Hartz IV-Reform

Welche Auswirkungen hätte eine Verlängerung des ALG I-Bezugs?

Der Vorschlag der SPD, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I zu verlängern, stößt auf großen Widerstand. Doch die aktuelle Forschung spricht nicht dafür, dass dies die Arbeitslosigkeit wieder deutlich erhöhen würde. Zudem könnten negative Arbeitsmarkteffekte leicht durch flankierende Maßnahmen kompensiert werden. Ein Beitrag von Tom Krebs.

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Breite Teile der deutschen Ökonomenzunft haben in den letzten Wochen einen neuen Reflex entwickelt: Die SPD stellt ein neues Konzept vor, und prompt hagelt es heftige Kritik. Für den Vorsitzenden des Sachverständigenrats Christoph Schmidt steht beispielsweise fest, dass die SPD versuche, „das arbeitsmarkt- und rentenpolitische Rad wieder zurückzudrehen“. Und Lars Feld, ein weiteres Mitglied des SVR, verkündet, dass die geplanten Maßnahmen „Deutschland wieder zum kranken Mann Europas“ machen würden.

Besonders der Vorschlag der SPD, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für langjährige Beitragszahler zu verlängern, stößt auf großen Widerstand. In diesem Beitrag werde ich allerdings argumentieren, dass die Kritik der Skeptiker aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist. Denn entgegen der oben zitierten Äußerungen unterstützt die aktuelle Forschung die These, dass die vorgeschlagene Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I äußerst moderate Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit haben würde. Zudem könnten mögliche negative Arbeitsmarkteffekte leicht durch flankierende Maßnahmen wie spezielle Beratungsangebote, zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen und Lohnzuschüsse für Arbeitnehmer kompensiert werden.

Die vorgeschlagene Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I würde einen Teil der Hartz IV-Reformen korrigieren. Um die möglichen Auswirkungen einer ALG I-Verlängerung bewerten zu können, ist es zunächst wichtig zu wissen, wie die ursprüngliche Reform gewirkt hat.

Die relevante Evidenz zu dieser Frage habe ich bereits verschiedentlich in früheren Beiträgen diskutiert. Die Kernaussage lautet: Die Hartz IV-Reform alleine hat die strukturelle Arbeitslosigkeit um höchstens einen Prozentpunt gesenkt, während die Reformen Hartz I-III die strukturelle Arbeitslosigkeit um bis zu zwei weitere Prozentpunkte reduzierten. Wenn wir Nicht-Linearitäten und mögliche Reform-Komplementaritäten vernachlässigen, dann ergibt sich also ein Gesamteffekt der Hartz-Reformen (Hartz I-IV) auf die strukturelle Arbeitslosigkeit von ca. drei Prozentpunkten. Zudem kann der Beitrag der außerordentlichen Lohnzurückhaltung in Deutschland, die bereits viele Jahre vor den Hartz-Reformen zu beobachten war, nicht vollständig vernachlässigt werden. Für alle, die mit der hinter diesen Erkenntnissen stehenden Literatur bisher nicht vertraut sind, habe ich sie in einem Extra-Beitrag noch einmal zusammengefasst.

Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es auch Forschungsarbeiten gibt, die einen deutlich höheren Effekt der Hartz IV-Reform auf die Senkung der strukturellen Arbeitslosigkeit gefunden haben. Allerdings zeige ich in dem erwähnten Extra-Beitrag auch, dass diese Ergebnisse auf empirisch widerlegten Hypothesen beruhen. Daher kann ich nur davor warnen, die Ergebnisse dieser Studien über zu bewerten.

Nebenwirkungen der Hartz IV-Reform

Die Frage nach der Wirkung auf die Arbeitslosigkeit ist wichtig, doch ebenso wichtig ist zu prüfen, welche Nebenwirkungen die Reform hatte. Konkret sind aus ökonomischer Sicht die folgenden vier Nebenwirkungen erwähnenswert:

1.

Die mit der Hartz IV-Reform verbundene Senkung der sozialen Absicherung hat die Unsicherheit am deutschen Arbeitsmarkt erhöht. Dies hat die Lebensqualität für viele Menschen verschlechtert und Wohlfahrtsverluste für breite Bevölkerungsschichten verursacht.

