(A)soziale Marktwirtschaft?

Darum wird in diesem Wahlkampf jede Standortdebatte spurlos versickern

Die Ausschöpfung des Verteilungsspielraums zwischen Kapital und Arbeit war ein prägender Grundkonsens der alten Bundesrepublik – bis er 1996 zugunsten der Unternehmensseite aufgegeben wurde. Und inzwischen ist auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen, wie es der Kapitalseite in Deutschland tatsächlich geht: nämlich rosig.

Am Mittwoch lieferte sich Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, mit der WSI-Forscherin Anke Hassel auf Twitter eine kleine Debatte zur Agenda 2010 und dem deutschen Niedriglohnsektor. Hüther behauptete unter anderem, dass der Anteil der niedrig bezahlten Jobs in Deutschland bereits zwischen 1997 und 2005 – also noch vor Schröders Agenda-Politik – gestiegen ist. Damit hat Hüther Recht – und erinnert uns so (wenn auch wohl eher unfreiwillig) an eine Entwicklung, die wie vielleicht keine andere die deutsche Wirtschaftspolitik in den letzten Jahrzehnten geprägt hat.

Um das zu demonstrieren, habe ich eine alte Grafik herausgekramt und aktualisiert, die ich ursprünglich im Jahr 2013 erstellt hatte. Die Grafik zeigt den Zusammenhang, den viele für die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit noch immer als fundmental erachten: Wenn die Arbeitnehmer entsprechend der Entwicklung der Arbeitsproduktivität entlohnt werden und dazu noch einen Inflationsausgleich bekommen, sei der Verteilungsspielraum zwischen Kapital und Arbeit ausgeschöpft – alle Seiten partizipieren gleichmäßig am wachsenden Wohlstand. (Wobei allerdings ausgeblendet wird, dass auf der Kapitalseite weniger Menschen Einkommen beziehen als auf der Seite der Arbeit. Aber egal.)

 

Genau dieser gesellschaftliche Konsens gilt seit 1996 nicht mehr. Damals versuchte Helmut Kohl ein „Bündnis für Arbeit“ zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu schmieden, das allerdings scheiterte. Nichtsdestotrotz wichen die Tarifparteien seitdem vom Konsens ab, der die alte Bundesrepublik so lange geprägt hatte.

Wie auch immer, heute wissen wir natürlich, dass kräftige Lohnforderungen, die z.B. einen zeitweiligen Anstieg der Ölpreise kompensieren sollen, in einer inflationären Lohn-Preis-Spirale wie in den 1970ern enden können. Deshalb orientieren sich die Tarifparteien heute eher am Preisziel einer Notenbank, im Euroraum also an einem Anstieg von etwas weniger als 2% pro Jahr. Die einen verlangen natürlich weiterhin eine Beteiligung am Produktivitätsfortschritt, von der Arbeitgeberseite und konservativen Wirtschaftspolitikern wird dies oft mit Verweis auf die angeblichen Risiken für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts D abgelehnt.

Klar ist, dass private Unternehmen in der Marktwirtschaft danach trachten, ihre Profitsumme zu steigern. Denn wer beständig investiert, braucht nicht nur im Verhältnis zu den Arbeitnehmern mindestens den gleichen Anteil, sondern er muss den Gewinn auch im Verhältnis zum investierten Kapital steigern. Daher kommt es, dass die Arbeitgeberseite den Konsens („Soziale Marktwirtschaft“) der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft so leichtfertig aufgegeben hat.

Auch vor 1996 war es den Unternehmen immer möglich, die aus ihrer Sicht übertriebenen Lohnsteigerungen der Arbeitnehmer auszugleichen

Wie wir im folgenden Chart sehen, war es den Unternehmen vor 1996 jedoch immer möglich, die aus ihrer Sicht übertriebenen Lohnsteigerungen der Arbeitnehmer auszugleichen. Seit Mitte der 1990er Jahre befinden sich die Arbeitgeber aber auf der Seite, die einen größeren Anteil für sich aus dem Produktionsprozess herauszieht – und zwar permanent. Dummerweise lässt sich so eine dauerhafte Lücke nur sehr schwer wieder über Lohnverhandlungen schließen, auch wenn einige linke Keynesianer davon nichts wissen wollen.

