Martin Schulz und die Agenda 2010

Alter Wein in bereits benutzten Schläuchen

Martin Schulz´ jüngste Äußerungen wurden vielfach als eine Abkehr von der Agenda-Politik interpretiert. Tatsächlich aber dreht sich die vom SPD-Kanzlerkandidaten angestoßene Diskussion bisher um einige wenige überschaubare Korrekturen. Eine Analyse von Stefan Sell.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Foto: SPD Saar via Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die Vereinten Nationen hatten den gestrigen 20. Februar zum „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“ ausgerufen. Das diesjährige Motto lautete: „Preventing conflict and sustaining peace through decent work”. Anständige Arbeit also, um Konflikte zu vermeiden und den Frieden zu sichern. Ein absolut richtiges Motto, das angesichts der Bedeutung der Erwerbsarbeit für Einkommen und soziale Sicherung nur zu unterstreichen ist, und das auf einer solchen Meta-Ebene sicherlich auch von vielen unterstützt wird. Kontroverser wird es, wenn es darum geht, den Begriff der „Gerechtigkeit“ konkreter zu fassen – und der anlaufende Bundestagswahlkampf dürfte jede Menge Gelegenheit für solche Debatten bieten.

Denn passend zum Gerechtigkeits-Welttag hat SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz einige vielbeachtete Äußerungen gemacht, die landläufig als eine Abkehr von der Agenda-Politik interpretiert wurden. Schulz stelle die Agenda 2010 in Frage, „entschrödere“ die SPD und werde zum „Hartz-Reformer“. Die Arbeitgeber sind auch schon alarmiert.

Allerdings wirken diese Schlagzeilen bei genauerer Betrachtung – vorsichtig formuliert – etwas übertrieben und vorschnell. Schauen wir uns einmal an, was Schulz eigentlich genau gefordert hat.

Viel zitiert wurde seine Formulierung: „Feh­ler zu ma­chen ist nicht eh­ren­rüh­rig. Wich­tig ist: Wenn Feh­ler er­kannt wer­den, müs­sen sie korrigiert wer­den.“ Damit bezog sich Schulz auf die Agenda-Politik und die Hartz-Gesetze (das ist nicht das gleiche) der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die weiterhin ein großer Stachel – oder vielleicht sollte man eher sagen: eine tiefe und offene Wunde – im sozialdemokratischen Fleisch sind.

Wirklich konkret wurde Schulz jedoch bisher nur in einem Punkt: Er will die Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmer verlängern. Laut Schulz gehe es „an die Existenz“, wenn jemand mit 50 Jahren nach 15-monatiger Arbeitslosigkeit Hartz IV beziehe. Gemäß der aktuellen Rechtslage erhalten Arbeitslose unter 50 Jahren maximal zwölf Monate lang Arbeitslosengeld I. Wer über 50 ist, kann es 15 Monate lang beziehen, für Menschen ab 55 gilt eine Bezugsdauer von bis zu 18 Monaten. Für Arbeitslose ab 58 gibt es 24 Monate Arbeitslosengeld I. Wie lange Arbeitssuchende künftig Anspruch auf ALG I haben sollen, führte Schulz nicht aus. In den nächsten Wochen soll SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles dazu ein Programm vorlegen.

In der Berichterstattung wurde aus diesen Sätzen oftmals pauschal die Behauptung gemacht, Schulz wünsche sich, dass Empfänger des Arbeitslosengelds I die finanzielle Unterstützung zukünftig länger bekommen sollen – was aber so nicht stimmt, da Schulz wie oben erwähnt nur von den Arbeitslosen spricht, die 50 Jahre oder älter sind und die bereits heute eine längere Bezugsdauer als „Normal-Arbeitslose“ haben.

„Normale“ und „ältere“ Arbeitslose

Aber ist das wirklich eine Infragestellung der Agenda 2010? Dazu muss man zunächst wissen, dass es die Differenzierung der möglichen Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung nach dem Lebensalter schon vor den Hartz-Gesetzen gegeben hat – wie ein Blick in die sozialpolitische Chronik zeigt, erfolgte ein erster Eingriff in diese Systematik bereits 1997. Damals hatte die Regierung Kohl die erforderlichen Altersgrenzen für den längeren Bezug der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld nach oben verschoben. Die mögliche Bezugsdauer variierte damals zwischen 12 und 32 Monaten.

