Agenda 2010 konkretisiert. Dabei geht es vor allem das sogenannte „Arbeitslosengeld Q“ – ein Konzept, das einige Fragen aufwirft. Eine Analyse von Stefan Sell.

DIe Bundesagentur für Arbeit soll sich künftig auch um Qualifizierungen kümmern. Aber ist sie dafür überhaupt qualifiziert? Foto: Pixabay

In den letzte zwei Wochen hat der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, einen Teil der öffentlichen Debatte beherrschen können. Zunächst mit der erst einmal nur vagen Andeutung, dass es unter seiner Kanzlerschaft eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I geben solle. Diese (angebliche) „Infragestellung“ der Agenda 2010 wurde hin und her diskutiert – dabei wäre eine (nochmalige) Verlängerung der maximalen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I lediglich eine Korrektur der Agenda-Politik.

Die Systemfrage würde erst dann gestellt werden, wenn es um das Hartz IV-Systems gehen würde, in dem sich mittlerweile gut 70 Prozent der Arbeitslosen befinden. Dagegen ist nur noch eine kleine Minderheit für einige Zeit überhaupt in der Arbeitslosenversicherung abgesichert.

Am heutigen Montag haben nun Martin Schulz bzw. die von ihm mit der Konzepterstellung beauftragte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles in Form eines Beschlusses des SPD-Parteivorstands erkennen lassen, was für Anpassungen den Sozialdemokraten konkret vorschweben.

So will die SPD den Kreis derjenigen ausweiten, die Anspruch auf ALG I haben. Derzeit müssen dafür innerhalb von zwei Jahren mindestens zwölf Monate lang Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt worden sein, künftig sollen zehn Beitragsmonate innerhalb von drei Jahren reichen. Zudem soll es in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) höhere Vermögensfreibeträge geben, die die SPD von derzeit 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr erhöhen will. Somit würden im Fall eines 60-Jährigen demnach Ersparnisse von bis zu 18.000 Euro unangetastet bleiben.

Das Arbeitslosengeld Q

Im Zentrum der Pläne steht jedoch das sogenannte „Arbeitslosengeld Q“, wobei Q für Qualifizierung steht. Demnach sollen Arbeitslose künftig ein Recht auf Weiterbildung haben: Wenn sie innerhalb von drei Monaten keine neue Stelle finden, sollen sie ein Angebot für eine „Qualifizierungsmaßnahme“ bekommen. Für die Dauer dieser Qualifizierung sollen Arbeitslose das „Arbeitslosengeld Q“ erhalten, dessen Höhe dem Arbeitslosengeldes I entspricht. Nach Ende der Qualifizierung wird dann wieder das normale Arbeitslosengeld gezahlt.

Der Clou an der Sache: Die Bezugsdauer des „Arbeitslosengelds Q“ wird nicht auf die Zeit angerechnet wird, die ein Betroffener Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat. Bisher war es so, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für die Zeit der Qualifizierung um die Hälfte gemindert wurde.

Eine schlichte Verlängerung der möglichen ALG I-Bezugsdauer wird es offenbar auch unter einem Kanzler Schulz nicht geben

Auf den ersten Blick geht dieses Konzept konform mit jenem „Fordern und Fördern“-Ansatz, der zu den Kernelementen der Agenda 2010 gehört. Eine schlichte Verlängerung der möglichen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I wird es also offenbar auch unter einem Kanzler Schulz nicht geben. Die Formel heißt vielmehr: „Verlängerung gibt es nur gegen Qualifizierung.“

Eine substanzielle Änderung zum ersten Stadium der Schulz-Vorschläge ist darin zu sehen, dass von diesem Ansatz auch Arbeitslose betroffen sind bzw. profitieren könnten, die jünger als 50 Jahre sind. Und zum zweiten, dazu später noch mehr, verbindet man den möglichen längeren Bezug mit einer Art Gegenleistung, in diesem Fall also mit der Teilnahme an einer „Qualifizierung“.

