Migration

Der Freihandel kann die Probleme der Welt nicht alleine lösen

Die enormen globalen Einkommensunterschiede lassen sich nicht verringern, indem einfach nur Handelsbarrieren abgebaut werden. Wenn wir wirklich eine grenzenlose kosmopolitische Welt erreichen wollen, ist Migration absolut essenziell. Ein Kommentar von Branko Milanovic.

„Citizenship premium“ bzw. „citizenship penalty“: je nachdem, ob eine Person in einem reichen oder in einem armen Land geboren wurde, hat er oder sie einen Vorteil oder einen Nachteil. Foto: Pixabay

Ein Freund hat mir einen interessanten, aber doch etwas seltsamen Artikel zugeschickt, den Robert Shiller im Guardian veröffentlicht hat. Shiller beginnt seinen Text damit – in gewisser Weise entgegen dem momentan zu beobachtenden Trend –, eine „anti-nationalistische“ intellektuelle Revolution zu prognostizieren, die sich gegen die „Ungerechtigkeit der Geburt“ (injustice of birth) richtet. In meinem Buch „Global Inequality“ nenne ich dieses Prinzip „citizenship premium“ bzw. „citizenship penalty“: je nachdem, ob eine Person in einem reichen oder in einem armen Land geboren wurde, hat er oder sie einen Vorteil oder einen Nachteil.

Zu Beginn des Artikels denkt der Leser, dass Shiller eine Art kosmopolitische Bewegung vorschwebt, die alle nationalen Grenzen abschaffen und eine freie Migration erlauben will. So nennt er immerhin er die Präzedenzfälle der Glorious Revolution, die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei und die Suffragette-Bewegung.

Auch wenn sich Shiller an dieser Lesart vielleicht nicht stören würde, ist sein Argument doch ein anderes: Er sieht eine intellektuelle Revolution aufkommen, die zugunsten des Freihandels argumentiert und eine Welt hervorbringen wird, in der die Ungerechtigkeit der Geburt durch einen „Ausgleich der Faktorpreise“ (das heißt: die Angleichung von Löhnen und Einkommen über Ländergrenzen hinweg) eliminiert wird. Dies würde ohne größere Migrationsbewegungen gelingen (die politisch nicht tragfähig wären), weil der Handel die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern ausgleichen würde.

Und ja, wenn die Welt eine Art EU-15 werden würde, könnten wir eine grenzenlose Welt bekommen und gleichzeitig die nationalen Kulturen erhalten, weil es keine strukturellen Anreize für Migration gäbe. „Strukturell“ heißt in diesem Fall, dass keine signifikanten monetären Anreize existieren, die Arbeiter dazu bewegen, ihre Einkommen um das fünf- oder zehnfache zu steigern, indem sie in ein reicheres Land auswandern. Die „nicht-strukturellen“ Anreize für Migration würden natürlich erhalten bleiben, aber sie wären auf sehr eigenwillige Präferenzen wie, sagen wir mal, warmes Wetter, Golfplätze, die Kaffeequalität oder ähnliches zurückzuführen – in jedem Fall würden sie keine massiven Migrationsströme verursachen, wie es Menschen tun, die nach einer höheren Bezahlung suchen.

Aber ist eine solche Welt mit annährend gleichen Durchschnittseinkommen wirklich in näherer Zukunft vorstellbar?

Eine gewaltige Lücke

Nehmen wir zunächst an, dass eine solche Welt tatsächlich möglich wäre und der Freihandel sie hervorbringen könnte (der letzte Punkt ist für sich genommen schon etwas dubios). Dann müssten wir den Umstand berücksichtigen, dass die Anpassung der Gehälter für viele Menschen in den reichen Ländern ein rückläufiges oder zumindest sehr langsames Lohnwachstum implizieren würde – und das ist ziemlich genau jenes Problem, mit dem wir uns bereits heute auseinandersetzen müssen: Während der Handel unterm Strich „gut“ war, hat er vielen Menschen in den reicheren Ländern gleichzeitig auch geschadet.

