Trade´s Anatomy

Welche Symptome hat der deutsche Handelspatient – und was für Medizin braucht er?

Wir haben unsere „Anatomie des deutschen Außenhandels“ erneut aktualisiert. Hinzu gekommen sind unter anderem Zahlen zur Offenheit der deutschen Wirtschaft und Debattenbeiträge zu den Ursachen der deutschen Überschüsse sowie Ideen, wie diese abgebaut werden könnten.

In unserer „Anatomie des deutschen Außenhandels“ tragen wir verschiedene Fakten und Debatten rund um den deutschen Außenhandel zusammen. In den letzten Tagen haben wir das Projekt ein weiteres Mal aktualisiert.

In dem neuesten Update nähern wir uns unter anderem der Frage an, welche Bedeutung der Außenhandel eigentlich für die deutsche Volkswirtschaft hat. Dieser „Bedeutungs“-Begriff ist natürlich sehr schwammig, weshalb wir ihn zunächst in zwei Unterfragen aufgespalten haben: Der erste Punkt beschäftigt sich mit der Frage, wie „offen“ die deutsche Volkswirtschaft im Vergleich mit anderen Ländern ist. Im zweiten Frageblock schauen wir uns an, welchen Anteil der Außenhandel am deutschen BIP hat.

Wie „offen“ ist Deutschland?

Wenn man über die „Offenheit“ einer Volkswirtschaft spricht, meint man in der Regel, wie stark ein Land in die internationalen Handelsverflechtungen eingebunden ist. „Offene“ Volkswirtschaften sind stark in den Welthandel eingebunden, während „geschlossene“ Volkswirtschaften in Relation zu ihrer Wirtschaftsleistung weniger exportieren und importieren.

Der einfachste statistische Indikator, mit dem man die Offenheit einer Volkswirtschaft messen kann, ist die Außenhandelsquote. Diese berechnet die Summe des Warenexports und Warenimports als Anteil des Bruttoinlandsprodukt eines Landes.

Im Jahr 2016 exportierte und importierte Deutschland Waren im Gesamtwert von 2,162 Milliarden Euro. Dabei machten Exporte gut 1,2 Billionen Euro oder 38,60% des BIP aus; Importe schlugen mit 955 Milliarden Euro oder 30,53% zu Buche. Somit betrug die Außenhandelsquote 69,12%, also mehr als zwei Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung des Jahres. Laut unseren approximativen Hochrechnungen (Rundungsfehler inbegriffen) lag die Außenhandelsquote in den letzten Jahren immer knapp unter dem Spitzenwert von 72,75% aus dem Jahr 2011.

Quellen: Destatis, eigene Berechnungen

Auffällig ist auch, dass die deutsche Außenhandelsquote im Zuge der Einführung des Euro als Buchgeld (also ab 1999) deutlich angezogen hat: In den neun Jahren nach der Wiedervereinigung betrug die durchschnittliche Außenhandelsquote etwa 42% des BIP. Seit der Einführung der Gemeinschaftswährung lag diese durchschnittlich bei 65%. Nach der Großen Rezession von 2008/09 liegt sie relativ konstant bei etwa 70% des BIP.

In den obigen Berechnungen haben wir allerdings nur den Export von Waren berücksichtigt. Bezieht man auch den Handel mit Dienstleistungen ein, dann lag die deutsche Außenhandelsquote laut OECD-Daten im Jahr 2016 etwa bei 84% der jährlichen Wirtschaftsleistung. Deutsche Unternehmen exportierten Dienstleistungen im Wert von 7,4% des BIP, die Importquote lag bei 7,9%. Im Gegensatz zum Warenhandel ist die deutsche Dienstleistungsbilanz chronisch defizitär – es werden jedes Jahr also mehr Dienstleistungen importiert als exportiert, was hauptsächlich auf die Reiselust der Deutschen zurückzuführen ist.

