Der Streit geht weiter: Waren die deutschen Löhne Schuld an den Leistungsbilanzungleichgewichten vor der Krise des Euroraums? Sind Lohnanpassungen deshalb das Mittel der Wahl, um außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zu überwinden? Oder sind Löhne hierzu aus den verschiedensten Gründen mehr oder minder ungeeignet? Und wenn ja: was sind die Alternativen? Um diese Fragen dreht sich ein neuer IMK Report des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), der das Problem der Leistungsbilanzüberschüsse der deutschen Volkswirtschaft und Strategien zu ihrer Überwindung mithilfe ökonometrischer Analysen systematisch zu analysieren sucht.
Vor einiger Zeit hatte ich im Makronom die Gewerkschaften gegen den Vorwurf verteidigt, ihre Lohnabschlüsse seien absichtlich zu maßvoll ausgefallen. Vielmehr sind die ohne Zweifel immer noch relativ niedrigen deutschen Lohnabschlüsse das Ergebnis einer nicht zuletzt durch die Agenda 2010 verschlechterten Verhandlungsposition der Gewerkschaften sowie des schwindenden Einflusses von Tarifverträgen. Eine Absicht zu Lohnzurückhaltung vermochte ich nicht zu erkennen.
Diese Sichtweise wurde von Heiner Flassbeck, dem ehemaligen Staatssekretär und Chef-Volkswirt der UNCTAD, scharf angegriffen, indem er das vermeintliche Schweigen von Gewerkschaftsspitzen zur Bedeutung der Löhne für den Leistungsbilanzsaldo als Beweis einer Absicht interpretierte. In meiner Entgegnung wies ich im Übrigen daraufhin, dass die Lohnabschlüsse in Deutschland sich allmählich wieder den Stabilitätserfordernissen annäherten. Dieser Aussage wurde wiederum von Martin Höpner vom Max Planck Institut in Köln widersprochen, der die Lohnentwicklung noch weit von einem Pfad entfernt sieht, der mit einer balancierten Leistungsbilanz Stabilität erzeugt.
Zeit also, die Frage nach der Rolle der Löhne für den Leistungsbilanzsaldo noch einmal grundsätzlich aufzugreifen. Geht man dabei systematisch entsprechend der Definition der Leistungsbilanz vor, entziehen sich die Verhältnisse vereinfachenden Interpretationen. So muss man zunächst einmal konstatieren, dass es um nominale Handels- und Dienstleistungsüberschüsse geht, nicht um reale. Es geht also nicht nur darum, wie Löhne auf die gehandelten Mengen, sondern wie sie insgesamt auf den Geldwert der Export- und Importmengen wirken, also den Export- bzw. Importwert beeinflussen.
Und damit tritt eine erste Komplikation auf. Höhere Preise im Inland als Folge kräftigerer Lohnsteigerungen führen zwar – wie bei einem Überschuss erwünscht – zu reduzierten Export- und erhöhten Importmengen; sie reduzieren also, wenn alle anderen Rahmenbedingungen gleich blieben, den Überschuss.
Der springende Punkt ist allerdings: Es bleibt aber eben nicht alles gleich. Denn auch die Exportpreise steigen und dies erhöht für sich genommen den Exportumsatz und damit den Überschuss. Ob der Gesamteffekt auf den nominalen Wert der Exporte positiv oder negativ ist, hängt von der Preiselastizität der Exportnachfrage ab. Diese gibt an, wie stark die ausgeführten Mengen auf eine Veränderung der Ausfuhrpreise reagieren. Wenn die Preiselastizität, was die Regel ist, kleiner als Eins ist, steigt der Wert der Exporte, wenn die Preise steigen. Zwar gehen die Exportmengen zurück, aber in schwächerem Ausmaß als die Preise steigen. Mithin erfolgt über die Exportseite überhaupt kein Beitrag zur Reduzierung des Leistungsbilanzsaldos – im Gegenteil: die Unwucht erhöht sich sogar noch. Ob der Ausgleich gelingt, hängt somit vor allem von einer hinreichend starken Importreaktion ab.
Auf den ersten Blick erscheint dies nicht unrealistisch. Die erhöhten Inlandspreise führen in jedem Fall zu höheren Importmengen und –preisen. Letzteres ist das Ergebnis einer am jeweiligen Markt orientierten Preissetzung (Pricing to Market, PTM), womit die unvollständige Weitergabe von Wechselkursveränderungen in die Preise handelbarer Güter gemeint ist: Dabei wird unterstellt, dass Exporteure bei der Festlegung ihrer Angebotspreise nicht nur ihre eigene Kostensituation berücksichtigen, sondern auch die Preise ausländischer Anbieter, die mit ihnen auf demselben Absatzmarkt konkurrieren. Beides erhört die Importwerte und wirkt eindeutig in Richtung eines Ausgleichs.