2.

Jede Kürzung des Arbeitslosengelds kann zu Produktivitätsverlusten und damit verbundenen Lohnkürzungen in Teilen des Arbeitsmarkts führen, weil arbeitslose Erwerbspersonen schlechter bezahlte Jobs mit geringer Produktivität annehmen müssen. In Deutschland gab es nach den Hartz-Reformen einen starken Anstieg der Beschäftigung im Niedriglohnsektor. Die empirische Evidenz ist hier jedoch nicht eindeutig: Eine Untersuchung von Engbom et al. (2015) kommt zu dem Ergebnis, dass die Hartz-Reformen (Hartz I-IV) die Stundenlöhne von neu eingestellten Arbeitslosen erheblich gesenkt haben. Im Gegensatz dazu findet eine empirische Studie von Brendan Price (2018) keine signifikanten Effekte der Hartz IV-Reform auf die Stundelöhne bei Neueinstellungen von Arbeitslosen.

3.

Die Hartz IV-Reform hat die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für langjährige Beitragszahler stark gekürzt, aber für Erwerbspersonen mit nur wenigen oder keinen Beitragsjahren unverändert gelassen. Dieser Teil der Reform hat gegen das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“ verstoßen und damit die Akzeptanz in der Bevölkerung stark untergraben.

4.

Die Hartz IV-Reform hat den Druck auf Beschäftigte und Gewerkschaften erhöht, schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Unabhängig von der Lohnentwicklung kann eine solche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu Wohlfahrtsverlusten für die betroffenen Erwerbspersonen führen.

Im Gegensatz zu den Auswirkungen der Hartz IV-Reform auf die Arbeitslosigkeit sind die oben genannten Nebenwirkungen in der Wissenschaft eher stiefmütterlich behandelt worden. Beispielweise ist mir keine wissenschaftliche Untersuchung bekannt, die den unter Punkt 3 angesprochenen negativen Anreizeffekt für Erwerbstätige quantifiziert. Zudem gibt es keine makroökonomischen Studien, die den im zweiten Punkt erwähnten Produktivitätseffekt der Hartz IV-Reform analysieren. Und auch zu den unter Punkt 1 und 4 angesprochenen Effekten gibt es nur wenige Studien. In diesen Bereichen wären mehr wissenschaftliche Arbeiten wünschenswert.

Solange es diese noch nicht gibt, lässt sich eine endgültige Beurteilung der negativen Auswirkungen der Hartz IV-Reform auch nicht treffen. Doch die bisher verfügbare Evidenz lässt zumindest den Schluss zu, dass die Summe aller Nebenwirkungen die Lebensqualität vieler Menschen verschlechtert hat. Der in breiten Teilen der Bevölkerung anzutreffende Widerstand gegen die Hartz IV-Reform ist also nicht nur menschlich verständlich, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht keinesfalls überraschend.

Auswirkungen des SPD-Vorschlags auf die Arbeitslosigkeit

Aus dieser Einsicht ergibt sich der logische Schluss, dass eine Reform der Hartz IV-Reform notwendig ist. Ein wesentliches Problem von Hartz IV war und ist, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds (relativ) unabhängig von den Beitragsjahren gemacht wurde. Dieser Teil der Reform verstößt gegen das Leistungsprinzip und hat die Akzeptanz der Reform in der Bevölkerung stark geschwächt. Deshalb schlägt die SPD vor, die Bezugsdauer für langjährige Beitragszahler zu erhöhen. Das kann man als „das Rad zurückdrehen“ bezeichnen oder „aus Fehlern lernen“ nennen. Wichtiger als dieser Wettstreit um die beste Metapher ist jedoch die Frage, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von dem Vorschlag zu erwarten sind.

Beginnen wir mit dem Effekt auf die strukturelle Arbeitslosigkeit. Weiter oben habe ich argumentiert, dass die Hartz IV-Reform die strukturelle Arbeitslosigkeit um höchstens einen Prozentpunkt gesenkt hat. Diesen Wert halte ich für die obere Grenze des Spektrums an möglichen Werten, die sich aus einer kritischen Analyse der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur ergeben. Können wir daraus schließen, dass die vorgeschlagene Verlängerung der Bezugsdauer für langjährige Beitragszahler die strukturelle Arbeitslosigkeit im Worst-Case-Szenario um einen Prozentpunkt erhöht?

