Arbeitsmarktwunder

Hartz IV hat gewirkt – aber anders als oftmals vermutet

Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland nach 2005 nicht deshalb so stark fiel, weil mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Stelle fanden – sondern vor allem, weil weniger Menschen arbeitslos wurden. Eine Analyse von Benjamin Hartung, Philip Jung und Moritz Kuhn.

Die Auswirkungen der Hartz-Reformen sowie die möglichen „Reformen der Reform“ sind das arbeitsmarktpolitische Thema des Jahres 2018. Im Mittelpunkt der Diskussion steht vor allem der letzte Teil der Hartz-Reformagenda: Hartz IV. In diesem Reformschritt wurde 2005 die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt, so dass in der Folge die Ansprüche auf Arbeitslosenunterstützung für viele langfristig Arbeitslose sanken. Ebenfalls seit 2005 sank die deutsche Arbeitslosenrate massiv. Kann „Hartz IV“ daher als Vorbild für Arbeitsmarktreformen in Europa dienen oder sollten die Reformen rückabgewickelt werden?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist es wichtig zu verstehen, ob und wie die Reform konkret gewirkt hat. In einer kürzlich erschienenen Studie haben wir eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Fakten zu den Veränderungen in der Arbeitslosigkeit nach den Hartz-Reformen vorgenommen. Sie basiert auf Millionen von Erwerbsverläufen aus den Sozialversicherungsdaten der Bundesagentur für Arbeit.

Korrelation ja – aber auch Kausalität?

Die Ausgangslage unserer Faktensammlung ist bekannt: Nach den Hartz-Reformen 2005 fiel die deutsche Arbeitslosenrate stark ab, nachdem sie zuvor seit den 80er Jahren von einem Höchststand zum nächsten geklettert war. Bisherige Studien haben typischerweise die ersten Jahre nach den Reformen (2005-2008) untersucht und standen dabei vor dem Problem, dass Regeländerungen erst einmal zu einem statistischen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Januar 2005 führten, der den Verlauf der Arbeitslosenrate nach der Reform stark prägte. Rechnet man diesen Effekt jedoch heraus, zeigt der Trend bis 2015, dass sich die Arbeitslosigkeit relativ zu den 90er Jahren innerhalb eines Jahrzehnts nahezu halbierte.

Zu diesem Trend kommt ein weiterer Fakt: Im Zuge der Finanzkrise 2008-2010 erlebten viele andere Länder die größte Arbeitsmarktkrise der letzten Jahrzehnte, während die Arbeitslosenrate in Deutschland nur sehr moderat anstieg. Trend und Krisenreaktion zusammen stellen das dar, was wir als das deutsche „Arbeitsmarktwunder“ bezeichnen.

Anmerkung: Im Zuge der Hartz Reformen mussten sich alle erwerbsfähigen Personen arbeitslos melden, um weiterhin ein Recht auf Arbeitslosengeld zu haben. Diese Regeländerung führte zu vielen zusätzlichen Arbeitslosmeldungen zu Beginn des Jahres 2005. Für unsere Analyse wollen wir Personen ausschließen, die sich einzig und allein auf Grund dieser Regeländerung arbeitslos gemeldet haben. Dazu schließen wir Personen aus unserer Analyse aus, die sich im ersten Halbjahr 2005 arbeitslos gemeldet haben und vorher weder arbeitslos noch beschäftigt und die darüber hinaus bis Ende 2006 nie beschäftigt waren.

Das Zusammenfallen der Reform und der Rückgang der Arbeitslosigkeit drängt die Frage auf: Waren die Hartz-Reformen ursächlich für das deutsche Arbeitsmarktwunder? Da die Debatten um die Hartz-Reformen hoch brisant sind und wissenschaftliche Studien dazu somit immer Gefahr laufen, in die eine oder andere Richtung politisch ausgeschlachtet zu werden, wollen wir eines vorweg betonen: Diese Frage wird nie mit absoluter Sicherheit beantwortet werden können. In unserer Studie haben wir versucht, mit Hilfe moderner wissenschaftlichen Methoden Fortschritte zu erzielen und die Fakten innerhalb eines konsistenten Theorierahmens zu erklären.

Die Zu- und Abgangsraten der Arbeitslosigkeit

Der erste Schritt ist zunächst ein buchhalterischer. Der Rückgang der Arbeitslosenrate kann zwei Gründe haben: Entweder es wurden nach 2005 weniger Menschen arbeitslos oder es fanden mehr Menschen aus Arbeitslosigkeit heraus eine neue Stelle. Die nächste Abbildung zeigt die Veränderung in den Zu- und Abgangsraten der Arbeitslosigkeit. Es wird deutlich, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland nach 2005 nicht deshalb so stark fiel, weil mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Stelle fanden – sondern vor allem, weil weniger Menschen arbeitslos wurden.

Warum ist dieser neue Fakt überraschend? Er sagt uns, dass wir nicht primär bei den Arbeitslosen, sondern bei den Beschäftigten, also bei Personen, die noch gar nicht arbeitslos sind, ansetzen müssen, wenn wir nach einer Erklärung für den Rückgang der Arbeitslosigkeit suchen.

Diese Erkenntnis steht in starkem Kontrast zu existierenden wissenschaftlichen Studien, die sich bisher auf drei zentrale Wirkmechanismen konzentriert hatten. Der erste Mechanismus  – Fördern und Fordern – postuliert, dass sich durch die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes der Druck insbesondere auf Langzeitarbeitslose verstärkt hat und diese dann vermehrt bereit waren, Stellen anzunehmen (Krebs und Scheffel 2013). Ein zweiter Mechanismus  – Hartz III  rückt die Reorganisation der Bundesagentur für Arbeit in den Fokus. Diesem Mechanismus zufolge habe der dritte Schritt der Hartz-Reformen den Vermittlungsprozess zwischen Arbeitslosen und offenen Stellen effizienter gestaltet (Launov und Wälde 2013). Ein dritter Mechanismus argumentiert, dass die Hartz-IV-Reform Druck auf die Löhne und insbesondere auf die Löhne für Neueinstellungen ausgeübt hat. Demzufolge haben niedrigere Löhne nach der Reform Anreize für Firmen geschaffen, neue Stellen zu schaffen, was die Chancen für Arbeitslose erhöhte, eine Stelle zu finden (Krause und Uhlig 2012).

Obwohl diese Wirkmechanismen sehr unterschiedlich sind, haben sie doch eines gemeinsam: Sie alle stellen die Arbeitslosen und deren Wahrscheinlichkeit, eine Stelle zu finden, in den Mittelpunkt. Unsere empirischen Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit für Arbeitslose, eine Stelle zu finden, nur um rund 10% angestiegen ist, während die Wahrscheinlichkeit von Beschäftigten, arbeitslos zu werden, um 30% gesunken ist. Letzteres erklärt damit 75% des Rückgangs der Arbeitslosigkeit, so dass die übrigen Mechanismen zusammengenommen nur für 25% des Arbeitsmarktwunders herhalten können.

Wirkmechanismus: eine neue Interpretation

Hier setzt unsere Studie an und liefert eine neue Interpretation des zu Grunde liegenden Wirkmechanismus der Hartz IV-Reform. Um die Ursächlichkeit zu zeigen, nutzen wir aus, dass nicht alle Beschäftigten in gleichem Ausmaß von der Reform betroffen waren. Der Grund für die unterschiedliche Betroffenheit war, dass gleichzeitig mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt wurde. Die resultierenden Kürzungen waren für ältere und langjährig Beschäftigte besonders groß. Sollte die Hartz-IV-Reform ursächlich für die beobachteten Veränderungen sein, dann sollten wir sehen, dass diejenigen, die stärker betroffen waren, stärker reagieren.

Dies ist in der Tat der Fall: Die folgende Abbildung zeigt, dass für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer die Wahrscheinlichkeit, entlassen zu werden, besonders stark abfiel – der Rückgang von 40% war doppelt so stark wie bei kurzzeitig beschäftigen Arbeitnehmern. Ein ähnlicher Effekt tritt auf, wenn wir verschiedene Altersgruppen betrachten und dabei Frühverrentungseffekte ausschließen.

