Vor einiger Zeit hat DIW-Präsident Marcel Fratzscher im Makronom den früheren Chefvolkswirt der EZB Otmar Issing kritisiert, der zwar höhere öffentliche Investitionen gefordert, aber zugleich postuliert hatte, dass diese durch das Umschichten von konsumtiven Ausgaben im Staatshaushalt finanziert werden sollten. Diese Forderung Issings kommt einer Verteidigung der „Schwarzen Null“ als wirtschaftspolitischem Ziel gleich.
Zu Recht weist Fratzscher auf die Problematik eines solchen Zieles hin, insbesondere dann, wenn das Potenzialwachstum einer Volkswirtschaft so niedrig ist wie in Deutschland. Stattdessen plädiert Fratzscher dafür, die fiskalischen Spielräume, die auch unter einem Regime der Schuldenbremse bestehen, auszunutzen, um die staatlichen Investitionen zu erhöhen und auf diese Weise das Potenzialwachstum, das ja letztlich unseren Wohlstandszuwachs bestimmt, wieder zu beschleunigen. All dies ist pragmatisch, richtig und gut.
Doch dann findet sich gegen Ende seiner Ausführungen ein Satz, der aufhorchen lässt. Fratzscher schreibt:
„Die Schuldenbremse ist zwar richtig und notwendig und hat zu einer Reduzierung der Staatsschulden beigetragen, leider aber auch zulasten öffentlicher Investitionen.“
Dieser Satz irritiert, vor allem vor dem Hintergrund des vorher Gesagten. Ohne Zweifel ist das niedrige Produktivitätswachstum derzeit eines der gravierendsten, wenn nicht gar das gravierendste Problem der Wirtschaft in Deutschland. Dadurch verengt sich der Spielraum für eine höhere Kaufkraft der Verbraucher ebenso wie für höhere Gewinne der Unternehmen. Mit anderen Worten: unser Wohlstandszuwachs verlangsamt sich.
Ein entscheidender Grund hierfür dürfte der Mangel an Investitionen in produktive Bereiche sein. Das gilt für private Investitionen in Ausrüstungen und Maschinen, aber besonders auch für öffentliche Investitionen in die Infrastruktur. So sind die öffentlichen Nettoinvestitionen seit Jahren, nur unterbrochen durch die Konjunkturprogramme während der Finanzmarktkrise, negativ. Das heißt, die Abschreibungen sind höher als die Bruttoinvestitionen oder klarer formuliert: Die öffentliche Infrastruktur verschleißt.
Dass sich vor diesem Hintergrund keine Produktivitätsdynamik entfalten kann, ist wenig überraschend. Die Frage, der hier nachgegangen werden soll, ist, ob die Schuldenbremse einer nachhaltigen Überwindung der Investitionsschwäche im Weg steht, und wenn ja, warum sie dann noch „richtig und notwendig“ sein kann, wie Fratzscher schreibt. Lars Feld, Mitglied des Sachverständigenrates und wie Fratzscher Teil der Kommission zur Investitionsförderung des BMWi, bestreitet sogar jeglichen Zusammenhang von Schuldenbremse und Investitionsschwäche.
Richtig ist, dass es in den vergangenen Jahren auch unter der Schuldenbremse erhebliche Spielräume für Investitionen gegeben hat. Dank der starken Binnenkonjunktur und entsprechend stark steigender Steuer- und Beitragseinnahmen war es leicht, die Vorgaben der Schuldenbremse überzuerfüllen. Es war eine ideologisch motivierte Entscheidung der Politik, die bestehenden Spielräume nicht für investive Ausgaben zu nutzen. Stattdessen wurden die zukünftigen Wachstumschancen niedriger priorisiert als das Erreichen der „Schwarzen Null“, die zum Fetisch des Bundesfinanzministeriums mutiert ist.