Nein, denn der Effekt des SPD-Vorschlags auf die Arbeitslosigkeit wird aus den folgenden Gründen wesentlich geringer ausfallen. Zum Ersten ist die strukturelle Arbeitslosigkeit heute deutlich niedriger als zum Zeitpunkt der Reform – die strukturelle Arbeitslosenquote ist von circa 10% in 2005 auf 6% in 2019 gesunken. Wenn also der prozentuale Effekt einer Reform auf die Arbeitslosenquote unabhängig ist von der Höhe der Arbeitslosigkeit, dann würde die vollständige Rücknahme der Hartz IV-Reform in 2019 die Arbeitslosenquote um höchstens 0,6 Prozentpunkte erhöhen. Die dieser Berechnung zugrundeliegende Proportionalität ist in verschiedenen Studien approximativ bestätigt worden.

Zum Zweiten handelt es sich bei dem SPD-Vorschlag eben nicht um die vollständige Abschaffung der gesamten Hartz IV-Reform (auch wenn die SPD dies durch die Umbenennung in ein „Bürgergeld“ zu suggerieren versucht). Ein wichtiger Bestandteil der Hartz IV-Reform war die Zusammenführung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II, die mit einer erheblichen Senkung der durchschnittlichen Lohnersatzleistung für Langzeitarbeitslose verbunden war. Dieser Teil der Hartz IV-Reform ist von der vorgeschlagenen Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I überhaupt nicht betroffen.

Betroffen ist nur die im Rahmen der Hartz IV-Reform implementierte Senkung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für langjährige Beitragszahler, die der SPD-Vorschlag im Wesentlichen rückgängig machen will. Diese Reform der Hartz IV-Reform würde die Bezugsdauer für alle Bezieher des Arbeitslosengelds I mit mehr als 20 Beitragsjahren verlängern. Nach aktuellem Stand würde dies weniger als ein Sechstel der arbeitslosen Erwerbspersonen betreffen – denn nur ein Drittel aller Arbeitslosen bezieht Arbeitslosengeld I, wobei weniger als die Hälfte dieser Gruppe mehr als 20 Beitragsjahre hat. Wenn wir diese Information mit dem oben schon besprochenen maximalen Effekt von 0,6 Prozentpunkten kombinieren, dann ergibt sich, dass die vorgeschlagene ALG I-Verlängerung die Arbeitslosenquote um höchstens 0,1 Prozentpunkte erhöhen würde.

Doch diese Berechnung berücksichtigt noch nicht, dass für die betroffene Gruppe von Arbeitslosen sich zwar die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verändert, aber nicht die Höhe des Arbeitslosengeldes im Falle eines Übergangs in die Grundsicherung, was jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Hartz IV-Reform war (siehe oben). Zudem ergibt sich eine weitere Reduktion des Wertes von 0,1 Prozentpunkten durch den oben diskutierten positiven Anreizeffekt für Erwerbstätige.

Auswirkungen des SPD-Vorschlags auf Produktivität und Lebensqualität

Die Implementierung des SPD-Vorschlags hätte nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit, sondern würde auch Produktivität, Löhne und Lebensqualität (Wohlfahrt) beeinflussen. Weiter oben habe ich argumentiert, dass die Hartz IV-Reform diese Variablen negativ beeinflusst hat – es gab unerfreuliche Nebenwirkungen. Entsprechend können von der vorgeschlagenen Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für langjährige Beitragszahler folgende positive Effekte erwartet werden:

1.

Der Vorschlag würde die soziale Absicherung für die betroffenen Erwerbspersonen stärken und damit die Unsicherheit am deutschen Arbeitsmarkt reduzieren. Die gesunkene Unsicherheit würde die Lebensqualität der betroffenen Menschen verbessern.

2.

Der Vorschlag würde Erwerbstätige mit vielen Beitragsjahren besserstellen als Erwerbspersonen mit nur wenigen Beitragsjahren. In diesem Sinne stärkt der Vorschlag das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“. Dies entspricht den tief verankerten Vorstellungen von Gerechtigkeit und Fairness vieler Menschen, so dass der Vorschlag die Akzeptanz der staatlichen Sozialversicherungssysteme in der Bevölkerung stärken würde.

