Überschuss-Debatte

Christian Lindner und die Direktinvestitionen

Wie viele Verteidiger der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse behauptet auch FDP-Chef Christian Lindner, dass diese mit deutschen Direktinvestitionen in anderen Ländern „korrespondieren“ würden. Die Fakten geben das aber nicht her.

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Es deutet vieles darauf hin, dass die FDP zu den großen Siegern der kommenden Bundestagswahl zählen wird. In den Umfragen haben die Freien Demokraten zuletzt stark zugelegt, derzeit liegen sie etwa bei 9%. Angesichts des parallelen Aufschwungs der Unionsparteien ist es momentan wieder absolut realistisch, dass die nächste Bundesregierung eine schwarz-gelbe sein könnte.

Und in einer solchen Konstellation würde die FDP wohl entweder das Außen- oder das Finanzministerium erhalten (das sind die Ministerien, die der kleinere Koalitionspartner traditionell erhält). Der plausibelste Ministerkandidat wäre dann FDP-Chef Christian Lindner. Angesichts dieser Gemengelage ist es verständlich und richtig, dass Lindner und seine FDP auch in internationalen Medien wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit erhalten.

Am Mittwoch veröffentlichte beispielsweise der europäische Ableger des US-Magazins Politico ein Interview mit Lindner, in dem dieser sich auch kurz zur Debatte um die deutschen Außenhandelsüberschüsse äußert:

„Der großangelegte Lissabon-Prozess, die EU zur wettbewerbsfähigsten Region bis 2020 zu machen, ist krachend gescheitert. Aber statt das nun neu anzugehen, wird vermessen, wie groß der deutsche Außenhandelsüberschuss innerhalb Europas ist.

Das ist unsinnig. Der Handelsüberschuss Deutschlands korrespondiert ja mit deutschen Direktinvestitionen in anderen Ländern: Wir leihen den anderen das Geld für deutsche Waren – und können uns dann nicht sicher sein, ob wir das Geld jemals zurückerhalten.“

Dieses Zitat ist für sich genommen schon etwas widersprüchlich. Lindner wertet die Debatte um den deutschen Außenhandelsüberschuss zunächst als zweitrangig und „unsinnig“ ab, um dann doch auf eine wichtige Problematik hinzuweisen: nämlich auf die Tatsache, dass mit einem Exportüberschuss im Warenhandel auch ein Kapitalexport einhergeht. Lindner erwähnt richtigerweise, dass „wir uns dann nicht sicher sein (können), ob wir das Geld jemals zurückerhalten“ – unter anderem deswegen ist die Debatte eben alles andere als zweitrangig.

Vor allem aber stellt Lindner eine Behauptung auf, die auch von anderen Verteidigern der deutschen Überschuss-Politik wie Angela Merkel oder Wolfgang Schäuble gerne verwendet wird: Der Handelsüberschuss würde mit Direktinvestitionen „korrespondieren“. Das über die Exportüberschüsse verdiente Geld würde also (in erheblichem Ausmaß) in Form eines Kaufs einer Fabrikanlage oder der Beteiligung an einer ausländischen Unternehmung direkt wieder produktiv in die Käuferländer wandern.

Abgesehen davon, dass auch Lindner in bester Trump/Schäuble/Merkel-Manier die Überschussdebatte primär aus der Perspektive des Warenhandels führt und das Ungleichgewicht zwischen Sparen und Investieren ignoriert, ist die Behauptung aber mindestens vollkommen überzogen, wie ein Blick in die deutsche Kapitalbilanz zeigt.

Die Kapitalbilanz erfasst alle grenzüberschreitenden Transaktionen der Bundesrepublik Deutschland und ist das Gegenstück zur Leistungsbilanz. Diese Transaktionen werden in der Kapitalbilanz in fünf Kategorien erfasst:

  1. Direktinvestitionen: Dabei handelt es sich um Finanzbeziehungen zwischen inländischen und ausländischen Firmen, bei denen das investierende Unternehmen mindestens 10% der Anteile hält. Das können Beteiligungen an ausländischen Firmen oder Firmengruppeninterne Finanz- und Handelskredite sein.
  2. Wertpapieranlagen: Anlagen in international handelbare Wertpapiere wie etwa Aktien, Anleihen, Investmentfondsanteile oder Zertifikate.
  3. Finanzderivate und Mitarbeiteraktienoptionen: Options- und Termingeschäfte, die entweder der Absicherung von Risiken dienen oder zu Spekulationszwecken genutzt werden. Mitarbeiteraktienoptionen sind Wertpapiere oder Anteile am Arbeitgeber.
  4. Übriger Kapitalverkehr: Hierzu zählen Finanz- und Handelskredite zwischen Unternehmen (also nicht Unternehmensintern) sowie sonstige Bankguthaben im Ausland. Hierzu gehören auch Kredite, die der Staat Deutschland im Ausland aufnimmt bzw. anderen Ländern gewährt.
  5. Währungsreserven wie etwa ausländische Devisen oder Gold, die von der Bundesbank verwaltet werden.