Auf den zweiten Blick gibt es jedoch auch an dieser Stelle eine Komplikation: Export– und Importmengen sind nicht voneinander unabhängig. Im Zuge einer intensivierten weltwirtschaftlichen Verflechtung basiert die Produktion von Exportgütern zunehmend auf der Einfuhr von Vorproduktion. Gehen also die Exportmengen aufgrund von Preissteigerungen zurück, sinkt zugleich die Nachfrage nach importierten Vorprodukten, die für die Produktion der Exportwaren benötigt wird. Dies dämpft den Anstieg der Importmengen und reduziert damit den ausgleichenden Effekt höherer Lohn- und Preissteigerungen.
Wie wirken sich Lohnerhöhungen auf die Handelsbilanz aus?
Welche der teilweise gegenläufigen Effekte höherer Löhne am Ende überwiegen, und was dann als Impuls auf den Leistungsbilanzsaldo übrigbleibt, kann nur mit Hilfe eines makroökonometrischen Modells beantwortet werden. Hierzu wurde das IMK–Konjunkturmodell verwendet, dessen Verhaltensgleichungen auf keynesianischen Modellannahmen beruhen. Die mittels ökonometrischer Verfahren geschätzten Parameter spiegeln die Empirie der jüngeren Vergangenheit im Rahmen dieses Modells wieder. Die Überlegungen konzentrieren sich dabei auf Impulse für die Handelsbilanz, die in der Vergangenheit ja vor allem die Dynamik der Leistungsbilanz bestimmt hat.
Was hätten in diesem Modellrahmen nun maßvoll stärkere Lohnerhöhungen für den Ausgleich der Handelsbilanz gebracht? Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse unserer Berechnungen für verschiedene Szenarien:
In einer ersten, kontrafaktischen Simulation wurde unterstellt, dass die nominalen Bruttolöhne (pro Kopf) im Simulationszeitraum immer um 1% über dem tatsächlichen Lohnniveau gelegen hätten (Szenario 1 und 2). Ergebnis: Die Wirkung der höheren Lohnzuwächse auf die Handelsbilanz ist insgesamt nahezu vernachlässigbar. Im günstigsten Fall (Szenario 1), wenn PTM gilt und damit die Importausgaben etwas kräftiger steigen, reduziert sich der Leistungsbilanzüberschuss um 0,5% – das ist zu wenig, um eine gewichtige Koordinationsfunktion übernehmen zu können. Marginal stärkere Lohnsteigerungen allein beseitigen die Ungleichgewichte also nicht.
Nun könnte man nicht zu Unrecht anführen, das eine 1%ige Lohnerhöhung noch nicht jenen Kriterien entspricht, denen eine an gesamtwirtschaftlicher Stabilität orientierte Lohnbildung genügen sollte. Demnach müssten die Nominallohnzuwächse der trendmäßigen Zunahme der Produktivität plus dem Wert für das Inflationsziel der EZB folgen. Dann würden die Lohnstückkosten im Trend genau mit jener Rate zunehmen, die der von der EZB angestrebten Inflationsrate entspricht. Die Löhne würden dann weder die Inflation über das als stabil angesehene Maß hinaus beschleunigen, noch würden sie die Preisentwicklung deflationsträchtig dämpfen. Hielten sich alle lohnbildenden Institutionen in den Mitgliedsländern des Euroraums an diese Regel, kämen von der Lohnseite keine realen Auf- oder Abwertungsimpulse, die auf Dauer die Leistungsbilanzen destabilisieren.
Für die deutsche Volkswirtschaft heißt dies, dass die nominalen Bruttolöhne (pro Kopf) im Simulationszeitraum jedes Jahr um 2,65% hätten zunehmen müssen. Erst in jüngster Vergangenheit wurde dieser Wert erreicht. Zuvor lagen die Lohnzuwächse teilweise deutlich darunter. In der Summe ergibt sich am Ende des Simulationszeitraums ein Lohnniveau, das um knapp 15% über dem tatsächlichen liegt.
In den Szenarien 3 und 4 wurde nun unterstellt, die Löhne wären einem solchen, gesamtwirtschaftlich stabilitätsgerechten Pfad gefolgt. In Szenario 3 wird des Weiteren angenommen, dass es keine Reaktion seitens der Politik auf diesen doch deutlich erhöhten Pfad der Lohnzuwächse gibt. Das gilt für die Geldpolitik, für die ja in der Tat bei dieser Lohnentwicklung keine Gefährdung der Preisstabilität entstehen dürfte. Es gilt aber auch für die Fiskalpolitik, die auf die Budgetwirkungen des simulierten Lohnpfades nicht mit diskretionären Maßnahmen reagiert, sondern ihrem üblichen Ausgabenverhalten folgt.