Mit Blick auf die Löhne wäre zu erwarten, dass Beschäftigte mit höheren Löhnen von der Reform stärker betroffen sind. Dementsprechend sollte ihre Reaktion stärker ausfallen, da sich die Arbeitslosenhilfe am früheren Lohnniveau orientierte, das Arbeitslosengeld II hingegen nicht. Die nächste Abbildung zeigt, dass dieser Effekt tatsächlich in den Daten zu finden ist. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hierbei um differentielle Lohneffekte handelt. Einige Studien (z.B. Dustmann et. al 2014) diskutieren Trends in der Lohnentwicklung seit den 90er Jahren. Lohntrends erlauben aber keine direkten Rückschlüsse auf Veränderungen in der Arbeitslosigkeit, da Trendänderungen in Kosten oder Produktivität Löhne beeinflussen, ohne dass sich die Zugänge in und Abgänge aus Arbeitslosigkeit ändern würden (Jung und Kuhn 2015).

Wer weniger betroffen ist, reagiert auch weniger

Im nächsten Schritt wollten wir die dokumentierte empirische Korrelation zwischen Hartz-Reformen und Arbeitsmarktflüssen kausal interpretieren und quantifizieren. Dafür betrachten wir ein modernes Modell des Arbeitsmarktes, das alle bisher vorgeschlagenen Wirkmechanismen abbildet. Zusätzlich können in dem Modell Firmen und Beschäftigte über Löhne und Arbeitsplatzsicherheit verhandeln.

Der zentrale Wirkmechanismus im Modell ist einfach: Langjährig beschäftigten Arbeitnehmern droht bei einer Entlassung und nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes der Fall auf Arbeitslosengeld II. Die Angst vor diesem Absturz führt dazu, dass die Arbeitnehmer bereit sind, Zugeständnisse bei Löhnen im Tausch für Arbeitsplatzsicherheit zu machen. Das Modell dient uns einerseits als Laboratorium, um verschiedene Szenarien mit und ohne Hartz-Reformen zu simulieren. Andererseits erlaubt es, in konsistenter Art und Weise zu untersuchen, ob die Wirkmechanismen stark genug sind, um die Veränderungen in den Daten zu erklären. Insbesondere ermöglicht uns das Modell, aggregierte Effekte der Konjunktur oder Trends in der Nachfrage (z.B. durch einen Anstieg der Exporte) zu berücksichtigen. Damit können wir eine Reihe von alternativen Erklärungen ausschließen, die gemeinsam das BIP pro Kopf und die Beschäftigungsflüsse verändern könnten.

Kalibrieren wir das Modell auf die Daten vor 2003 und simulieren die Hartz IV-Reform, dann sinken wie in den Daten die Arbeitslosenraten. Verursacht wird der Rückgang durch Veränderungen bei den Zugängen in die Arbeitslosigkeit. Das Modell erklärt auch den Unterschied in den Entlassungswahrscheinlichkeiten von kurzzeitig und langjährig Beschäftigten.

Aber wie kann es sein, dass die Gruppe der langjährig Beschäftigten, die die geringste Wahrscheinlichkeit aufweist, arbeitslos zu werden, den großen Rückgang in der Arbeitslosigkeit verursachen kann? Die Antwort darauf ist die schiere Größe der Gruppe: Langjährig Beschäftigte, in unserem Fall Arbeitnehmer mit Beschäftigungsdauern von mehr als drei Jahren, machen rund zwei Drittel des deutschen Arbeitsmarktes aus – wenn diese Gruppe nur zuckt, dann wackelt die Arbeitslosenrate. Warum finden wir nur einen kleinen Effekt für kurzzeitig Beschäftigte? Für diese Gruppe änderte sich durch die Reform wenig. Viele hatten keinen Anspruch auf hohes Arbeitslosengeld und nur eine kurze Bezugsdauer. Wer weniger betroffen ist, reagiert auch weniger.