Die Schuldenbremse ist gefährlich, weil das zur Prozyklik neigende Konjunkturbereinigungsverfahren die Spielräume gerade im Abschwung schnell verschwinden lässt. So zeigen Untersuchungen zur Schweizer Schuldenbremse, die schon länger als die deutsche besteht und deren Konjunkturbereinigungsverfahren weniger prozyklisch wirkt als das der deutschen Schuldenbremse, durchaus deren Problematik gerade im Hinblick auf Investitionen auf. Es ist schlicht plausibel, dass in Zeiten, in denen die Schuldenbremse greift, die Investitionen besonders gefährdet sind. Nehmen wir an, eine Regierung erwartet, dass das öffentliche Haushaltsdefizit die zulässige Schwelle einer Schuldenbremse überschreitet. In diesem Fall hat sie drei Optionen:
Sie kann die Steuern erhöhen. Dies ist zum einen ein in der Regel langwieriger Gesetzgebungsprozess und zum zweiten unpopulär. Deshalb dürfte eine Regierung wenig geneigt sein, diese Option zu wählen.
Sie kann die konsumtiven Ausgaben senken. Dies ist aber nur in begrenztem Umfang kurzfristig möglich. Denn der größte Teil der konsumtiven Ausgaben besteht aus Personalkosten, die allenfalls längerfristig gekürzt werden können. Angesichts ungedeckter Personalbedarfe in vielen Bereichen dürfte dies gleichfalls sehr unpopulär sein. Also dürfte auch diese Option nicht in nennenswertem Umfang wahrgenommen werden. Es bleibt als letzte Möglichkeit:
Die Regierung kann die Ausgaben für Investitionen kürzen. Dies ist die am leichtesten zu realisierende Variante. Schließlich handelt es sich hier um freie Mittel, deren Nicht–Ausgabe zudem kurzfristig keinerlei negative Wirkung hat, zugleich aber die Haushaltslage rasch verbessert. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn dieses Vorgehen zu Lasten öffentlicher Investitionen die wahrscheinlichste Reaktion auf Beschränkungen der öffentlichen Haushalte ist.
Vor diesem Hintergrund ist die Aussage, dass die Schuldenbremse gleichwohl „notwendig und richtig“ sei, nicht mit dem Ziel vereinbar, die öffentlichen Ausgaben für Investitionen nachhaltig zu stärken – genau dies wird in Gegenwart einer Schuldenbremse nicht geschehen. Allenfalls in Zeiten guter Konjunktur mit hohen Steuereinnahmen – wie es derzeit der Fall ist – kann mit temporär verstärkten Investitionen gerechnet werden. Ansonsten, insbesondere in konjunkturell schwierigeren Zeiten, dürften sie als erste gekürzt werden. Dies gilt umso mehr, je strikter die Schuldenbremse konzipiert ist. Ein dringend erwünschter Produktivitätsschub erscheint unter diesen Umständen unwahrscheinlich.
Die Schuldenbremse verhindert also Wohlstandzuwächse und damit auch den Schuldenabbau, der ja eigentlich ihr Ziel ist – ganz davon zu schweigen, dass ein solches Verhaltensmuster nichts mit Generationengerechtigkeit zu tun hat. Schließlich wird die Infrastruktur in der Regel über mehrere Generationen genutzt, so dass eine finanzielle Beteiligung künftiger Generationen über eine Schuldenfinanzierung angemessen wäre.
Dieser Umgang mit Investitionen bewirkt aber noch etwas Anderes: Er verstärkt die konjunkturellen Schwankungen. Wenn in guten Zeiten die Ausgaben eher ausgedehnt und in schlechten eher zurückgefahren werden, dann ist das genau das Gegenteil dessen, was aus Stabilitätsgründen erforderlich wäre. Man sollte also nicht überrascht sein, wenn sich Konjunkturschwankungen in Zukunft verstärken. Hierzu besteht weder eine Notwendigkeit, noch ist es richtig.
(Noch) instabilere Finanzmärkte
Das offenkundige Ziel der Schuldenbremse ist, die öffentlichen Schulden zu reduzieren. Das ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar und erwünscht, um die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte in Grenzen zu halten. Schließlich stehen diese Mittel nicht für andere, produktivere Zwecke, wie eben Investitionen, zur Verfügung. Doch ist dies nur eine Perspektive auf staatliche Verschuldung, der man so lange aus guten Gründen folgen kann, wie die Staatsschulden relativ hoch sind.