Mit den Hartz-Gesetzen kamen dann die schwerwiegendsten Eingriffe in das Rechtsgefüge der Arbeitslosenversicherung. 2004 wurde die Bezugsdauer im Prinzip für alle Arbeitslose auf 12 Monate beschränkt, nur Menschen über 55 Jahre gestand man maximal 18 Monate Arbeitslosengeld-Bezug zu.

Aber 2008 wurde dann mit einer Verlängerung der maximalen ALG-Bezugsdauer in Abhängigkeit vom Lebensalter und der Vorversicherungszeit wieder ein partieller Richtungswechsel vorgenommen. Damals wurde das Lebensalter 50 als neue Trennlinie zwischen den „maximal 12-Monats-Arbeitslosengeld-Beziehern“ und den Älteren eingezogen, denen schrittweise längere Bezugszeiten (15 Monate, 18 Monate bzw. 24 Monate) zugestanden wurden – ohne aber die früher maximal mögliche Dauer wieder zu erreichen.

Wenn Schulz nun offensichtlich an die dargestellten längeren Bezugsdauern der Älteren wieder ran möchte, dann steht er wie gezeigt durchaus in einer gewissen Traditionslinie der unterschiedlichen Behandlung „normaler“ und „älterer“ Arbeitsloser.

Schulz´ Vorstoß zielt auf eine in der Bevölkerung weit verbreitete Gerechtigkeitsvorstellung ab

Offensichtlich zielt Schulz´ Vorstoß auf eine ganz bestimmte, in der Bevölkerung weit verbreitete Gerechtigkeitsvorstellung, die man so beschreiben kann: Viele Menschen halten es für nicht in Ordnung, wenn Arbeitnehmer, die lange Zeit in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, genauso behandelt werden wie andere, die viel weniger oder im Extremfall noch nie Beiträge geleistet haben. Denn nach den im Normalfall 12 Monaten ALG I-Bezug aus Versicherungskassen müssten alle von den gleichen Hartz IV-Leistungen leben, wenn sie denn nach den Kriterien des SGB II bedürftig sind. Da kommt es doch nur gerecht rüber, wenn die Älteren länger über die Versicherungsleistung abgesichert sind und nicht so schnell in die Sozialhilfe abrutschen müssen.

Genau diesen Punkt will Schulz mit seiner Inaussichtstellung einer wie auch immer gearteten längeren Bezugsdauer für Arbeitslose ab 50 aufwärts adressieren. Und die angesprochene Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls weiter Teile der Bevölkerung war bereits das Hauptmotiv bei der 2008 vorgenommenen Verlängerung der Bezugsdauer für Arbeitslose über 50 Jahren. Insofern wäre der aktuelle Vorstoß von Martin Schulz alter Wein in bereits benutzten Schläuchen – wobei sich auch die Frage stellt, warum es eigentlich nur bei einem 50-Jährigen wie Schulz meint „an die Existenz“ geht, ins Hartz-System zu rutschen, und nicht auch bei einem, sagen wir mal, 48jährigen Arbeitslosen.

Die Systemfrage

Dennoch ist Schulz´ Vorstoß wertvoll, weil er die Debatte um eben jene Gerechtigkeitsvorstellung neu belebt, die sich im Wesentlichen darum dreht, ob und wie eine Versicherungsleistung auf Basis der Vorleistung ausgeprägt sein sollte (die Parallelität zum Rentensystem ist offensichtlich). Dazu ein paar grundsätzliche Anmerkungen: Wenn man diese Vorstellung wirklich gesetzgeberisch umsetzen wollte bzw. müsste, dann macht die Kopplung einer längeren Bezugsdauer an ein immer irgendwie willkürlich daherkommendes Lebensalter nur als Hilfskonstruktion Sinn – idealtypisch wäre eine Bindung der Leistung an die individuellen Beitragszeiten. Das aber ließe sich derzeit gar nicht bzw. nur mit vielen Klimmzügen umsetzen, weil die Bundesagentur für Arbeit keine individuellen Versicherungskonten hat, auf denen die Versicherungsbiografie der Leistungsberechtigten dokumentiert ist.