Egal ob unter Berücksichtigung der Dienstleistungen oder ohne – gemessen an der Außenhandelsquote ist Deutschland im Vergleich zu anderen größeren Volkswirtschaften sehr stark in die internationalen Handelsverflechtungen eingebunden, wie der folgende Chart zeigt:

*Quoten für 2015. ** Quoten für 2014. Quellen: IWF, OECD, eigene Berechnungen

An dieser Stelle möchten wir betonen, dass es keinen unmittelbar nachweisbaren Zusammenhang zwischen der handelspolitischen „Offenheit“ eines Landes und dessen Wohlstandsniveau gibt. Mehr „Offenheit“ bedeutet also nicht automatisch mehr Wohlstand. Setzt man die Außenhandelsquote (gemessen an Waren-Quoten) ins Verhältnis zum pro-Kopf Einkommen einer Volkswirtschaft, zeigt sich, dass ein linearer Zusammenhang zwischen „offen“ und „wohlhabend“ zumindest im Ländervergleich nicht eindeutig herzustellen ist.

Wie steht der Außenbeitrag im Verhältnis zur übrigen Verwendung der inländischen Wertschöpfung?

Die Verwendungsrechnung gibt Auskunft darüber, wie die inländische Wertschöpfung von den Wirtschaftssubjekten (hier privat und öffentlich zusammen) verwendet wird. Dabei unterteilt man die Verwendung des Bruttoinlandsproduktes in drei grobe Kategorien: 1) Konsumausgaben (unterteilt in Haushalte, Unternehmen und öffentlich Hand) 2) Investitionsausgaben (unterteilt in Haushalte, Unternehmen und öffentliche Hand) 3) Die Nettonachfrage des Auslands nach inländischen Gütern (privat und öffentlich). Also setzt sich gemäß der Verwendungsrechnung das BIP eines Landes wie folgt zusammen:

BIP = Konsumausgaben + Investitionen + Außenbeitrag (Exporte – Importe)

Der deutsche Außenhandelsüberschuss bzw. Außenbeitrag, also die Differenz zwischen Exporten und Importen, betrug im Jahre 2016 etwa 252 Milliarden Euro. Das entspricht knapp 8% der gesamten Wirtschaftsleistung. Einen deutlich höheren Anteil am BIP haben die Konsumausgaben mit durchschnittlich über 70% und Investitionen mit rund 20% des BIP.

Quellen: Destatis, eigene Berechnungen

Eine weitere Möglichkeit, die Bedeutung des Außenhandels für die deutsche Volkswirtschaft zu ermitteln ist, den Beitrag zur Wachstumsrate zu betrachten. Die Wachstumsbeiträge der drei Komponenten der Verwendungsrechnung geben an, wie viel Prozentpunkte des realen BIP-Wachstums eines Jahres auf die Veränderungen bei Konsum, Investitionen oder dem Außenbeitrag zurückzuführen sind. Hier zeigt sich, dass der Außenbeitrag insbesondere in den Jahren zu Beginn des neuen Jahrtausends im Vergleich zu Konsum und Investitionen relativ viel zum Wachstum des deutschen BIP beitrug. Seit der Finanzkrise hat sich dies jedoch geändert: In den letzten Jahren waren die (staatlichen und privaten) Konsumausgaben der stärkste Wachstumstreiber.

Quelle: Destatis

Allerdings gilt es Folgendes zu beachten: Ein negativer Außenbeitrag, bzw. ein Importüberschuss erweckt den Eindruck, dass Einfuhren aus dem Ausland die heimische Wertschöpfung verringern und somit an der Wachstumsrate der Volkswirtschaft zehren würden. Bei dieser Schlussfolgerung handelt es sich allerdings um einen Trugschluss, da Importe bereits in den Konsumausgaben oder den Investitionsausgaben miteinbezogen sind und deshalb abgezogen werden, damit sie nicht fälschlicherweise zum Konsum- bzw. den Investitionsausgaben für die inländische Produktion hinzugerechnet werden.