Was aber geschähe, wenn die Schuldenbremse so erfolgreich wäre, wie sich ihre Befürworter das erhoffen? Der Schuldenstand würde sich dann wahrscheinlich bei einem Stand von gut 10 % des BIP einpendeln. Das wäre aus Sicht der Befürworter ein Erfolg – aus Sicht der Kapitalmärkte wäre es eine Katastrophe.
Denn aus der Perspektive der Finanzmärkte besteht Staatsverschuldung aus den Staatsschuldpapieren, mit denen sie finanziert wird. Diese Wertpapiere sind die Anlage der Wahl für all jene, die Sicherheit für ihre Wertanlagen auf den Finanzmärkten suchen. Diese sichere Anlageform wird durch die Schuldenbremse zurückgedrängt und zwingt Anleger entweder in höhere Risiken oder in Liquidität, die nur begrenzt für Investitionen zur Verfügung steht. Die Folgen dürften nicht nur in geringeren Investitionen, sondern auch in instabileren Finanzmärkten bestehen. Auch das ist weder notwendig noch kommt es der Wirtschaft zu Gute.
Die Einführung der Schuldenbremse in Deutschland 2009 wurde insbesondere von CDU und SPD als großer wirtschaftspolitischer Erfolg gefeiert. Mittlerweile nimmt auch in diesen Parteien die Begeisterung merklich ab. Zwar wird in der öffentlichen Debatte die derzeitige gute Haushaltslage vor allem in den Bundesländern als Erfolg der Schuldenbremse bezeichnet. Tatsächlich dürfte die Verbesserung der öffentlichen Finanzen aber weitaus eher auf die gute, von der Binnenwirtschaft getragene Konjunktur zurückzuführen sein.
Unnötige Suche nach Umgehungsmöglichkeiten
Im Hintergrund wird jedoch allerorten an Möglichkeiten gearbeitet, wie die Schuldenbremse umgangen werden kann. Diese Bemühungen reichen von der europäischen Ebene (Stichwort: Juncker-Plan) über das Bundesfinanzministerium mit seinen Plänen zur Autobahnbetreibungsgesellschaft, die außerhalb des Bundeshaushalts agieren und Investitionen vornehmen soll, bis hin zum Bundeswirtschaftsministerium. Die dort unter der Leitung eben von Marcel Fratzscher zur Förderung von Investitionen eingesetzte Kommission hat keinen anderen Zweck, als Wege zu entdecken, wie unter dem Joch der Schuldenbremse die öffentlichen Investitionen dennoch ausgedehnt werden können. Ohne die Schuldenbremse hätte es diese Kommission nie gegeben, weil sie nicht notwendig gewesen wäre.
Nicht umsonst wirkt die Schuldenbremse heute wie aus der Zeit gefallen: Sie basiert auf einem ökonomischen Denken, das mittlerweile überkommen ist. Die Schuldenbremse kann nämlich nur dann reibungslos funktionieren, wenn die Wirtschaft krisenfrei ist. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass das Marktsystem inhärent stabil ist und in der Tendenz keiner stabilisierenden fiskalpolitischen Intervention bedarf. Gefordert ist vielmehr – bis auf gravierende Ausnahmefälle – eine weitgehende Zurückhaltung des Staates in stabilitätspolitischer Hinsicht. Diese Aufgabe, soweit überhaupt als notwendig empfunden, wird der Geldpolitik überlassen.
Die Krisen der vergangenen Jahre haben überdeutlich gezeigt, dass diese Sichtweise falsch ist. Die Geldpolitik ist im Ernstfall überfordert, es bedarf zusätzlicher diskretionärer Eingriffe der Fiskalpolitik, um wieder Stabilität herzustellen. Die Schuldenbremse erschwert dies erheblich und ist damit ein Krisenbeschleuniger. Sie ist folglich nicht notwendig und richtig, sondern überflüssig und falsch. Ihre Abschaffung wäre eine sinnvolle wirtschaftspolitische Forderung. Doch der politische Mut hierfür ist im Deutschland des Jahres 2016 nicht erkennbar.
Zu den Autoren:
Gustav A. Horn ist wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.
Katja Rietzler leitet am IMK das Referat für Steuer- und Finanzpolitik.