Wahlkampf

Volle Kraft in Richtung Rot-Rot-Grün?

Martin Schulz hat der SPD das Momentum zurückgegeben. Aber wenn die Sozialdemokraten das Tief der Agenda-Jahre endgültig hinter sich lassen wollen, müssen sie glaubhaft machen, dass sie tatsächlich einen Politikwechsel anstreben – und das dürfte nur mit einem offensiven Bekenntnis zu einer rot-rot-grünen Koalition gelingen. Ein Kommentar von Philipp Stachelsky.

Verschiedenen Medienberichten zufolge will die SPD auf Wunsch ihres Kanzlerkandidaten Martin Schulz ihr Programm für die Bundestagswahl später als geplant festlegen. Schulz bat demnach darum, den für den 29. Mai geplanten Parteitag um einige Wochen zu verschieben.

Das wäre zunächst deswegen schade, weil es somit wohl noch ein bisschen länger dauern wird, bis in diesem Wahlkampf über das gesprochen werden kann, worauf es in der Politik ankommen sollte: über Parteiprogramme und deren Inhalte. So wird man es wohl noch einige Zeit ertragen müssen, dass sich auch seriösere Medien primär mit Schulabschlüssen, Trinkgewohnheiten und anderen „persönlichen Befähigungen“ der Kandidaten befassen.

Anderseits ist es der Aufschub auch überraschend. Denn die SPD hat zumindest in den wesentlichen Grundzügen eigentlich schon ein Programm, das wie gemalt für diesen Wahlkampf zu sein scheint. Es heißt „Das WIR entscheidet“ und stammt aus dem Jahr 2013.

Die SPD war 2013 programmatisch so links wie seit Jahrzehnten nicht mehr…

Unter dem Kandidaten Peer Steinbrück hatten sich die Sozialdemokraten damals mit einem Programm beworben, dass so links wie war wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das mag vielleicht überraschend klingen, lässt sich aber ziemlich gut belegen, und zwar mittels der Daten des „Manifesto-Project“. Dabei handelt es sich um ein vom Wissenschaftszentrum Berlin betriebenes Projekt, dass in akribischer Kleinarbeit die Wahlprogramme von mehr als 1.000 Parteien in über 50 Ländern mittels qualitativer Inhaltsanalysen auswertet und diese dann auf einer Links-Rechts-Skala einordnet. Positive Werte markieren dabei eine rechte Positionierung, negative Werte eine linke. Für die folgende Grafik wurden nur die Elemente mit wirtschaftspolitischem Bezug aus den Programmen der deutschen Parteien herausgefiltert und in die Links-Rechts-Skala umgerechnet:

Quelle: Lehmann, Pola / Matthieß, Theres / Merz, Nicolas / Regel, Sven / Werner, Annika (2016): Manifesto Corpus. Version: 2016-3. Berlin: WZB Berlin Social Science Center, eigene Berechnungen

Die Abbildung zeigt, dass die SPD im letzten Wahlkampf zwar programmatisch nach den Agenda-Jahren die Kurve zurück nach links gekriegt hatte. Aber offensichtlich konnte sie dies nie so kommunizieren. Spitzenkandidat Peer Steinbrück war untrennbar mit der Agenda 2010 verknüpft – jedoch waren die Sozialdemokraten mit einem Programm angetreten, das wie gemalt für eine rot-rot-grüne Koalition gewesen war. Die schlossen Steinbrück und Co. aber trotz eines Mangels an Alternativen aus, weil … na ja, warum auch immer.

… und die Union ist nur gesellschaftspolitisch nach links gerückt

Die Daten zeigen auch, dass der vielfach behauptete große parteipolitische Kuschelkurs ein Mythos ist – diesen „Einheitsbrei“-Befund kann man am ehesten für die Wahl von 1990 bilanzieren, als das ja auch irgendwie historisch passend war. Seitdem aber haben sich die Parteien wieder mehr denn je in zwei Lager ausdifferenziert.

Auch von einer vermeintlichen Sozialdemokratisierung der Union kann keine Rede sein. Zwar ist es korrekt, dass sich CDU und CSU seit der Jahrtausendwende programmatisch insgesamt nach links bewegt haben – das gilt aber nicht für die Wirtschaftspolitik, wie die folgende Abbildung illustriert. Die durchgezogene Kurve zeigt die CDU/CSU-Programme unter Ausklammerung der Wirtschaftspolitik, die gestrichelte Kurve berücksichtigt nur die wirtschaftspolitischen Programmpunkte:

Quelle: Lehmann, Pola / Matthieß, Theres / Merz, Nicolas / Regel, Sven / Werner, Annika (2016): Manifesto Corpus. Version: 2016-3. Berlin: WZB Berlin Social Science Center, eigene Berechnungen

Abgesehen von einem marktradikal angehauchten Ausrutscher im Vorfeld der 2005er Wahl (Leipziger Parteiprogramm) bewegten sich die wirtschaftspolitischen Vorschläge der Unionsparteien seit der Wiedervereinigung auf einem sehr konstanten Pfad, der zuletzt höchstens einen geringfügigen Linksdrall aufwies. Ungleich größer ist die Bewegung, wenn man die anderen Programmpunkte unter Ausklammerung der Wirtschaftspolitik betrachtet. Man könnte also sagen, dass der Linksruck der Unionsparteien unter Merkel in erster Linie darin bestand, sich gesellschaftspolitisch in Richtung Moderne zu orientieren. Wirtschaftspolitisch ist dagegen nichts Nennenswertes passiert.