Debatten: Yin und Yang

Neben diesen Ergänzungen bei den „Key Facts“ haben wir auch die Übersicht der Debatten zum Außenhandel erweitert. Hinzugekommen ist etwa die Analogie des Yin und Yang, mit der die Ökonomen Jens Südekum und Gabriel Felbermayr kürzlich die Bedeutung von Leistungsbilanz und Kapitalbilanz erläutert haben: Das „Yin“ der Leistungsbilanz sind dabei die Überschüsse, die Deutschland im Waren- und Dienstleistungshandel erzielt. Das sind 261 Milliarden Euro. Das „Yang“ der Leistungsbilanz (das wir in der Kapitalbilanz finden) ist wiederum die Finanzierungsseite: Hiernach hat die deutsche Volkswirtschaft 2016 261 Milliarden Euro weniger ausgegeben als, als sie wertmäßig hergestellt, also eingenommen hat. “Dieses Geld ist natürlich nicht einfach weg. Es wurde gespart und im Ausland angelegt”, so Südekum und Felbermayr.

Anhand dieser Analogie wird deutlich, dass man das deutsche Außenhandelsungleichgewicht nicht nur aus der Perspektive einer der beiden Teilbilanzen der Zahlungsbilanz betrachten sollte. Es kommt eben darauf an, von welcher Seite man die Zahlungsbilanz anschaut – eine unausgeglichene Leistungsbilanz bedeutet zugleich auch eine unausgeglichene Kapitalbilanz: Dort wo mehr exportiert als importiert wird, wird eben zugleich auch mehr gespart als ausgegeben.

Diese Erkenntnis ist unserer Auffassung nach für die Diskussion um den deutschen Außenhandel von besonderer Bedeutung, da sie die Spar- und Investitionsentscheidung der deutschen Haushalte, Unternehmen sowie des deutschen Staates in den Vordergrund rückt. Denn Ersparnisse, die in Deutschland nicht investiert werden, suchen schließlich im Ausland nach gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten, entweder in der Form von klassischen Auslandsinvestitionen, ganz „normalen“ Kredite an ausländische Wirtschaftssubjekte oder als sonstige Formen der Vermögensbildung.

Verlierer Deutschland?

Dass diese Investitionen den deutschen Kapitalexporteuren nicht zwangsläufig zum Vorteil gereichen, zeigen Berechnungen von Fabian Fritzsche, Analyst beim Vermögensverwalter Collineo. Demnach hat Deutschland laut Fritzsche bis Ende 2016 Leistungsbilanzüberschüsse von kumuliert knapp 2,4 Billionen Euro angehäuft. Allerdings betrug das kumulative Nettoauslandsvermögen bis zum 3. Quartal 2016 aber lediglich 1,59 Billionen Euro. Die negative Differenz von 744 Milliarden Euro ist laut Fritzsche der Betrag, für den Güter und Dienstleistungen ins Ausland exportiert wurden, denen nun aber keine Forderungen mehr gegenüberstehen. „Diese Produktion wurde also letztlich verschenkt. Unter Berücksichtigung dieser Zahlen sehen vermeintliche Gewinner und Verlierer von Leistungsbilanzüberschüssen bzw. -defiziten auf einmal ganz anders aus. Demnach gehört Deutschland zu den großen Verlierern und zwar nicht trotz, sondern wegen der gigantischen Überschüsse der letzten Jahre“, so Fritzsche.

Quelle: Berechnungen von Fabian Fritsche auf Basis von Bundesbank-Daten

Wie können die Überschüsse abgebaut werden?

Mit unserer Debattenübersicht verfolgen wir die Absicht, eine Vielzahl der ökonomischen Meinungen zum Außenhandelsüberschuss gegenüberzustellen. Letztlich soll die rein deskriptive Beschreibung der Außenhandelsdaten lediglich als Fundament dienen, um eine solide Antwort auf folgende Frage zu finden: Ist der außergewöhnliche Außenhandelsüberschuss der deutschen Volkswirtschaft problematisch?