Placebo-Test: Deutschland vs. Österreich

Kann unser Modell auch erklären, warum die Finanzkrise in Deutschland relativ milde verlief? Ja, die obige Abbildung zeigt, dass unser Modell nicht nur den Trend, sondern auch die schwache Krisenreaktion während der Finanzkrise vorhersagt. Aber ist diese Vorhersage realistisch? Wie bei einem Placebo-Test in der Medizin brauchen wir einen „Patienten“, der ähnlich dem deutschen „Patienten“ ist, der aber die „Behandlung“ durch die Hartz-IV-Reform nicht bekommen hat.

Für Deutschland bietet sich hier Österreich an. Die Arbeitsmarktinstitutionen sind ähnlich und über den Wirtschaftszyklus entwickelte sich die österreichische Arbeitslosenrate bis 2005 traditionell ähnlich wie die deutsche. Wie sich die deutsche Arbeitslosenrate entwickelt hätte, wenn Deutschland anstatt der „Hartz IV-Pille“ ein Placebo bekommen hätte, sehen wir in der nächsten Abbildung. Die deutsche Arbeitslosenrate hätte sich parallel zur österreichischen entwickelt, wäre während der Finanzkrise stark angestiegen und hätte 2014 um 50% höher gelegen. Natürlich gab es weitere Faktoren zwischen den beiden Ländern, wie z.B. das Instrument der Kurzarbeit, welche potentiell die Unterschiede erklären könnten. Angesichts der Größenordnung der Krise und den typischerweise geschätzten Reaktionen auf Kurzarbeit sind diese Politikmaßnahmen aber zu klein, um das zentrale Bild zu ändern.

Waren die Hartz-Reformen gut oder schlecht?

Abschließend die vielleicht wichtigste Frage: Können wir aus diesen Ergebnissen schließen, dass die Hartz-Reformen gut oder schlecht waren? Nichts dergleichen. Unsere Ergebnisse liefern erst einmal nur eine Erklärung, wie die Hartz-Reformen zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit geführt haben könnten – nämlich vor allem dadurch, dass weniger Menschen ihren Job verloren haben.

Klar ist, dass ein solcher Rückgang der Arbeitslosigkeit für die Regierung neue Verteilungsspielräume eröffnet. Mithilfe unseres Modells können wir die Gewinner und Verlierer der Reform identifizieren, was Anhaltspunkte liefert, wie der Verteilungsspielraum genutzt werden sollte, um eine Mehrheit der Bevölkerung zu Gewinnern der Reform zu machen.

Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Reform ohne Kompensationszahlungen durchaus beachtenswerte Verlierer produziert hat. Neben der Gruppe der Langzeitarbeitslosen, die unmittelbar und am stärksten von den Reformen betroffen waren, verlor die Gruppe der langjährig Beschäftigten am meisten. Eine Möglichkeit für Kompensationszahlungen wäre, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nach Erwerbsdauer zu staffeln. Wer langjährig beschäftigt war, müsste dann weniger in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Dies entspricht zu Teilen dem System des amerikanischen experience ratings und erhöht die Anreize für Firmen, langjährig Beschäftigte nicht zu entlassen. Die Beitragssenkungen könnten damit zu einer Kombination aus mehr Arbeitsplatzsicherheit und höheren Nettolöhnen führen.

Das ist wohl ein einigermaßen überraschendes, wenn nicht sogar paradox anmutendes Ergebnis – die Gruppe mit den sichersten Jobs und der geringsten Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, ist besonders stark von den Reformen des Arbeitslosenversicherungssystems betroffen. Wenn Kompensationszahlungen im Zusammenhang mit den Reformen ausbleiben, so könnte dies zumindest einen Teil der anhaltenden und verbreiteten Unzufriedenheit mit der Reform gerade in der Arbeiterschaft erklären.

 

Zu den Autoren:

Benjamin Hartung ist Doktorand an der Universität Bonn. Auf Twitter: @BenjaminHartung

Philip Jung ist Professor für Makroökonomie an der TU Dortmund. Auf Twitter: @makro_philip

Moritz Kuhn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn. Auf Twitter: @kuhnmo

 

Hinweis:

Die diesem Beitrag zugrunde liegende Studie finden Sie hier.