Investitionen

Yeah, wir haben uns den Einheitsboom komplett weggespart

Die deutsche Infrastruktur wird seit 2003 wertmäßig nicht mehr vollständig erhalten – inzwischen sind die im Zuge der Wiedervereinigung getätigten Investitionen sogar komplett aufgefressen worden. Höchste Zeit für einen Kurswechsel.

Blühende Landschaften. Bild: Judith Doyle via Flickr (CC BY-ND 2.0)

Der folgende Chart zeigt die Nettoanlageinvestitionen der öffentlichen Haushalte in Deutschland in die Infrastruktur. Netto bedeutet, dass wir hier die Ausgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden ohne Abschreibungen betrachten – der Chart zeigt also, was tatsächlich neu investiert wurde und nicht nur dem Werterhalt diente. Die blaue Fläche zeigt die kumulierten Nettoanlageinvestitionen seit 1991 an, die lila Balken stehen für die einzelnen Jahre.

Von 1991 bis 2002 haben die öffentlichen Haushalte eine Summe von 65,7 Milliarden Euro in die Infrastruktur (d.h. Nichtwohnbauten) investiert. Seitdem sind die Nettoanlageinvestitionen in die Infrastruktur aber jedes Jahr negativ ausgefallen. Das heißt: Seit 2003 geben die öffentlichen Haushalte – vor allem die Kommunen – unterm Strich weniger für den Werterhalt von Straßen, Brücken, Schulgebäuden usw. aus als notwendig wäre. Die Infrastruktur in Deutschland wird seit 2003 wertmäßig nicht mehr vollständig erhalten. Es tritt also buchhalterisch (und natürlich längst auch in der Realität) ein Verschleiß auf, der sich mittlerweile auf 68,8 Milliarden Euro summiert. Das Absurde:

Die Summe, die von 1991 bis 2002 infolge des Einheitsbooms in die öffentliche Infrastruktur investiert wurde, ist von 2003 bis 2015 durch diesen Verschleiß komplett aufgefressen worden. Kumuliert ergibt sich für die Jahre 1991 bis 2015 ein Minus von 3,1 Milliarden Euro.

Dazu ein Beispiel aus der betriebswirtschaftlichen Realität: Natürlich kann jedes Unternehmen eine Maschine noch 20 oder 30 Jahre länger nutzen, wenn sie wertmäßig bereits vollständig abgeschrieben ist. Wenn das Unternehmen aber eine laufende Modernisierung seines Kapitalstocks unterlässt, wird es in Zukunft schwieriger werden, Marktanteile zu verteidigen oder auszuweiten und damit Gewinne zu erwirtschaften.

Ähnliches gilt für auch für den öffentlichen Kapitalstock einer Volkswirtschaft (also für die Gebäude, Straßen, Brücken usw.). Eine Straße kann auch mit Schlaglöchern noch genutzt werden und eine Brücke muss nicht sofort zusammenbrechen, wenn die notwendigen Erhaltungsausgaben ausbleiben.

Allerdings summiert sich dieser Erhaltungsbedarf, den sich die öffentlichen Haushalte über all die Jahre eingespart haben. Er muss schließlich irgendwann von heutigen und künftigen Generationen aufgebracht werden – spätestens dann, wenn die Schlaglöcher oder der Verfall von Schwimmbädern und Schulgebäuden einen Weiterbetrieb unmöglich machen. Und wie jeder Häuslebauer weiß, werden verschleppte Reparaturen mit der Zeit auch nicht gerade billiger. Wollen wir es darauf ankommen lassen? Wie gesagt: In Deutschland gibt es derzeit einen Erhaltungsbedarf von rund 69 Milliarden Euro.

Eine Be- und keine Entlastung für künftige Generationen

Ehrlicherweise müssen wir anerkennen, dass Deutschland derzeit von Fiskalimpulsen lebt, was auch von den Investitionen herkommt. Es sind Fiskalimpulse, die wir sonst nur aus Krisenzeiten wie Rezessionen kennen. Doch auch hier gilt: Was zum Beispiel für mehr Flüchtlingsunterkünfte ausgegeben wird, wird an anderer Stelle gespart – was in diesen Zeiten auch politisch („Die Flüchtlinge nehmen uns das Geld weg“) ein fatales Signal ist. Rechnen wir alle öffentlichen Investitionsausgaben (nicht nur für die Infrastruktur) zusammen, sind sie netto (also ohne Abschreibungen) noch immer negativ. Dass die negative Summe aber zuletzt geringer wurde, trägt zwar zum erwähnten Fiskalimpuls bei, doch die ausgebliebenen Erhaltungsausgaben wachsen trotzdem weiter und weiter.

Nun argumentieren Ökonomen wie Ludger Schuknecht, der Chefvolkswirt von Dr. Schäuble im Finanzministerium, dass bei einem aktuell noch prozyklischen Fiskalimpuls die Staatsausgaben nicht weiter steigen dürfen. Dieser Hinweis wäre jedoch nur dann berechtigt, wenn sich am Horizont tatsächlich Überhitzungserscheinungen abzeichnen würden und wir fürchten müssten, dass die Inflation in Deutschland bald durch die Decke geht. Danach sieht es derzeit aber nun wirklich nicht aus.

Vor allem aber stellt sich das beliebte Argument, nach dem der deutsche Staat mit seinen Schwarzen Nullen in den öffentlichen Kassen zur Entlastung der künftigen Generationen beiträgt, als billiger Taschenspielertrick heraus, wie wir gerade gesehen haben. Bei einem erwarteten Leistungsbilanzüberschuss von rund 280 Milliarden Euro allein in diesem Jahr – das ist die Nettoersparnis (= Investitionen) der Deutschen im Ausland – sollten die 69 Milliarden, die für den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur notwendig sind, doch locker zu meistern sein. Vergessen wir nicht, dass Dr. Schäuble sich derzeit Geld praktisch zum Nulltarif leihen und damit unser Erspartes umsonst einsammeln kann.

Aber wir werden wohl erst auf den dringend notwendigen Generationenwechsel im Bundesfinanzministerium warten müssen, bis endlich Vernunft in die deutsche Wirtschaftspolitik einkehrt.

 

Zum Autor:

André Kühnlenz war Redakteur beim Wirtschaftsblatt in Wien, das Anfang September als gedruckte Zeitung eingestellt wurde. Außerdem bloggt er auf weitwinkelsubjektiv.com, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist. Auf Twitter: @KeineWunder.