In der folgenden Grafik haben wir die deutschen Kapitalexporte pro Jahr aufgeschlüsselt. Die Direktinvestitionen sind lila markiert:

Quelle: Bundesbank

Tatsächlich machten Direktinvestitionen also in den meisten Jahren weniger als 25% der deutschen Kapitalströme ins Ausland aus. Eine wesentlich größere Rolle spielte der – unter einer ziemlich lieblosen Bezeichnung leidende – „übrige Kapitalverkehr“. Aber auch Wertpapierkäufe (Anleihen, Aktien etc.) stellten wertmäßig in den meisten Jahren eine größere Position als die Direktinvestitionen dar – „korrespondieren“ dürfte nach allgemeiner Auffassung etwas anderes sein.

Nettoauslandsvermögen besteht zu etwa einem Drittel aus Direktinvestitionen

Die Diskussion um die zukünftigen Erträge aus den deutschen Exportüberschüssen dreht sich auch häufig um die deutschen Auslandsvermögen. Zur Erinnerung: Bei den deutschen Exporten an Waren und Dienstleistungen handelt es sich um eine Stromgröße, die über einen bestimmten Zeitraum erfasst wird. Im Gegensatz dazu ist das deutsche Auslandsvermögen eine Bestandsgröße, die bemisst, wie groß das gesamte Auslandsvermögen an einem bestimmten Stichtag ist. Die Veränderung dieses Auslandsvermögens ist Folge der sich über die Jahre aufhäufenden Exportüberschüsse bzw. der finanziellen Zahlungsströme, die mit diesen Überschüssen verbunden sind.

Da es sich bei den Überschüssen um die Differenz zwischen Kapitalexporten und Kapitalimporten handelt, spricht man auch vom Nettoauslandsvermögen. Es ist eine Nettogröße, da die Auslandspassiva, also die Vermögen der Ausländer in Deutschland, bereits von den Auslandsaktiva, also den Vermögen der Deutschen im Ausland, abgezogen wurden. Rein theoretisch (klammern wir mal buchhalterischen Bewertungskriterien, Bewertungsveränderungen, Wechselkursschwankungen etc. aus) kann man also einen direkten Zusammenhang zwischen Exportüberschüssen und Nettoauslandsvermögen herstellen.

Quelle: Bundesbank

Die aufgehäuften Direktinvestitionen im Ausland machen nur etwa ein Drittel des gesamten Nettoauslandsvermögens aus. Auch hier zeigt sich wieder: Die aus den Exportüberschüssen resultierenden Auslandsvermögen wurden also bei weitem nicht überwiegend dazu genutzt, um direkt wieder in (eventuell) produktive Analagen im Ausland reinvestiert zu werden. Wichtiger ist der Bestand an übrigen Kapitalanlagen und den von Deutschen gehaltenen Wertpapieranlagen. (Falls jemand durch die bis 2014 negativen Wertpapieranlagen irritiert sein sollte: Es handelt sich hier um Nettopositionen. Die Wertpapieranlagen sind bis 2015 deshalb negativ, da Ausländer mehr Wertpapieranlagen im Inland halten, als umgekehrt der Fall ist.)

Hat Lindner etwas verwechselt?

Das vorgebrachte „Entlastungsargument“ der Direktinvestitionen ist also weitaus weniger stark, als Lindner und andere suggerieren. Durchaus möglich ist im Falle des FDP-Chefs auch, dass er sich mit seiner Aussage eigentlich auf den „übrigen Kapitalverkehr“ bezog, bei dem Finanz- und Handelskredite sowie staatliche Kredite tatsächlich den Löwenteil ausmachen. Dazu passt auch die Warnung Lindners vor möglichen Vermögensverlusten: Deutschland kann sich tatsächlich nie ganz sicher sein, ob diese Kredite auch in Zukunft ordnungsgemäß und fristgerecht bedient werden. (Eine Unsicherheit, die aber natürlich prinzipiell jede ökonomische Handlung in einer Geldwirtschaft betrifft.)

Bisher lautet die deutsche Strategie in der Überschussdebatte: Leistungsbilanzungleichgewichte sind lediglich eine Folge des grenzüberschreitenden Güter- und Dienstleistungsverkehrs, der wiederum auf den Einzelentscheidungen von Wirtschaftssubjekten beruht – und wir als Politik können dagegen nichts machen. Zumal ist das Problem gar nicht so groß wie alle behaupten, und überhaupt gibt es wichtigeres zu tun.

Im Ausland wird mitunter darauf gehofft, dass die nächste Bundesregierung in der Überschuss-Frage nach der Wahl etwas offener und zugänglicher sein wird. Sollte die Lindner-geführte FDP ab September in der Regierung sitzen, dürfte sich die deutsche Linie aber nicht grundlegend ändern, sondern sogar weiter manifestiert werden. Und die Argumentationsqualität der deutschen Seite dürfte sich leider auch nicht erhöhen.