Aus dem Arbeitgeberlager gibt es bereits Kritik an den Plänen. Die Arbeitgeber befürchten, dass es im Falle einer Umsetzung Anreize zur Frühverrentung bei älteren Arbeitslosen geben würde. So könnte – zumindest theoretisch – ein 58-jähriger Arbeitnehmer, der bislang Anspruch auf 24 Monate Arbeitslosengeld I hätte, künftig auf eine Bezugsdauer von maximal 48 Monaten kommen.

Genau an dieser Stelle setzen einige Kritiker ein. So meint beispielsweise Peter Clever vom Arbeitgeberverband BDA: „Je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird der Wiedereinstieg in Beschäftigung.“ Und weiter: „Längere Bezugszeiten bauen gerade für ältere Arbeitslose keine Brücken in neue Beschäftigung.“ Solche „Brücken“ gebe es für ältere Arbeitslose nur durch eine gezielte, praxisorientierte Qualifizierung, ausgerichtet an den Stärken des Einzelnen und den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts, so Clever.

Aber ist diese deutliche Verlängerung des ALG I-Bezugs wirklich realistisch? Bleiben wir bei dem Beispiel des 58-jährigen Arbeitslosen, der bislang maximal 24 Monate, und nach dem neuen Konzept bis zu 48 Monate Arbeitslosengeld I beziehen könnte. Wie Christoph Hickmann in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung richtigerweise anmerkt, handelt es sich dabei allerdings um ein Extrembeispiel: „Häufiger sind bisher kürzere Qualifizierungsmaßnahmen zwischen vier und sechs Monaten.“

Genau da sind wir an einer wichtigen, wenn nicht der zentralen Problemstelle angekommen – nämlich bei der Frage, was genau man denn unter „Qualifizierung“ eigentlich versteht? Es ist nun wirklich nicht neu, dass das Arbeitslosengeld I während der Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme weitergezahlt und nicht mehr teilweise angerechnet wird – es wäre vielmehr die Wiederherstellung alten Rechts.

Früher war diese Möglichkeit als „Unterhaltsgeld“ während der Maßnahme bekannt, dessen Bezug den Arbeitslosengeld I-Anspruch nicht geschmälert hatte. Mit der teilweisen Anrechnung und später der Abschaffung hatte man schon vor vielen Jahren begonnen, was nicht überraschend war, da sich so Ausgaben reduzieren ließen. Insofern wäre die Nicht-Anrechnung des Arbeitslosengeld I-Bezugs während einer Weiterbildungsmaßnahme nur die Rückkehr zu altem Recht.

Die „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“

Allerdings geht der SPD-Vorschlag ja noch weiter: So heißt es in der Beschlussvorlage, dass die Bundesagentur für Arbeit in „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ umbenannt und gesetzlich verpflichtet werden soll, Arbeitslosen ein Angebot für eine Qualifizierungsmaßnahme zu machen, wenn sie innerhalb von drei Monaten keine neue Beschäftigung finden. Für die Dauer der Qualifizierung wird dann das „Arbeitslosengeld Q“ in Höhe des Arbeitslosengeldes I gezahlt.

An dieser Stelle ergeben sich zwei für die weitere Debatte wichtige Fragen: Macht es wirklich inhaltlich Sinn, die BA zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ umzubenennen und wenn das bejaht wird – welchen? Und vor allem stellt sich die alles andere als triviale Frage: Was ist eigentlich mit „Qualifizierungsmaßnahmen“ gemeint?

Im Bereich des SGB III (also der Arbeitslosenversicherung, nicht im Hartz IV-System, da liegen die Werte noch niedriger) wurden laut den Daten der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2016 insgesamt 456.000 Personen mit Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gefördert. Die „Aktivierungsquote“ im SGB III (das ist der Anteil der Teilnehmenden an ausgewählten Maßnahmen an der Summe aus Arbeitslosen und diesen an Maßnahmen teilnehmenden Menschen) lag 2016 bei 23,5%. Anders gesagt: Noch nicht einmal jeder Fünfte ist im SGB III mit irgendeiner Maßnahme versorgt worden – wobei die Betonung auf „irgendeiner“ liegt. Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie sich diejenigen, die „irgendeine“ arbeitsmarktpolitische Maßnahme im vergangenen Jahr begonnen haben, auf die einzelnen Bereiche verteilen, die natürlich von ganz unterschiedlicher Qualität sind.