3.

Der Vorschlag würde den betroffenen arbeitslosen Erwerbspersonen mehr Zeit geben, eine ihren Qualifikationen und Fähigkeiten entsprechende Arbeitsstelle zu finden. Dies steigert die durchschnittliche Produktivität und Löhne der betroffenen Neueinstellungen. Diese positive Wirkung der Reform könnte noch verstärkt werden durch gezielte Maßnahmen zur Weiterbildung und Arbeitsvermittlung. Der Vorschlag subventioniert also nicht Arbeitslosigkeit, sondern würde – vernünftige Qualifizierungsmaßnahmen vorausgesetzt – Menschen bei der Arbeitssuche unterstützen.

Ein häufig gehörter Einwand gegen eine Abhängigkeit der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von den Beitragsjahren ist, dass dies dem Prinzip eines Versicherungsvertrags widerspricht. Dieses Argument ist weder theoretisch fundiert noch empirisch belegt. Aus theoretischer Sicht ist eine Abhängigkeit der Versicherungsprämie von dem realisierten Ereignis immer dann optimal, wenn ereignis-relevantes Verhalten des Versicherungsnehmers nicht vollständig durch den Versicherungsträger beobachtet werden kann (moral hazard). In der Praxis haben die Versicherungsgesellschaften dieses Problem schon seit Langem erkannt und strukturieren ihre Versicherungsverträge entsprechend. Zum Beispiel sinkt die Prämie für die Autoversicherung mit der Anzahl der unfallfreien Beitragsjahre.

Fazit und Ausblick

Fassen wir zusammen: Eine ausführliche Analyse der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur führt zu dem Schluss, dass die von der SPD vorgeschlagene Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für langjährige Beitragszahler die Arbeitslosenquote um höchstens 0,1 Prozentpunkte erhöhen würde. Auch ist es sehr wahrscheinlich, dass die Maßnahme einen wesentlich kleineren Anstieg der Arbeitslosenquote als 0,1 Prozentpunkte verursacht würde.

Des Weiteren stärkt der Vorschlag das Prinzip „Leistung muss sich lohnen“, denn er belohnt die Lebensleistung langjähriger Beitragszahler. Dies adressiert die tief verankerten Vorstellungen von Gerechtigkeit und Fairness in der Bevölkerung. Auch das deutsche Arbeitslosenversicherungssystem würde effizienter gestaltet werden, denn ein optimaler Versicherungsvertrag in Situationen mit asymmetrischer Information verbindet in der Regel die Versicherungsprämie bzw. Versicherungsleistung mit Beitragsjahren. Schließlich würde die vorgeschlagene Reform die Verunsicherung in der Gesellschaft verringern und die Lebensqualität vieler Menschen verbessern. Aus ökonomischer und gesellschaftlicher Sicht ist es also ein vernünftiger Vorschlag.

Anders gesagt: Die von vielen Wirtschaftsexperten beschriebenen Horrorszenarien halten einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand. Wer also auf die SPD-Vorschläge nur reflexartig mit Sprachbildern wie „Deutschland wird zum kranken Mann Europas“ antwortet, der verlässt den Pfad der Wissenschaft und trägt nicht zu einer Versachlichung der Debatte bei.

Mit ihrem Vorschlag zur Verlängerung des ALG I-Bezugs gehen die Sozialdemokraten einen (überfälligen) Schritt in die richtige Richtung. Allerdings könnte die Maßnahme zu einem leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Deshalb ist es wichtig, eine solche Reform durch flankierende Maßnahmen zu ergänzen. Dazu zählen unter anderem spezielle Beratungsangebote und Lohnzuschüsse für Arbeitnehmer. Doch der Fokus sollte auf den Ausbau bestehender Programme zur Weiterbildung und der Entwicklung neuer Konzepte zur Qualifizierung von arbeitslosen Erwerbspersonen liegen. Dies würde eine Stärkung der Personaldecke der Bundesagentur für Arbeit und ihre Weiterentwicklung in eine Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung erfordern – was eine lohnende Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft wäre.

 

Zum Autor:

Tom Krebs ist Professor für Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim.