Die politischen Debatten um eine Reform der Hartz IV-Reform sind naturgemäß sehr stark von Bewertungen darüber geprägt, ob und wie die ursprüngliche Reform die Entwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt in den letzten Jahren beeinflusst hat. Dabei treffen in der öffentlichen Debatte zwei scheinbar unversöhnliche Lager aufeinander: Für die einen ist Hartz IV der Zaubertrank, der den kranken Mann Europas in das deutsche Arbeitsmarktwunder verwandelt hat. Jeder Versuch einer Reform der Reform wird vehement abgelehnt, weil er Deutschland ins Unglück stürzen würde. Für die andere Seite ist die Hartz IV-Reform Teufelszeug, das nur Unheil gebracht hat – Hartz IV muss weg.
Man darf davon ausgehen, dass die Debatten um Hartz IV auch in Zukunft nicht abreißen werden. In diesem Beitrag will ich daher die relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenfassen, die es meiner Meinung nach in der politischen und fachlichen Auseinandersetzung zu berücksichtigen gilt.
Der zentrale Wirkmechanismus
Konkret hat die Hartz IV-Reform zu einer Absenkung der durchschnittlichen (Netto-)Lohnersatzleistung für langzeitarbeitslose Erwerbspersonen geführt und die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Erwerbstätige gekürzt, die viele Jahre ihre Beiträge gezahlt haben.
Der Konsens in der Arbeitsmarktforschung ist, dass eine Absenkung des Arbeitslosengelds oder eine Verlängerung der Bezugsdauer aufgrund des veränderten Such- bzw. Bewerbungsverhaltens der arbeitslosen Erwerbspersonen die Arbeitslosigkeit senken kann. Beispielweise veröffentlichten Alan Krueger und Bruce Meyer 2002 einen Übersichtsartikel, der eine große Anzahl von empirischen mikroökonomischen Studien umfasste, die mittels Daten über arbeitssuchende Personen den Effekt des Arbeitslosengelds auf das Suchverhalten abschätzen. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass eine Kürzung des Arbeitslosengelds um ein Prozent die Chance eines Arbeitslosen, einen Job zu finden, auch um durchschnittlich ein Prozent steigert.
Mittlerweile gibt es aufgrund der US-amerikanischen Erfahrungen in der Großen Rezession verstärkt Stimmen, die einen Zusammenhang dieser Größenordnung zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit in Frage stellen (Rothstein, 2011). Doch ebenso gibt es neuere Studien zur Großen Rezession in den USA, deren Ergebnisse einen starken Zusammenhang bestätigen (David Card und Co-Autoren, 2015). Meine persönliche Einschätzung ist, dass die aktuelle Konsensmeinung von einer mikroökonomischen Elastizität von 0,5 ausgeht. Das bedeutet, dass eine 1%ige Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für alle Kurzzeitarbeitslosen zu einem Anstieg der Chance, einen Job zu finden, um 0,5% führt.
Mikroökonomische Untersuchungen sind in der Regel nicht gut geeignet, die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen einer Reform der Arbeitslosenversicherung zu evaluieren. Im Fall der Hartz IV-Reform kommt noch hinzu, dass die Möglichkeiten einer empirischen Analyse begrenzt sind, weil es keine wissenschaftlich verwertbaren Kontrollgruppen gibt – die Reform wurde in allen Bundesländern und (fast) allen Kommunen zeitgleich und (relativ) einheitlich eingeführt. Hier können Simulationsanalysen helfen, die auf Basis makroökonomischer Modelle der deutschen Volkswirtschaft durchgeführt werden.
In einer 2013 erschienenen Studie haben Martin Scheffel und ich diesen Simulationsansatz verwendet, um die Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf die strukturelle Arbeitslosigkeit zu untersuchen, die sich aufgrund der Veränderung des Suchverhaltens der arbeitslosen Erwerbspersonen ergeben. Der Modellrahmen berücksichtigt die Wechselwirkung zwischen Arbeits- und Kapitalmärkten sowie Gleichgewichtseffekte durch die endogene Anpassung der Löhne. Die Parameter des Modells sind so gesetzt, dass die implizierte Reaktion der Arbeitslosen auf eine Veränderung des Arbeitslosengelds im Einklang steht mit den empirisch geschätzten Werten der oben erwähnten mikroökonomischen Literatur. In dieser Studie sind wir zunächst zu dem Schluss gekommen, dass die Hartz IV-Reform zu einem erheblichen Rückgang der Arbeitslosenquote um mehr als einen Prozentpunkt geführt hat.
Eine weiterführende Analyse in einem erweiterten Modellrahmen mit verschiedenen Beschäftigungszuständen (Vollzeit, Teilzeit, Mini-Jobs) und einer großen Anzahl an Haushaltstypen hat jedoch gezeigt, dass der durch die Hartz IV-Reform verursachte Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit moderater ausfällt – je nach Modellspezifikation zwischen einem halben und einem Prozentpunkt. Eine ausführliche Beschreibung des erweiterten Modellrahmens hatten wir bereits 2016 veröffentlicht. Der Grund für die Abschwächung des Reform-Effekts ist, dass die Erwerbspersonen mit hoher Arbeitslosigkeit (Geringqualifizierte, Ostdeutsche) relativ wenig betroffen waren von den Leistungskürzungen im Rahmen der Hartz IV-Reform. Die zentrale Rolle der Heterogenität für die Evaluierung der Hartz IV-Reform wurde zuerst in einer 2013 erschienen Studie von Andrey Launov und Klaus Wälde herausgearbeitet.
Natürlich gibt es weitere Wirkungszusammenhänge zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit, die in unserer Studie nicht berücksichtigt werden und im Prinzip die Ergebnisse verändern könnten. Die wichtigsten dieser Wirkungskanäle und die entsprechende wissenschaftliche Literatur werde ich weiter unten diskutieren. In meiner kritischen Analyse der verfügbaren wissenschaftlichen Studien komme ich zu dem Schluss, dass diese zusätzlichen Wirkungskanäle hinsichtlich der Hartz IV-Reform eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
Die aktuelle Forschung unterstützt also die These, dass die Hartz IV-Reform die strukturelle Arbeitslosigkeit um höchstens einen Prozentpunt gesenkt hat. Damit hat die Hartz IV-Reform einen nicht unerheblichen Beitrag zum Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland geleistet, aber andere Faktoren waren ebenfalls wichtig. Beispielweise haben die Hartz I-III Reformen die strukturelle Arbeitslosigkeit reduziert (eine Zusammenfassung der diesbezüglichen Literatur haben Klinger et al. (2013) vorgenommen). Meine Einschätzung der vorliegenden Ergebnisse ist, dass die Hartz I-III Reformen die strukturelle Arbeitslosigkeit um bis zu zwei Prozentpunkte gesenkt haben. Wenn wir Nicht-Linearitäten und mögliche Reform-Komplementaritäten vernachlässigen, dann ergibt sich ein Gesamteffekt der Hartz-Reformen (Hartz I-IV) auf die strukturelle Arbeitslosigkeit von ca. drei Prozentpunkten. Zudem kann der Beitrag der außerordentlichen Lohnzurückhaltung in Deutschland, die bereits viele Jahre vor den Hartz-Reformen zu beobachten war, nicht vollständig vernachlässigt werden (Dustmann et al. 2014).
Zusatzliche Wirkmechanismen
Wie bereits erwähnt hat die wissenschaftliche Literatur weitere Wirkungszusammenhänge zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit analysiert, die in meiner mit Martin Scheffel durchgeführten Studie nicht berücksichtigt wurden. Im Wesentlichen sind es derer drei:
Zum Ersten reduziert eine Senkung des Arbeitslosengeldes das verfügbare Einkommen der Arbeitslosen und führt somit zu einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, was wiederum eine Reduktion der Arbeitsnachfrage und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verursacht. Dieser rein konjunkturelle Effekt ist nicht der Fokus des vorliegenden Beitrages, der sich mit einem Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit beschäftigt.
Zum Zweiten verschlechtert eine Senkung des Arbeitslosengelds oder eine Kürzung der Bezugsdauer die Verhandlungsposition der beschäftigten Arbeitnehmer und ihrer Vertreter (Gewerkschaften). Dies führt zu Lohnzurückhaltung und steigenden Unternehmensgewinnen, so dass die Unternehmen durch Neueinstellungen ihre Beschäftigung ausweiten und die Arbeitslosigkeit zurückgeht.
Der dritte Wirkmechanismus unterstreicht ebenfalls den Zusammenhang zwischen Arbeitslosengeld und der Verhandlungsmacht der beschäftigten Arbeitnehmer. Doch im Gegensatz zum zweiten Mechanismus liegt der Fokus in diesem Fall auf der Wahrscheinlichkeit, dass ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis aufgelöst wird. Konkret führt eine Senkung des Arbeitslosengeldes dazu, dass Arbeitnehmer größere Zugeständnisse bei Löhnen im Austausch für Arbeitsplatzsicherheit machen, was wiederum die Unternehmensgewinne steigert und so die Anzahl der Entlassungen reduziert.
Hartung et al. (2018) und Krause und Uhlig (2012)
In einer in 2012 erschienen Studie haben Michael Krause und Harald Uhlig den Beschäftigungseffekt der Hartz IV-Reform aufgrund des zweiten Wirkmechanismus untersucht. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass allein aufgrund dieses Wirkungskanals der Reform die Arbeitslosenquote in Deutschland langfristig um fast 3 Prozentpunkte gesunken ist – ein gewaltiger Rückgang. In einem kürzlich veröffentlichten Arbeitspapier haben Benjamin Hartung, Philip Jung und Moritz Kuhn den dritten Wirkungskanal in den Mittelpunkt ihrer Analyse der Hartz IV-Reform gestellt. Dabei kommen die Autoren kommen zu dem Schluss, dass aufgrund dieses Mechanismus die Hartz IV-Reform die nicht-zyklische Arbeitslosigkeit in Deutschland um ca. zwei Prozentpunkte gesenkt hat. Beide Untersuchungen nutzen Simulationsanalysen auf Basis eines Matching-Modells des deutschen Arbeitsmarkts.
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum die Analysen von Hartung et al. (2018) und Krause und Uhlig (2012) die Wirkung der Hartz IV-Reform auf die strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland stark überschätzen. Die folgenden sechs Gründe sind besonders erwähnenswert:
Mangel an unterstützender mikroökonomischer Evidenz: Zur Überprüfung der quantitativen Plausibilität des Wirkmechanismus ist es notwendig und in der Literatur auch üblich, empirische Mikrostudien heranzuziehen. Für die Studie von Hartung et al. (2018) gibt es derzeit nur ein Arbeitspapier, das die Existenz des von den Autoren thematisierten Wirkungskanal in Österreich zu bestätigen scheint (Jaeger et al., 2019). Im Hinblick auf den von Krause und Uhlig (2012) untersuchten Wirkmechanismus hat eine empirische Studie von Hagedorn et al. (2016) in Wissenschaftskreisen für viel Wirbel gesorgt, doch es bestehen berechtigte Zweifel an der Gültigkeit der Ergebnisse (siehe die Diskussion in Chodorow-Reich et al., 2019).
Die derzeit vorliegende Evidenz für die zwei Wirkmechanismen ist also recht dünn im Vergleich zu den hunderten von empirischen Studien, die mit Hilfe von Personendaten den Zusammenhang zwischen Arbeitslosengeld und Suchverhalten der arbeitslosen Erwerbspersonen untersucht haben – die Grundlage des in Krebs und Scheffel (2013) und Launov und Wälde (2013) besprochenen Wirkungskanals.
Widersprechende mikroökonomische Evidenz: Ein wesentlicher Baustein des zugrundeliegenden Matching-Modells ist die Verhandlung zwischen Arbeitgeber und Arbeitsnehmer über den aufzuteilenden Mehrwert (Überschuss) eines besetzten Arbeitsplatzes (Match). Hartung et al. (2018) und Krause und Uhlig (2012) verwenden die sogenannte Nash-Lösung bei ihrer Modellierung dieses Verhandlungsprozesses, und die Ergebnisse ihrer Modellsimulationen hängen sehr stark von dieser Annahme ab.
Dieser Ansatz ist nicht unüblich in der Literatur, wurde jedoch schon vor über zehn Jahren von Robert Hall und Paul Milgrom kritisiert und durch einen alternativen Ansatz ersetzt, der die beobachtete Lohndynamik wesentlich besser erklärt. Zudem zeigt eine aktuelle empirische Studie von Jaeger et al. (2018), dass die Annahme der Nash-Lösung im Kontext der Lohnverhandlungen von Arbeitgebern und Arbeitsnehmern im krassen Widerspruch zur Realität steht.
Widersprechende makroökonomische Evidenz: In dem von beiden Studien verwendeten Matching-Modell spielt die Differenz zwischen Arbeitsproduktivität und Arbeitslosengeld – der sogenannte Überschuss/Mehrwert eines Matches – eine entscheidende Rolle. Dieser Überschuss ist vor der Hartz IV-Reform im Zeitraum 1990 – 2004 aufgrund der bekannten Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Erosion der Tarifbindung um ca. 30% gestiegen. Eine solche Veränderung des Überschusses ist mehr als 20 Mal größer als die durch die Hartz IV-Reform verursachte Veränderung des Überschusses. Laut der Studien von Hartung et al (2018) und Krause und Uhlig (2012) hätte die strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland alleine aufgrund dieser Entwicklung auf ca. Null fallen müssen. Warum das nicht passiert ist, wird in den Studien nicht erklärt. Und selbst wenn es innerhalb des verwendeten Modellrahmens eine Erklärung geben sollte, wäre die Wirtschaftspolitik gut beraten, sich nicht auf Empfehlungen zu verlassen, die auf Modellen mit eher abwegigen Implikationen beruhen.
Fehlende Heterogenität: Die in beiden Studien verwendeten Modellrahmen vernachlässigen wichtige Dimensionen der Heterogenität von Erwerbspersonen. Zum Beispiel werden Unterschiede im Bildungsgrad und Alter nicht berücksichtigt und es wird keine Unterscheidung zwischen West- und Ostdeutschland getroffen. Insbesondere für den von Hartung et al. (2018) untersuchten Wirkungskanal führt dies dazu, dass die Simulationen den wahren Effekt der Hartz IV-Reform überschätzen.
Beispielsweise zeigen die Daten der Autoren, dass für ältere Arbeitnehmer der geschätzte Rückgang der Abgangsrate aus der Beschäftigung in die Arbeitslosigkeit wesentlich größer war als der Rückgang für alle anderen Altersgruppen. Die Autoren erklären den gesamten Rückgang der Abgangsrate für ältere Erwerbspersonen durch den beschriebenen Mechanismus, doch ein Großteil dieses Rückgangs geht sicherlich auf Frühverrentung und ähnliche Maßnahmen zurück. Und dies ist nur eines von mehreren Beispielen, wie fehlende Heterogenität in der Studie von Hartung et al (2018) die Wirkung der Hartz IV-Reform drastisch überschätzt.
