Investitionspflicht

Der Schulzzug fährt in die richtige Richtung, macht aber zu früh Halt

Mit einer Investitionsoffensive und einer „Mindestdrehzahl“ will die SPD die deutsche Investitionslücke schließen. Die Konzepte gehen in die richtige Richtung – dürften aber bestenfalls ausreichen, um den Substanzverlust zu bremsen. Ein Kommentar von André Kühnlenz und Philipp Stachelsky.

In Deutschland klafft eine gewaltige Investitionslücke. Foto: Pixabay

Es war eine Provokation, wie wir sie aus angelsächsischen Medien seit Jahren gewöhnt sind. Ausgerechnet kurz vor dem G20-Gipfel hob der wirtschaftsliberale Economist den enormen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands aufs Cover und machte ihn zur großen Titelgeschichte. Dies rief wiederum eine Reaktion hervor, an die wir uns ebenfalls schon gewöhnt haben: Die Verteidigungsschriften hiesiger Ökonomen und Journalisten ließen nicht lange auf sich warten.

Doch längst sind auch unter den Kritikern differenzierte Stimmen zu hören. So hat etwa Martin Sandbu in der Financial Times darauf hingewiesen, dass ein geringerer deutscher Überschuss kaum auf die Nachfrage in der Weltwirtschaft und den Volkswirtschaften der Euro-Zone durchschlagen dürfte. Zwar misst der Leistungsbilanzüberschuss im Kern, wie viele Güter und Dienstleistungen wir im Ausland mehr verkaufen, als wir von dort einführen. Allerdings sei die Weltkonjunktur im Gegensatz zur Zeit nach der Finanzkrise nicht mehr in einem Zustand, der unbedingt einen Nachfrageschub brauche, schreibt Sandbu.

Unterstützung bekommt er ausgerechnet vom Internationalen Währungsfonds, der als notorischer Kritiker der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gilt. In seinem Anfang Juli erschienenen Länderbericht zu Deutschland argumentiert der IWF, dass die aus den Überschüssen resultierenden Risiken für das globale Finanzsystem das ungleich größere Problem seien. Und damit hat der IWF recht. Denn ein Leistungsbilanzüberschuss ist immer damit verbunden, dass die Deutschen ihr Kapital oder Erspartes ins Ausland transferieren. Bekannt ist einerseits, dass es vor allem die Unternehmen in Deutschland selber sind, die sparen wie die Weltmeister und unter dem Strich keine Zinsen mehr zahlen. Das drückt sich darin aus, dass die Deutschen so wenig ihres Gesamteinkommens konsumieren wie wohl noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen.

Der IWF fürchtet, dass sich durch die Kapitalströme Made in Germany neue Schuldenkaskaden bilden

Der IWF fürchtet, dass sich durch die Kapitalströme Made in Germany neue Schuldenkaskaden bilden. Dass Investitions-, Immobilien-, Rohstoff- und Konsummärkte an verschieden Ecken der Welt so stark überhitzen, dass die nächste Rezession erneut in einer schweren Wirtschaftskrise endet. Und niemand kann heute verlässlich abschätzen, auf welchen Verlusten die deutschen Kapitalexporteure am Ende sitzen bleiben werden. Die Erfahrungen der Finanzkrise lehren jedenfalls: es dürften eine Menge sein.

Aktuell transferiert Deutschland – der Großbankier der Welt – netto rund 230 Milliarden Euro pro Jahr ins Ausland. Und nur ein kleiner Teil davon dient produktiven Direktinvestitionen, der größte Teil wurde in Anleihen, Aktien und Wertpapieren angelegt (Portfolioinvestitionen). Alles Spekulationen mit ungewissem Ausgang – eine Tatsache, die die Verteidiger des deutschen Leistungsbilanzüberschusses gerne übersehen.

Die Verteidiger führen gerne an, dass die immer weiter steigenden Überschüsse auf den Einbruch der Rohstoffpreise und auf den schwachen Euro zurückzuführen seien. Mit Sicherheit hat der gesunkene Ölpreis in jüngster Zeit die Kosten für importierte Güter in Deutschland gesenkt und den Überschuss nach oben getrieben, weil Deutschland für die gleiche Menge an Rohstoffimporten deutlich weniger zahlen musste als vor dem Einbruch der Rohstoffpreise. Der schwache Euro dürfte dagegen eine geringere Rolle gespielt haben. Hier scheinen sich viele Volkswirte eher an gefühlten Wahrheiten zu orientieren als an verlässlichen Untersuchungen. Jedenfalls liegen uns bisher keine dazu vor.

Richtig ist natürlich auch, dass in einer Marktwirtschaft die Spar- und Investitionsentscheidungen von tausenden Unternehmen und Privathaushalten getroffen werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Politik keine Möglichkeit hätte, korrigierend einzugreifen, wie beispielsweise Finanzminister Wolfgang Schäuble gerne behauptet.

Dabei geht es weniger darum, den Unternehmen in Deutschland nun durch steuerliche Anreize das Investieren wieder schmackhaft zu machen – denn über eine zu hohe Steuerbelastung kann die deutsche Wirtschaft beileibe nicht klagen, im Gegenteil: Vor allem die Gewinne der Großunternehmen sind derzeit so hoch wie lange nicht.

