Bundestagswahl

Eine gute Gelegenheit für eine parteipolitische Strukturreform

Die Bundestagswahl hat das Potenzial, die deutsche Parteienlandschaft nachhaltig zu verändern. Gerade die wirtschaftspolitischen Debatten könnten davon profitieren. Ein Kommentar von Philipp Stachelsky.

Foto: Groman123 via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die Bundestagswahl hat die erwarteten zwei Koalitionsoptionen hervorgebracht: eine Fortsetzung der Großen Koalition und die bisher auf Bundesebene noch nie erprobte Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen. Die SPD hat die Große Koalition keine zehn Minuten nach den ersten Hochrechnungen bereits ausgeschlossen, womit politisch nur noch Jamaika übrigbleibt (immer unter der Voraussetzung, dass die SPD nicht umkippt).

Das Besondere an dieser Wahl ist, dass das Ergebnis praktisch von allen Parteien mit Ausnahme der FDP teils deutliche Kurskorrekturen oder Grundsatzentscheidungen erfordert – und dieser Prozess hat das Potenzial, die deutsche Parteienlandschaft nachhaltig zu verändern und wiederzubeleben.

Re-Sozialdemokratisierung der SPD

Das Hauptversagen der SPD und ihres Führungspersonals bestand wie schon vier Jahre zuvor darin, dass sie sich geweigert hat, ihren Wahlkampf der sozialen Gerechtigkeit konsequent durchzuziehen, und so erneut keine Mobilisierung ihrer Kernklientel erreichte. Die Wut über den „Verrat“ der Agenda-Politik sitzt im linken Lager unglaublich tief – es ist sehr bezeichnend, dass die Häme über das schlechte Abschneiden der SPD offensichtlich bei keiner Partei größer war als bei der Linken.

Um ihr Glaubwürdigkeits- und Profilierungsproblem zu beheben, müssen die Sozialdemokraten mehr als alle anderen Parteien unmissverständlich klarmachen, was sie denn anders machen wollen, und vor allem: warum man ihnen glauben sollte, dass sie dies bei entsprechender Gelegenheit auch tun.

Die SPD braucht eine konsistente Story, und die kann sie nur erzählen, wenn auch die Linkspartei darin vorkommt

Beides ist im Wahlkampf nicht geschehen. Die SPD hatte wie auch schon 2013 ein ordentliches Mitte-links-Programm, das an einigen Stellen noch etwas pointierter sozialdemokratisch hätte ausgestaltet werden können. Vor allem aber hat sie sich nicht getraut, eine klare Machtperspektive aufzuzeigen, mittels derer der Slogan von mehr sozialer Gerechtigkeit tatsächlich realisierbar wäre. Diese Perspektive hätte aus einem klaren Bekenntnis zu einer rot-rot-grünen Koalition bestehen müssen. Die SPD braucht eine konsistente Story, und die kann sie nur erzählen, wenn auch die Linkspartei darin vorkommt.

Linke: Abschied von der Fundamentalopposition?

Mit ihrer klaren Absage an eine Große Koalition hat sich die SPD-Spitze nun selbst in eine Lage gebracht, in der sie an einer Hinwendung zur Linkspartei – in Ermangelung anderer Optionen – eigentlich gar nicht mehr vorbeikommt. Ob eine solche rot-rot-grüne Bewegung möglich ist, hängt aber natürlich nicht nur von der SPD, sondern auch von der Linkspartei und den Grünen ab. Beide gehören auf den ersten Blick zu den Nicht-Verlierern dieser Wahl und haben somit zunächst nur wenig Anlass, etwas anders zu machen.

Die Linke konnte ihre Stimmenanteile immerhin minimal ausbauen. Allerdings war es auch in diesem Wahlkampf wieder offensichtlich, dass es innerhalb der Linken ein starkes Ringen um die grundsätzliche Ausrichtung der Partei gibt: will sie grundsätzlich Regierungsverantwortung übernehmen, was beispielsweise bedeuten würde, gerade in außenpolitischen Fragen (Nato, Russland) auf die möglichen Koalitionspartner zuzugehen? Oder will sie jenem Flügel folgen, der der Meinung ist, dass die Partei aus der Opposition heraus mehr verändern könne als in der Regierung?

Ein ernsthaftes Friedensangebot der SPD würde sicherlich den Befürwortern eines Regierungskurses Auftrieb geben und den Druck auf die Fundamentaloppositionellen erhöhen. Bei der Linken war am Wahlabend gelegentlich die Klage zu hören, dass man gerade im Osten Protestwähler an die AfD verloren habe. Aber das ist ebenfalls ein Argument für den gemäßigten Flügel – weniger Protestwähler bedeuten eben auch, dass es mehr Wähler gibt, die das Programm der Linken tatsächlich realisiert sehen wollen.

Grüne: Sieg mit Beigeschmack

Für die Grünen könnte der überraschende Erfolg sehr schnell zum Boomerang werden: Sie sind einerseits zu stark geworden, um sich ernsthaften Gesprächen über eine Regierungsbeteiligung zu verweigern. Anderseits würde das Mitwirken in einer Jamaika-Koalition in wesentlichen Fragen an den Grundpfeilern des grünen Programms rütteln und erhebliches Spaltungspotenzial bergen. Das gilt primär in der Europa-, Flüchtlings- und Steuerpolitik.

Hinzu kommt, dass die Union wohl künftig wieder weiter nach rechts rücken wird, was eine Zusammenarbeit zusätzlich erschweren und die Spaltung der Parteiflügel weiter verschärften würde. Das wäre umso mehr der Fall, wenn Angela Merkel im Laufe der nächsten Legislaturperiode ihren Rückzug einleiten sollte, worüber in der Berliner Polit-Käseglocke schon länger spekuliert wird. Die FDP wiederum müsste eigentlich gar nicht viel anders machen, sondern lediglich drauf achten, sich nicht allzu ungeschickt anzustellen. Ein bisschen Freier Markt-Romantik gepaart mit den ökonomischen Weltfrieden-Themen Digitalisierung und Bildung reichen derzeit offenbar schon aus, um die eigene Klientel an die Urnen zu bringen. Diese komfortable Situation wird Christian Lindner nicht durch zu große Zugeständnisse an die Grünen riskieren wollen.

Die eleganteste Lösung für die Grünen wäre es wohl, wenn sie zunächst zähneknirschend in eine Koalition mit Union und FDP eintreten, diese dann nach angemessener Zeit wegen einem der zahlreichen Streitthemen verlassen und so Neuwahlen auslösen. Aber spätestens dann bleibt ihnen eigentlich keine Wahl mehr, als sich an die rot-rote Bewegung anzudocken. Das gleiche gilt auch für den Fall, dass Jamaika bereits in den Koalitionsgesprächen scheitert und es zu Neuwahlen (oder einer sehr unwahrscheinlichen Minderheitsregierung) kommt.

AfD: Realitätscheck für Deutschland

Der Einzug der AfD in den Bundestag ist sicherlich besorgniserregend. Aber er ist kein „historischer Rückschritt für die deutsche Gesellschaft“, sondern eher ein Realitätscheck. Oder hat jemand tatsächlich ernsthaft geglaubt, dass es in Deutschland vorher keine Menschen mit einer hohen Toleranzschwelle für fremdenfeindliches und antidemokratisches Gedankengut gab, nur weil sie nicht im Bundestag saßen?

Nein, die AfD hat es lediglich geschafft, diesen Menschen und ihrer Wut einen Platz auf dem Wahlzettel zu verschaffen. Der AfD-Erfolg ist vielmehr die finale Handlungsaufforderung an alle anderen Parteien, sich damit auseinanderzusetzen, welche Hintergründe die Wahlentscheidung für die AfD hatte. Nicht zuletzt die Wahl Donald Trumps und der Brexit haben doch gezeigt, dass Menschen auch vor den krudesten Alternativen nicht zurückschrecken, wenn der Frust nur groß genug ist, unabhängig davon, ob sie deren Positionen nun tatsächlich teilen oder nicht.

Wie schon bei Brexit und Trump besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man bei der Suche auch auf sozioökonomische Erklärungen und Faktoren stößt, was praktisch wäre, weil die Politik ja durchaus in der Lage ist, diese zu ändern. Und dazu gehört beispielsweise auch, gerade in Ostdeutschland deutlich mehr Geld in die oftmals chronisch unterbesetzen Projekte gegen Rechtsextremismus zu stecken. Es wird jedenfalls nicht damit getan sein, aus der Rolle tanzenden AfD-Abgeordnete die „Regelungen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages spüren“ zu lassen, wie der scheidende SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann meint.

Man sollte sich nicht darauf verlassen, aber es besteht zumindest die Hoffnung, dass sich die AfD auch selbst schwächen und (erneut) aufspalten wird. Sogar jemandem wie Frauke Petry ist die Partei inzwischen zu extrem geworden. Weitere – naja – gemäßigte Mitglieder könnten ihr folgen, wodurch sich auch die Unterstützung aus dem bürgerlich-konservativen Lager verringern würde. So oder so wird es für die AfD ein schmaler Grad, es mit der Strategie der gezielten Eskalation nicht zu übertreiben und gleichzeitig Teilen der eigenen Klientel die erwartete Show zu liefern.

Schöpferische Zerstörung

Es ist zu erwarten, dass Deutschland dieses Mal länger als sonst nach Wahlen üblich ohne Regierung dasteht oder es sogar zu Neuwahlen kommt. Das ist sicherlich nicht schön, aber auch kein Weltuntergang – und wenn das Ergebnis dieser politischen turbulenten Monate die eben skizierte parteipolitische Strukturreform wäre, hätte es sich definitiv gelohnt.

Am Ende dieses Prozesses könnte dann eine klare Blockbildung stehen, die viel Futter für Debatten und einen spannenden Wahlkampf bietet: Auf der einen Seite befände sich ein rot-rot-grüner Block, der inhaltlich ein klares Bekenntnis zu einer stärkeren Umverteilung von oben nach unten, eine mehr oder weniger starke Abkehr von der Politik der Schwarzen Null und tendenziell eine Vertiefung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion repräsentiert.

Auf der anderen Seite stünden die Unionsparteien und die FDP, wobei sich zeigen wird, ob sich Teile der AfD durch einen Entnazifizierungsprozess auch noch in diesen Block eingliedern werden oder ob die Unionsparteien durch einen Rechtsruck eine Brücke nach Rechtsaußen schlagen. Wirtschaftspolitisch liegt die AfD jetzt schon sehr nah bei den Programmen von Union und FDP.

Dieser Block dürfte dann grundsätzlich für eine Beibehaltung der derzeitigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stehen, eine Ausweitung der europäischen Integration blockieren und seine Politik dem Primat einer passiv-aggressiven Haushaltskonsolidierung (keine Kürzungsorgien, aber auch keine Ausweitung der staatlichen Investitionstätigkeit oder der Sozialleistungen) unterordnen.

Für den Wähler wäre ein solches Szenario jedenfalls eine sehr attraktive Konstellation: Es bestünde wieder eine klare Wahlmöglichkeit zwischen einem linken und einem konservativen Bündnis, mit all den wirtschaftspolitischen Debatten, die dazu gehören. Die Schwerpunktsetzung der jeweiligen Bündnisse ließe sich dadurch ausgestalten, dass man innerhalb der Bündnisse jener Partei die Stimme gibt, die am ehesten den persönlichen Präferenzen entspricht – ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass die eigene Stimme am Ende einer unerwünschten Koalition zugute kommt. Somit könnte das gestrige „politische Erdbeben“ lediglich der Startschuss für eine Neustrukturierung der deutschen Parteienlandschaft sein, die offenbar dringend nötig ist.