 

Oft wird der Cashflow aber gar nicht real investiert, sondern wandert an die internationalen Finanzmärkte. Damit steigerte er die Nettoauslandsersparnis, der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands erreichte enorme Dimensionen von mehr als 8% des BIP. Das nehmen in Deutschland aber viele gerne in Kauf, weil es erstens die Auslandsnachfrage nach den ohnehin schon hochwertigen deutschen Exportgütern (auf Pump) mit finanziert und zweitens die Profitabilität hochhält bzw. steigert – auch wenn die Einkommensungleichheit und das Verarmungsrisiko in Deutschland dabei beständig steigt. Genau dieses Geschäftsmodell hat vor allem die Arbeitslosigkeit in Deutschland so stark sinken lassen – wobei wir aber befürchten müssen, dass dies nicht mehr lange trägt.

Ein vermeintliches Dilemma

Nun könnte man meinen, es gäbe in Deutschland ein Dilemma: Entweder mehr Gleichheit der Einkommen, weniger Druck auf die wenig bis gar nichts Verdienenden – oder der Standort verliert an Attraktivität. Dieser Zwiespalt mag vielleicht bis 2005 eine gewisse Rolle gespielt haben. Gleichwohl kann niemand stichhaltig beweisen, dass deswegen tatsächlich die rabiaten Einschnitte ins Sozialsystem durch die Hartz-Reformen notwendig waren. Wie wir sehen, haben die Unternehmen selbst den Einbruch im Zuge der Finanzkrise noch recht gut verkraftet – wenn man mal davon absieht, dass die Deutschen 600 Milliarden Euro an Nettofinanzvermögen verloren und jeden Traum einer kapitalgedeckten Altersvorsorge in Deutschland damit vernichtet haben.

Man mag nun streiten, ob die neuen Vorschläge der SPD in die richtige Richtung gehen, die Lebensbedingungen der Ärmsten in diesem Land zu verbessern. Oder welche Arbeitsmarktreformen tatsächlich den Unternehmen geholfen haben, ihre Produktivität zu steigern (das heißt: in der selben Zeit mehr zu produzieren und zu verkaufen als vorher).

Wenn die Arbeitgeber über ihre Lobbyverbände jetzt aber wieder eine Standortdebatte lostreten wollen, werden sie sehr schnell merken, dass sie diesmal nicht weit damit kommen. Denn sowohl die Arbeitnehmer als auch die breite Öffentlichkeit wissen nur zu gut, wie es der Kapitalseite in Deutschland tatsächlich geht: nämlich rosig. Das gilt auch im Vergleich mit dem Rest des Eurolands oder den Vereinigten Staaten.

Jede Lohnstagnation oder -drückerei ist immer nur das Rezept des Zurückgebliebenen, der in der Vergangenheit zu viel versäumt hat

Was aber die nächste Rezession angeht (wir wissen immer noch nicht, wann sie kommt) oder den hoffentlich darauffolgenden Aufschwung, gilt umso mehr: Kapital- und Arbeitseinkommen können nur dann wachsen, wenn die Produktivität zunimmt – gerade auch durch öffentliche Investitionen. Jede Lohnstagnation oder -drückerei ist immer nur das Rezept des Zurückgebliebenen, der in der Vergangenheit zu viel versäumt hat – manchmal auch als Nebenwirkung von Ereignissen wie der deutschen Einheit. Noch aber hat sich dieses Land von den Notoperationen wie zwischen 1996 bis 2005 nicht wirklich erholt – auch wenn es heute nicht wenigen besser geht als damals.

 

Zum Autor:

André Kühnlenz ist Redakteur bei der Finanz und Wirtschaft. Außerdem bloggt er auf weitwinkelsubjektiv.com, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist. Auf Twitter: @KeineWunder.