Lediglich 13% aller Zugänge entfallen auf den Bereich der beruflichen Weiterbildung – und der ist wiederum auch nur eine Sammelkategorie für überaus unterschiedliche Weiterbildungsmaßnahmen.

Etwas mehr Klarheit schafft ein Blick in eine kürzlich von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte Studie: Dort dient man unter der Überschrift „Weiterbildung im Rahmen der Arbeitsförderung“ ab Seite 27 folgende Hinweise: „Die berufliche Weiterbildung innerhalb der Arbeitsförderung (SGB III/SGB II) ist seit Jahren rückläufig. Vorrangiges Interesse ist eine möglichst kurzfristige Eingliederung in Arbeit. Dem entsprechend werden mehr kurzfristige Weiterbildungen bis zu einem Jahr eingesetzt. Die abschlussbezogene Weiterbildung (Umschulungen, Teilqualifikationen, Vorbereitungskurse auf die Externenprüfung) wird zwar programmatisch hervorgehoben, die Eintritts- und Bestandszahlen stehen aber im Missverhältnis zu der hohen Zahl an- und ungelernter sowie langzeitarbeitsloser Personen unter den Arbeitslosen.“

Und dann zitieren die Autoren (S. 27) angeblich noch die Bundesagentur für Arbeit selbst, allerdings findet man das folgende Zitat nicht in der angegebenen BA-Quelle, sondern in einem Text des Instituts Arbeitsmarkt und Qualifikation (IAQ):

„Die Rückführung der Förderung beruflicher Weiterbildung ist in erster Linie eine Folge der Neuausrichtung der Förder- und Geschäftspolitik der Bundesagentur für Arbeit. Die Förderung beruflicher Weiterbildung hat gegenüber der direkten Vermittlung immer mehr an Bedeutung verloren. Insbesondere längerfristige Qualifizierungen (abschlussbezogene Maßnahmen) sind abgebaut worden. Im Mittelpunkt steht das Ziel der direkten Verwertbarkeit der Qualifikationen und der zügigen Vermittlung in Beschäftigung. Kurzfristige Erfolge, gebunden an strengen Förderkriterien, bestimmen die Vergabe von Fördermitteln. Diese Anforderungen an einen effektiven Mitteleinsatz führen dazu, dass von der Förderung vor allem die bereits besser Qualifizierten profitieren.“

Berücksichtigt man diese auch von vielen anderen Beobachtern des Systems der Arbeitsmarktpolitik seit Jahren beklagte Entwicklung, dann stellt sich schon die Frage, was für „Qualifizierungsmaßnahmen“ denn laut dem Willen der SPD künftig angeboten werden müssten. Ist damit eine abschlussbezogene berufliche Weiterbildungsmaßnahme gemeint, die natürlich erst einmal richtig teuer kommt, weil sie einen neuen oder überhaupt einen Berufsabschluss ermöglicht? Oder reicht das Angebot eines drei- oder viermonatigen „Computer- und Internetkurses“, der von vielen Teilnehmern als Zumutung erlebt wird?

Es ist zweifelhaft, ob die Bundesagentur für Arbeit wirklich noch qualifiziert dafür ist, Menschen zu qualifizieren

Aus den Erfahrungen der Vergangenheit kann man an dieser Stelle nur sagen: Es steht zu befürchten, dass genau das auch darunterfällt. Das wäre in vielen Fällen für die Betroffenen verschwendete Lebenszeit und für den Beitragszahler versenktes Geld. Und auch mit Blick auf die andere Komponente des Modells bleiben zum jetzigen Zeitpunkt große Fragezeichen. Die BA als „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“? Da haben sicher eine Menge Leute ganz erhebliche Zweifel, ob die BA nach der inhaltlichen Entleerung und dem fachlichen Downgrading beim Personal wirklich noch qualifiziert ist, Menschen zu qualifizieren.

Darüber muss offen gestritten werden – und die BA muss Rechenschaft ablegen, ob und wo sie denn (noch) die Kompetenz für diesen Aufgabenbereich hat. Vorher sollten wir das vorläufig unter der Rubrik „Simulation von Verbesserungen“ abheften.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell die Portale Aktuelle Wirtschaftspresse und Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.