Eine längere ALG-Bezugsdauer für über 50-Jährige wäre eine kleine Modifikation – aber noch keine wirkliche Infragestellung der Agenda 2010

Insofern wäre die Umsetzung des Vorschlags einer längeren Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld bei der Gruppe der über 50-Jährigen eine kleine Modifikation – aber eben bei weitem noch keine wirkliche Infragestellung der Agenda 2010. Eine Verlängerung würde die individuelle Situation älterer Arbeitsloser für ein paar Monate verbessern, was für die Betroffenen natürlich ein Wert an sich wäre – aber die Systemfrage wird damit eher umschifft.

Denn der eigentlich problematische Punkt, der eindeutig mit den Hartz-Gesetzen verknüpft ist (aber nicht nur damit, sondern auch mit dem, was Gerhard Schröder einst beim Weltwirtschaftsforum in Davos den „besten Niedriglohnsektor in Europa“ genannt hat), besteht in einer völligen Umkehrung der Art und Weise der Absicherung des Risikos der Erwerbslosigkeit im deutschen Sozialstaat:

Eigentlich sollte die Arbeitslosenversicherung als das der Grundsicherung vorgelagerte System das Risiko der Arbeitslosigkeit, besser: Erwerbsarbeitslosigkeit, auffangen und absichern. Auf die Leistungen der Arbeitslosenversicherung hat man einen Rechtsanspruch und es findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt. Anfang der 1990er-Jahre erhielten über 80% aller Erwerbslosen Leistungen vom Arbeitsamt, die weitgehend Versicherungscharakter hatten und deren Höhe vom früheren Verdienst abhing (in Form des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe). Heute gilt das nur noch für 30% der offiziell erfassten Arbeitslosen – 70% der Arbeitslosen befinden sich also gar nicht mehr unter den Fittichen der Arbeitslosenversicherung, sondern im Fürsorgesystem des SGB II.

Die Zunahme des Fürsorgeanteils zulasten des Versicherungsanteils bei der Arbeitslosenunterstützung ist nicht nur im Zusammenhang mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Zuge der Einführung des SGB II im Jahr 2005 zu sehen, sondern steht auch in Verbindung mit der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes seit 1998, den verschärften Zugangsvoraussetzungen beim Arbeitslosengeld sowie einer zunehmenden Langzeitarbeitslosigkeit. Der „Deckungsgrad“ der eigentlich zuständigen Arbeitslosenversicherung ist massiv geschrumpft worden und bietet heute keine wirklich adäquate Absicherung mehr.

Mittlerweile rutscht jeder fünfte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bei Jobverlust direkt in das Hartz IV-System durch

Die Verengung der Zugangsvoraussetzungen für einen Bezug von Versicherungsleistungen im Zusammenspiel mit der Instabilität vieler Arbeitsverhältnisse führen dazu, dass eine steigende Zahl von Beschäftigten nach einem Jobverlust durch die Maschen des Versicherungssystems fällt und direkt auf staatliche Fürsorge angewiesen ist: Mittlerweile rutscht jeder fünfte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bei Jobverlust direkt in das Hartz IV-System durch.

Das grundlegende Dilemma resultiert aus dem Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherung, die zwar eine Sozialversicherung ist, aber eben auch Versicherungsprinzipien folgen muss. Zugespitzt formuliert: Die Arbeitslosenversicherung ist ein geeignetes Auffang- und (bei entsprechender Höhe der Leistungen) Absicherungssystem für die betroffenen Arbeitnehmer, wenn der Schadensfall der Arbeitslosigkeit nur als Ausnahmefall und temporär eintritt, also nach einer überschaubaren Zeit durch die Aufnahme einer neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeit wieder beendet werden kann. Die Versicherung als solche stößt an ihre (System-)Grenze, wenn die Arbeitslosigkeitsphasen oft und dann auch noch lange anhaltend auftreten.