Unrealistische Modellierung der Hartz IV-Reform: Beide Studien überschätzen den durchschnittlichen Effekt der Hartz IV-Reform auf die Transferleistungen für langzeitarbeitslose Erwerbspersonen in Deutschland. Konkret nehmen die Autoren an, dass die Hartz IV-Reform die durchschnittliche Lohnersatzleistung für langzeitarbeitslose Erwerbspersonen um ca. 25% gesenkt hat. Doch die Daten zeigen lediglich eine Reduktion von 19% (11 Prozentpunkte) für Langzeitarbeitslose, deren vorheriges Arbeitseinkommen dem durchschnittlichen Arbeitseinkommen entsprach, und 10% (6 Prozentpunkte) für Langzeitarbeitslose mit vorherigen Arbeitseinkommen von 67% des Durchschnitts. Diese unrealistische Modellierung der Hartz IV-Reform führt zu einer substanziellen Überschätzung der Wirkung der Reform – ein Fehler, der auch in der Studie von Hochmuth et al. (2019) thematisiert wird.
Fragwürdige empirische Ergebnisse: Das Papier von Hartung et al. (2018) enthält einen empirischen Teil zur Schätzung von Abgangsraten aus der Arbeitslosigkeit und Zugangsraten in die Arbeitslosigkeit. Die Zeitreihe der geschätzten Zugangsraten weist einen „Sprung“ im Jahr 2005 auf, der einen großen Teil des gesamten gemessenen Rückgangs der Zugangsrate in die Arbeitslosigkeit nach der Hartz IV-Reform ausmacht. Hartung et al. interpretieren diesen Sprung als das Ergebnis einer abrupten Verhaltensanpassung der betroffenen Erwerbspersonen in 2005, doch ebenso gut könnte ein „Messfehler“ vorliegen, der durch die mit der Hartz IV-Reform verbundene Neudefinition der Arbeitslosigkeit und dem entsprechenden Strukturbruch in den Daten verursacht wurde. Interessanterweise findet eine konkurrierende Studie von Carrillo-Tudela et al. (2018) diesen Sprung in der entsprechenden Stromgröße nicht. Ganz im Gegenteil zeigt die Studie von Carrillo-Tudela et a. (2018), dass die Zahl der Übergänge von Vollzeitbeschäftigung in die Arbeitslosigkeit seit 2003 – also zwei Jahre vor der Hartz IV-Reform – stetig zurückging.
Aus den oben genannten Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass die in den Studien von Hartung et al. (2018) und Krause und Uhlig (2012) untersuchten Wirkungskanäle eine vernachlässigbar kleine Rolle gespielt haben – und ihre Ergebnisse in der Debatte dementsprechend ebenfalls vernachlässigt werden können. Denn eine rationale Wirtschaftspolitik sollte keine Entscheidungen treffen, die auf offensichtlich fehlerhaften Analysen beruhen.
Hochmuth et al. (2019)
Eine aktuelle Studie von Hochmuth et al. (2019) untersucht ebenfalls die Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf die strukturelle Arbeitslosigkeit. Das Papier hat zwei Teile. In einem empirischen Teil nutzen die Autoren Daten der Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, um den Effekt der Hartz IV-Reform auf die Selektionsrate ökonometrisch zu schätzen. Dabei ist die Selektionsrate definiert als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bewerber eingestellt wird. In einem zweiten Teil verwenden die Autoren ein makroökonomisches Modell, um die Auswirkung der Hartz IV-Reform auf die Arbeitslosigkeit mittels einer Simulationsanalyse zu bestimmen. Dabei werden die geschätzten Selektionsraten zusammen mit anderen Daten zur Kalibrierung des Modells genutzt.
Die Modellsimulationen der Autoren ergeben, dass die Hartz IV-Reform die strukturelle Arbeitslosigkeit um etwa 2 Prozentpunkte reduziert hat. Ich bin überzeugt, dass auch die Studie von Hochmuth et al. (2019) den Effekt der Hartz IV-Reform auf die Arbeitslosigkeit erheblich überschätzt. Diese Einschätzung beruht auf den folgenden Überlegungen.