Bund, Länder und Kommunen unterlassen seit 15 Jahren notwendige Ersatzinvestitionen in die Infrastruktur

Einen unwesentlich größeren Einfluss könnte die Politik an einer anderen Stelle nehmen: bei der Investitionslücke der öffentlichen Hand. Bund, Länder und Kommunen unterlassen seit 15 Jahren notwendige Ersatzinvestitionen in die Infrastruktur. Die staatliche Förderbank KfW macht auf Basis von Umfragen bei den Kommunen einen Investitionsbedarf von satten 126 Milliarden Euro aus. Amtlichen Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge summiert sich der Investitionsstau allein in der Infrastruktur mittlerweile auf 75 Milliarden Euro.

Nun kann man natürlich diskutieren, wieviel davon wirklich relevant ist. Doch auch dazu liegen uns bislang keine Untersuchungen der Verteidiger deutscher Leistungsbilanzüberschüsse vor. Wieder nur gefühlte Wahrheiten: Es werden kunterbunt private und öffentliche Investitionen zusammengerührt, um zu beweisen, dass es in Deutschland gar keine Investitionslücke gibt.

Die Mindestdrehzahl für Investitionen

Die Diskussion hat diese Woche neue Nahrung bekommen, nachdem die SPD eine öffentliche Investitionspflicht in den Wahlkampf eingebracht hat. Ob das zum Wahlkampfschlager taugt, bleibt abzuwarten. Einerseits haben nicht zuletzt Planungsdesaster wie der Berliner Flughafen BER oder Stuttgart 21 das Image von öffentlichen Investitionen in der Bevölkerung sicherlich nicht verbessert. Andererseits zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der deutschen Wähler einer höheren Investitionstätigkeit des Staates durchaus etwas abgewinnen kann.

Auch kann man darüber streiten, ob die „Mindestdrehzahl für Investitionen“ den demokratischen Prozess beeinträchtigten würde: Die im Grundgesetzt verankerte Schuldenbremse, das konservative Gegenstück zur Investitions-Mindestdrehzahl, setzt bereits jetzt der Fiskalpolitik enge Grenzen – wenn auch noch eine Investitionspflicht hinzukommt, könnte dies etwas überspitzt formuliert dazu führen, dass über die Ausrichtung der deutschen Fiskalpolitik nicht mehr an der Wahlurne und im politischen Diskurs entschieden wird, sondern durch ein paar Formeln in einer Excel-Tabelle.

In jedem Fall kann es sich aber eine alternde Gesellschaft nicht leisten, von der Substanz zu leben. Und da ist eins immer noch besser: Deutschlands staatliche Haushalte sollten besser in Infrastruktur und Bildung investieren, um den Standort produktiver zu machen. Besser jedenfalls, als irgendwo auf der Welt das Geld anonym zu verteilen.

Nichts spricht beispielsweise dagegen, dass die öffentlichen Haushalte nach Abschreibungen für Ersatzinvestitionen eine Summe von 0,6% des Bruttoinlandsprodukts netto pro Jahr investieren. Damit wäre garantiert, dass der öffentliche Kapitalstock  zumindest so stark wie die Gesamtwirtschaft wächst, wie etwa Berechnungen des Ökonomen Sebastian Dullien zeigen. Die Umsetzung dieses Ziel würde bedeuten, dass die öffentliche Hand zuletzt etwa 20 Milliarden Euro pro Jahr mehr hätte investieren müssen als sie es derzeit tut. Und selbst wenn man nur die Summe negativer Nettoinvestitionen seit 2003 (also dem Jahr, seit dem die Abschreibungen von wenigen Ausnahmen abgesehen größer als die Bruttoinvestitionen sind), ergibt sich ein amtlicher Investitionsstau von knapp 16 Milliarden Euro.

Diese Berechnungen zeigen auch, dass die von der SPD vorgeschlagene Investitionsoffensive zwar in die richtige Richtung geht, der Schulzzug aber leider zu früh Halt macht. Denn auch die von der SPD geforderten 30 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen über die nächsten vier Jahre werden im allerbesten Fall nur ausreichen, um den Substanzverlust zu bremsen. Zudem ist zu befürchten, dass die Schuldenbremse (die auch die SPD nicht in Frage stellt) dazu führt, dass in konjunkturell schlechteren Zeiten die Investitionen als erstes zurückgefahren werden, Mindestdrehzahl hin oder her.

Schön wäre es natürlich, wenn die Politik es selber auf die Reihe bekommen würde, sich solch ein Ziel zu setzen – ohne Zwang und Verschwendung. Die Erfahrungen der vergangenen 10 bis 15 Jahre zeigen jedoch, dass zumindest vorübergehend eine Pflicht zum Investieren gar nicht so verkehrt ist. Und dem Economist würden sicherlich auch noch andere lustige Motive für seine Titelseite einfallen.

 

Zu den Autoren:

André Kühnlenz ist Redakteur bei der Finanz und Wirtschaft. Außerdem bloggt er auf weitwinkelsubjektiv.com.

Philipp Stachelsky ist Herausgeber und Gründer des Makronom.