Die Spirale des sozialen Absicherungsabstiegs

Und der (mögliche) Absturz in Hartz IV ist auch ein ganz entscheidender Resonanzboden für Schulz´ Vorschlag. Denn es ist ja nicht nur die Angst der älteren Arbeitslosen, überhaupt wieder eine neue Beschäftigung finden zu können, auch wenn sie das unbedingt wollen. Es geht auch um die Wahrscheinlichkeit, nach dem Arbeitslosengeld I-Bezug zum Jobcenter zu müssen. Hinzu kommt bei nicht wenigen Betroffenen, dass sie erst einmal gar keine Hartz IV-Ansprüche geltend machen können, weil sie entweder mit einem Partner in einem Haushalt leben, dessen Einkommen oberhalb der Bedürftigkeitsschwelle liegt und/oder erst einmal vorhandenes Vermögen bis zu einem niedrigen Schonbetrag aufbrauchen müssen. Aus Sicht der Betroffenen ist das ein elementarer Angriff auf ihre Lebensleistung – und deshalb auch ein emotional so hoch besetztes Thema.

Außerdem muss man sich die Spirale des sozialen Absicherungsabstiegs vergegenwärtigen, der mit einem Ausschluss aus dem Versicherungssystem verbunden ist: Während des Bezugs von Arbeitslosengeld I werden ja noch wenigstens Beiträge an die Rentenversicherung weitergezahlt, aber in Hartz IV fällt das weg – was noch tiefere Löcher in die Rentenbiografie und damit einen weiteren Beitrag zur später sicheren Altersarmut leistet.

Genau an diesen Stellen müssten Reformvorschläge, die eben nicht nur alter Wein in benutzten Schläuchen sind, ansetzen. Wie hält es die Politik mit den Rentenbeiträgen für Hartz IV-Empfänger? Warum kehrt man nicht zurück zu den teils wesentlich großzügigeren Bedürftigkeitsregeln der alten Arbeitslosenhilfe? Und natürlich stellt sich auch die Frage: Wenn man schon die meisten Arbeitslosen in das Grundsicherungssystem schickt – sind dann deren Beträge wirklich ausreichend für ein halbwegs würdevolles Leben? Das sind die wahren Grundsatzfragen – und je nach Antwort kann man auch darüber diskutieren, ob die SPD in diesem Wahlkampf und mit diesem Kandidaten tatsächlich auch die Agenda 2010 in Frage stellt.

Fazit: Es geht um überschaubare Korrekturen

Der aktuell diskutierte Vorstoß von Martin Schulz bewegt sich dagegen in den bekannten Bahnen. Er hätte für die Politik den Vorteil, dass eine wie auch immer geartete Umsetzung „beherrschbar“ erscheint, denn den älteren Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung (im November 2016 waren von den 779.238 Arbeitslosengeld I-Beziehern mit 313.446 etwas mehr als 40% über 50 Jahre alt) ein paar Monate länger Arbeitslosengeld zu zahlen, erscheint angesichts der derzeit vorhandenen milliardenschweren Überschüssen der Bundesagentur für Arbeit locker machbar.

Für die Betroffenen würde eine Verlängerung der Bezugsdauer auch eine individuelle Verbesserung darstellen, wenn auch nur für zwei oder drei Monate mehr. An dem Grundproblem, dass die strukturellen Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten (Niedriglöhne für Millionen Betroffene, sich verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit bei einem Teil der Betroffenen und die weiterhin schlechten Jobchancen vieler älterer Arbeitsloser ungeachtet aller Sonntagsreden von der neuen Blütezeit für ältere Arbeitnehmer) mit Blick auf einen ziemlich großen Teil der Erwerbslosen zu einer systematischen Überforderung der bestehenden Arbeitslosenversicherung geführt hat und führen muss, ändert das nichts.

Im Wahlkampf sollte man zudem grundsätzlich die Vorsichtsregel berücksichtigen, dass es möglicherweise gar nicht so sehr um die konkreten Inhalte geht, sondern den Gesetzen der politischen Psychologie folgend um die Adressierung bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen. Die von Schulz angestoßene Diskussion dreht sich angesichts dessen, was wir schon mal hatten, bisher um einige wenige überschaubare Korrekturen. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell die Portale Aktuelle Wirtschaftspresse und Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.