Im Ergebnis zeigt sich ein größerer Einfluss der Lohndynamik auf die Handelsbilanz: Der Leistungsbilanzüberschuss wäre am Ende des Simulationszeitraums um 6,4% niedriger. Dieser Effekt beruht im Wesentlichen auf einem gestiegenen Importwert. Bemerkenswert ist, dass in diesem Szenario auch der Exportwert steigt, wenn auch deutlich schwächer als der Importwert. Zwar gehen die realen Exporte als Folge der höheren Preise zurück – bei einer Nachfrageelastizität von kleiner als Eins gleichen die höheren Preise jedoch den Mengenverlust mehr als aus. Das Ziel, die Ungleichheit zu überwinden, würde somit nicht erreicht. Die höheren Löhne führen allerdings zu einer aus Sicht der Beschäftigten besseren Verteilung der Wertschöpfung.
Ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Simulation ist, dass sich markante Überschüsse in den öffentlichen Haushalten ergeben. Dies ist das Resultat deutlicher Einnahmesteigerungen, die sich mit dem erhöhten Lohnpfad ergeben: Denn höhere Einkommen lassen sowohl Steuereinnahmen als auch Sozialabgaben steigen. Obwohl in der Simulation unterstellt wurde, dass der Staat seinem üblichen Ausgabenverhalten folgt, stehen am Ende des Simulationszeitraums beträchtliche Budgetüberschüsse zu Buche. Der Finanzierungssaldo des Staates liegt trotz üblicher Ausgabensteigerungen, die sich bei der verbesserten Einnahmesituation z.B. in Gestalt höherer Renten ergeben, um knapp 18% über dem tatsächlichen Wert.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich ein fiskalisches Verstärkungspotenzial für einen Ausgleich der Handelsbilanz: Mit einer zweiten Simulation wurde untersucht, wie sich Handels- und Leistungsbilanzsalden entwickeln würden, wenn der Staat die zusätzlichen Einnahmen durch die besser laufenden Löhne zur Finanzierung höherer Staatsausgaben verwendet hätte. Dabei wurde unterstellt, dass der Staat sein Ausgabenverhalten so ändert, dass der Budgetsaldo in etwa dem tatsächlichen Budgetsaldo entspricht und die die Maßnahmen somit budgetneutral sind. Die Fiskalpolitik setzt die Überschüsse, die sich aus dem verstärkten Lohnanstieg ergeben, ein, um durch entsprechend erhöhte Ausgaben den Handelsbilanzausgleich zu forcieren.
In diesem Szenario gelingt denn auch eine größere Rückführung des Leistungsbilanzüberschusses, und zwar in Höhe von 14% im Vergleich zur tatsächlichen Entwicklung – der Effekt gegenüber einer primär lohngetriebenen Anpassung wird also mehr als verdoppelt. Aber auch dieser stärkere Effekt reicht noch nicht aus, den Leistungsbilanzüberschuss auf die EU-Höchstgrenze von 6% des BIP zu verringern – dazu müsste der Überschuss um 20 bis 30% sinken.
Fazit: Die Mischung aus Lohn- und Fiskalpolitik macht´s
Die Untersuchungsergebnisse machen deutlich, dass die erfolgsversprechendsten Maßnahmen zur Reduzierung der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse aus der Kombination von Lohn- und Fiskalpolitik bestehen. Beide Politiken ergänzen sich im Hinblick auf die deutsche Leistungsbilanz ideal.
Die expansive Lohnpolitik schafft die Voraussetzung für einen binnenwirtschaftlichen Aufschwung in einer Wirtschaft, deren Leistungsbilanzüberschüsse einen strukturellen Mangel an Binnennachfrage anzeigen. Diesen Mangel vermögen stärker steigende Löhne durch ihre positive Einkommenswirkung markant zu vermindern. Die expansive Lohnentwicklung entfaltet aber nur eine geringe Wirkung auf die Leistungsbilanz selbst. Das liegt an den Preiseffekten, die unter realistischen Annahmen auch die Exporterlöse steigen lassen. Es liegt auch an der engen weltwirtschaftlichen Verflechtung Deutschlands, die zumindest teilweise zu synchronen Export- und Importreaktionen führt.
Die Fiskalpolitik wiederum könnte vor dem Hintergrund der Schuldenbremse und anderer politischer Hemmnisse ohne Unterstützung durch die Lohnpolitik nur schwerlich den notwendigen kräftigen binnenwirtschaftlichen Aufschwung initiieren. Dafür entfaltet sie aber eine starke Wirkung auf die Handelsbilanz, da sie bei minimalen Preiswirkungen nicht zu einem Rückgang der realen Exporte führt, sondern ungebremst die Importe erhöht. Damit ist sie das Mittel der Wahl, um die deutsche Leistungsbilanz wieder in Richtung eines tragfähigen Gleichgewichts zu führen.
Zum Autor:
Gustav A. Horn ist wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.
Hinweise:
Den in diesem Text vorgestellten IMK-Report „Zur Rolle der Nominallöhne für die Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse“ finden Sie hier.
Weitere Fakten und Argumentationslinien zu diesem Thema können Sie auch in unserem Projekt „Die Anatomie des deutschen Außenhandels“ nachlesen.