Bei der Bewertung des Außenhandelsungleichgewichts zeigt nicht nur der Debatten-Beitrag von Fabian Fritzsche, dass auch in Deutschland viele (oder vielleicht sogar die meisten) Ökonomen die deutschen Leistungsbilanz- und Exportüberschüsse für zu hoch befinden und dementsprechend für einen Abbau der Exportüberschüsse eintreten – woran sich die Frage anknüpft, wie das am ehesten gelingen kann.

Zu eben diesem Thema hat das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) im April eine Studie veröffentlicht. In einer im Makronom erschienenen Zusammenfassung der Ergebnisse argumentiert IMK-Direktor Gustav Horn, dass die Lohnpolitik allein wohl kaum in der Lage wäre, die deutschen Handelsüberschüsse dauerhaft zu senken. Vielmehr müsste auch die Fiskalpolitik unterstützend eingreifen. Horns Argumentation haben wie der Debattenrubrik ebenfalls hinzugefügt.

Gründe für die Überschüsse: Verschiebung von Arbeit zu Kapital

Die Positionierung in der Debatte um den Abbau der Überschüsse hängt naturgemäß sehr stark davon ab, welche Ursachen man für das Entstehen der Überschüsse verantwortlich macht. Auch zu diesem Punkt haben wir Ergänzungen vorgenommen.

So lautet ein immer wiederkehrendes Argument, dass die Überschüsse auch auf die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland erfolgte gesamtgesellschaftliche Gewichtsverschiebung von Arbeit zu Kapital – also die Abnahme der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen – zurückführen sind. Die dadurch etwas unterkühlte inländische Nachfrage hat nicht nur zur Folge, dass wenig aus dem Ausland importiert wird, sondern auch, dass zu wenig nicht-handelbare Güter in Deutschland nachgefragt werden – mit negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und das Preisniveau.

Die Verschiebung von Arbeit zu Kapital könnte also auch damit zusammenhängen, dass in Deutschland verhältnismäßig wenig investiert wird. Denn, wie ein Ende April erschienenes Papier des Thinktank Bruegel argumentiert, zeigt ein Blick auf Frankreich oder Italien, dass in den Ländern, in denen das Arbeitseinkommen als Anteil am Volkseinkommen in den letzten Jahren nicht abgenommen, sondern leicht zugenommen hat, auch eine Vertiefung der Kapitalintensität, also der Investitionen, zu beobachten ist. Diese wiederum könnte direkt mit den steigenden Lohnstückkosten zusammenhängen.

Die entscheidende Frage wäre in diesem Zusammenhang also: sind Kapital und Arbeit Komplemente oder Substitute? Oder einfacher gesagt: ersetzen neue Investitionen die menschliche Arbeitskraft (Stichwort Roboter) oder steigern sie vielmehr die Nachfrage nach menschlicher Arbeit?

Es gibt Indizien, die daraufhin deuten, dass mehr Investitionen zu einer höheren Produktivität und somit wiederum zu höheren Arbeitnehmerentgelten führen, ohne gleichzeitig einen Stellenabbau zu verursachen – also mehr Kapital unterm Strich auch der Arbeit in unserer Gesellschaft zu Gute kommt. Höhere Investitionen würden einerseits das Ungleichgewicht zwischen Sparen und Investieren abbauen und andererseits (siehe oben) über die höheren Arbeitnehmerentgelte und höheren Steuern zu einer höheren Gesamtnachfrage der Haushalte und des Staates führen.

Linkliste

Eine weitere Neuerung ist die „Linkliste“, die eine Übersicht von Datenquellen und Texten beinhaltet, die wir für unser Projekt hilfreich fanden. Die Linkliste finden Sie auf der Projektseite im Reiter „Mehr“, wo auch die methodischen Erläuterungen eingegliedert wurden. Alle Änderungen können Sie wie gewohnt auch auf der Projektseite im Changelog nachlesen.