Und genau das ist die Achillesferse der Unionsparteien. So haben CDU und CSU immer noch keine bessere Strategie gefunden, als das ewige „Deutschland geht es gut“-Mantra wiederzukäuen – als wenn es überhaupt möglich wäre, den Zustand eines mehr als 80 Millionen Menschen großen Landes durch ein einziges Adjektiv zu beschreiben.

Das zeigt sich etwa an den diversen Studien, die in den letzten Monaten zur Entwicklung der Ungleichheit in Deutschland erschienen sind. Die wohl prägnanteste Erkenntnis liefert dieser Chart aus einer kürzlich veröffentlichten DIW-Studie:

Grafik: DIW

Der Chart zeigt, dass die verfügbaren Einkommen zwischen 1991 und 2014 insgesamt um real 12% stiegen. Allerdings verlief die Entwicklung sehr unterschiedlich: Während die Einkommen der obersten 60% um über 15% zulegten, stagnierten die Einkommen der untersten 40% – seit 1998 gingen sie sogar zurück.

Deutschland ist ein Land mit mindestens zwei Geschwindigkeiten geworden, wobei die untere Hälfte einkommenstechnisch den Rückwärtsgang eingelegt hat

Die Berechnungen machen überdeutlich, dass Deutschland ein Land mit mindestens zwei Geschwindigkeiten geworden ist, wobei die untere Hälfte einkommenstechnisch den Rückwärtsgang eingelegt hat. Daran hat die SPD natürlich tatkräftig mitgeholfen – aber wenn sie jetzt in der Lage ist, offensiv für Gegenmaßnahmen Wahlkampf zu machen, dann könnte sie ausreichend Vertrauen zurückzugewinnen, um diese Wahl zu gewinnen.

Populär dürfte eine solche Politik jefenfalls sein. Nur ein paar Beispiele: 85% der Deutschen sagen, die Unterschiede zwischen Gering- und Spitzenverdienern seien zu groß. 87% glauben, dass es in den kommenden 10 Jahren im Vergleich zu heute für Normalverdiener und ihre Familien schwieriger werden wird, finanziell gut zurechtzukommen. 82 bis 91% sprechen sich dafür aus, dass der deutsche Staat eine familienfreundlichere Politik betreiben sollte (Verbesserung der staatlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten etc.). 68% finden, dass der Wohlfahrtsstaat durch höhere Vermögenssteuern finanziert werden sollte.

Besonders in der Europapolitik ist die Union angreifbar

Die Union scheint dagegen nicht einmal gewillt, diese Probleme überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn sich damit auseinanderzusetzen, und das gilt nicht nur für die Verteilungspolitik. Gerade in der Europapolitik stehen CDU und CSU mächtig in Erklärungsnot. So dürfte das Jahr 2018 zur Nagelprobe für die bisherige Eurokrisenpolitik werden, wenn die EZB sehr wahrscheinlich mit dem Ausstieg aus ihren QE-Programmen beginnen wird. Dann steht zu befürchten, dass sich die Renditeaufschläge für angeschlagene Eurostaaten wieder erhöhen könnten, was eine erneute Eskalation nach dem Muster von 2010 bis 2012 befürchten lässt.

Martin Schulz hat (wie übrigens vor vier Jahren auch Peer Steinbrück) bereits klargemacht, dass er diese Probleme mit einer stärkeren fiskalpolitischen Vergemeinschaftung lösen möchte. Das wird in Deutschland zwar nie ein Wahlkampfschlager werden, ist aber ein konsistenter Vorschlag, den Schulz so auch nur mit Linken und Grünen realisieren kann. Dagegen kommt von der Union in dieser elementaren Frage seit Jahren: gar nichts. Und Finanzminister Wolfgang Schäuble hat offenbar keine besseren Ideen mehr, als mal wieder mit dem Grexit zu kokettieren und die Nummer vom über seine Verhältnisse lebenden Griechen auszubuddeln.

Der Schulz-Faktor kann schnell wieder verblassen

Nicht zuletzt wegen dieser christdemokratischen Absurditäten stehen die Chancen für die SPD gut, die Wahlniederlagen der vergangenen Jahre hinter sich zu lassen. Ob das zum Gewinnen reicht, steht auf einem anderen Blatt. Dafür wäre es nötig, die eigene Programmatik anders als 2013 offensiv und vor allem konsequent zu vertreten. Jedenfalls sollte die SPD nicht den Fehler machen, sich zu sehr auf den „Schulz-Faktor“ zu verlassen, der der Partei zwar das Momentum zurückgegeben hat, aber auch schnell wieder verblassen kann.

Die SPD sollte maximal offensiv auf eine rot-rot-grüne Koalition hinarbeiten

Das kann bei der derzeitigen programmatischen Ausgestaltung nur heißen, nicht wieder aus Angst vor der eigenen Courage schon im Vorfeld die Kapitulation namens Große Koalition zu unterschreiben. Stattdessen sollte die SPD maximal offensiv auf eine Koalition mit Linkspartei und Grünen hinarbeiten und auch sehr klar zu machen, wo und wie man gedenkt, etwaige Korrekturen an den eigenen früheren Entscheidungen vorzunehmen. Und der politischen Kultur würde sie mit einem solch inhaltlich ausgerichteten Wahlkampf definitiv einen Dienst erweisen.

 

Hinweis:

In diesem Jahr plant das Manifesto-Project übrigens erneut, wie schon 2013 vor der Bundestagswahl die Auswertung der Parteiprogramme zu veröffentlichen.