Der Wandel hin zu einer Welt mit gleichen Einkommen wäre notwendigerweise eine ungemütliche Reise und würde es erfordern, dass die reichen Länder bessere Wege finden, um die Verlierer zu entschädigen (diesen Punkt macht Shiller auch). Allerdings scheint dies momentan nicht zu passieren – und es ist auch keine intellektuelle Revolution am Horizont zu erkennen, die sich klar für den Freihandel ausspricht, jedenfalls kann ich sie nicht erkennen. Zudem ist der Handel heutzutage bereits freier als er es während der letzten 100 Jahre jemals war, was das Ziel einer solchen „Revolution“ noch unklarer macht.

Aber es gibt noch ein weiteres Problem. Die Einkommenslücken in der Welt sind enorm und es ist selbst im besten Szenario unmöglich, dass sie innerhalb dieses Jahrhunderts geschlossen werden. Nehmen wir den außergewöhnlichsten, und wahrscheinlich nicht wiederholbaren, Konvergenz-Kraftakt Chinas. Im Jahr 1977 lag die BIP-pro-Kopf-Lücke zwischen den USA und China bei 50 zu 1, wenn man sie um die Unterscheide bei den Preisniveaus bereinigt. Für die Löhne dürfte ähnliches gegolten haben.* Heute liegt sie bei 4 zu 1 – und das ist das Ergebnis einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate des chinesischen BIP pro Kopf von 8,5% während der letzten vier Jahrzehnte. Die Lücke zwischen dem deutschen BIP pro Kopf (stellvertretend für Westeuropa) und dem der afrikanischen Staaten südlich der Sahara liegt heute bei 13 zu 1.**

Aber ist es wirklich vorstellbar, dass Afrika während der nächsten drei oder vier Jahrzehnte Chinas Aufholprozess wiederholen kann, zumal erwartet wird, dass sich die afrikanische Bevölkerung bis 2050 mehr als verdoppeln wird? Die afrikanischen Länder müssten etwa ein halbes Jahrhundert lang um fast 11% pro Jahr wachsen, um angesichts eines prognostizierten jährlichen Bevölkerungswachstums von 2,4% das chinesische Pro-Kopf-Wachstum zu reproduzieren. Und wie stark ist das BIP der afrikanischen Staaten südlich der Sahara während des letzten – relativ guten – Jahrzehnts gewachsen? Um insgesamt 4,5% pro Jahr.

Wenn wir wirklich eine grenzenlose kosmopolitische Welt erreichen wollen, ist Migration absolut essenziell

Das bedeutet: Selbst unter den allergünstigsten und unplausibelsten Konvergenz-Annahmen werden sich die Einkommenslücken höchstwahrscheinlich nicht eliminieren lassen. Das wiederum zeigt die Wichtigkeit der Migration. Wenn wir wirklich eine grenzenlose kosmopolitische Welt erreichen wollen (ein Ziel, das ich teile, aber bei dessen Erreichen ich enorme politische Probleme sehe), dann ist Migration absolut essenziell. Aber die wirtschaftlich motivierte Migration wird in den reichen Ländern vor immer größere Hürden gestellt, und zwar nicht nur aus fremdenfeindlichen, sondern auch aus ökonomischen Gründen – und daher rückt das Ideal einer Welt, die die Ungerechtigkeit der Geburt nicht mehr kennt, in weite Ferne.

Um meinen Punkt noch einmal klar zu machen: Ich habe sehr große Sympathien für eine grenzenlose Welt – aber es ist unrealistisch zu glauben, dass dieses Ziel alleine durch mehr Freihandel und ohne erhebliche Migration erreicht werden kann. Und sobald wir „Migration“ sagen, öffnen wir die Büchse der Pandora, die – wie die jüngsten Wahlen in Europa und in den USA gezeigt haben – keine Phantasie, sondern Realität ist. Daher sollte sich unsere neue „intellektuelle Revolution“ eher um die Themen Migration und Staatsbürgerschaft als um den Freihandel drehen. Der Freihandel kann die Probleme der Welt nicht alleine lösen.

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Außerdem betreibt er den Blog Global Inequality, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.