Der in der Studie verwendete Modellrahmen legt den Fokus auf zwei bekannte Wirkungszusammenhänge zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit, die laut Simulationsanalyse jeweils gleichen Anteil an dem prognostizierten Rückgang der Arbeitslosigkeit um 2 Prozentpunkte gehabt haben. Zum Ersten verändert die Höhe und Bezugsdauer des Arbeitslosengelds das Such- bzw. Bewerbungsverhalten der arbeitslosen Erwerbspersonen – dieser Effekt wird von den Autoren „Partialeffekt“ genannt. Er entspricht im Wesentlichen dem in Krebs und Scheffel (2013) und Launov und Wälde (2013) untersuchten Wirkmechanismus, auch wenn die modelltheoretischen Formulierungen Unterschiede aufweisen. Zum Zweiten führt eine Kürzung des Arbeitslosengelds zur Lohnzurückhaltung und steigenden Unternehmensgewinnen, so dass die Unternehmen durch Neueinstellungen ihre Beschäftigung ausweiten und die Arbeitslosigkeit zurückgeht – dieser Effekt wird von den Autoren Gleichgewichtseffekt genannt und wurde bereits in Krause und Uhlig (2012) untersucht.
Die Simulationsanalyse der Autoren überschätzt den Effekt des ersten Wirkungskanals, weil der verwendete Modellrahmen keine hinreichende Heterogenität der Erwerbspersonen zulässt. Ich spreche hier aus leidiger Erfahrung: Denn dies führt wie in meiner 2013 gemeinsam mit Martin Scheffel veröffentlichten Studie zu stark verzerrten Ergebnissen – siehe oben – und dürfte den in Hochmuth et al. (2019) geschätzten Effekt ungefähr halbieren. Die Simulationsanalyse der Autoren überschätzt den Effekt des zweiten Wirkungskanals aus den oben schon diskutierten Gründen, die auch in der Studie von Krause und Uhlig (2012) zu stark verzerrten Ergebnissen führen. Im Gegensatz zur Studie von Krause und Uhlig wird in Hochmut et al. jedoch der Effekt der Hartz IV-Reform auf die Transferzahlungen der Arbeitslosen realistisch abgebildet (siehe Punkt 5 in der obigen Auflistung), so dass die beiden Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Wirksamkeit der Hartz IV-Reform kommen.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Studie von Hochmuth et al. (2019) mit einer Ausnahme (Punkt 5) keine neuen Antworten auf die von mir genannten Kritikpunkte von Modellen gibt, die eine starke Auswirkung der Hartz IV-Reform auf die strukturelle Arbeitslosigkeit aufgrund von Lohnzurückhaltungen postulieren. Zudem bietet das Papier im Hinblick auf den schon in Krebs und Scheffel (2013) und Launov und Wälde (2013) untersuchten Wirkungskanals keine neuen Einsichten. Die Studie von Hochmuth et al. (2019) ändert also nicht meine Schlussfolgerung, dass die obere Grenze für den Effekt der Hartz IV-Reform auf die strukturelle Arbeitslosigkeit ca. einen Prozentpunkt beträgt.
Punktsieg für die Kritiker von Hartz IV
Ein genauer Blick auf die wenigen wissenschaftlichen Studien zum Thema zeigt, dass beide Seiten wichtige ökonomische Wirkungskanäle ansprechen. Doch der eindeutige Punktsieg geht an die Kritiker der Hartz-IV-Reform. Genauer gesagt: Einerseits war die Hartz IV-Reform einer von mehreren Faktoren, die zu einem Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland geführt haben. Andererseits hat die Reform die Löhne gedrückt und die Unsicherheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt erhöht. Insgesamt hat Hartz IV die Lebensqualität vieler Menschen erheblich verschlechtert – weshalb eine Reform der Reform sinnvoll und notwendig ist. Wie diese Reform aussehen könnte, habe ich unter anderem hier weitergehend diskutiert. Anlässlich des SPD-Vorschlags für eine Verlängerung des ALG I-Bezugs habe ich zudem hier die möglichen Auswirkungen eines solchen Schrittes beschrieben.
Zum Autor:
Tom Krebs ist Professor für Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim.