Ich habe schon immer daran geglaubt, dass die Geografie das Weltbild von Menschen bestimmt (ich meine, de Gaulle wird der Spruch „Geschichte ist angewandte Geografie“ zugeschrieben). Wenn du einen Monat damit verbringst, durch verschiedene Orte in Europa zu reisen, kannst du dem wichtigsten europäischen Thema dieser Tage nicht aus dem Weg gehen: Der Migration.
Also lassen Sie mich (erneut) kurz ein paar Schlüsselpunkte dazu durchgehen. Ich diskutiere diese ausführlich im dritten Kapitel meines bald erscheinenden Buches „Global inequality: a new approach for the age of globalization”.
Für einen Ökonomen ist es klar, dass die meisten (nicht alle, dazu komme ich später) ökonomischen Argumente stark zugunsten von Migration ausfallen. Wenn komparative Kostenvorteile und Arbeitsteilung irgendeine Bedeutung haben sollten, dann müssen sie weltweit gelten; sie sind sicherlich nicht nur gültig innerhalb der willkürlich gezogenen nationalen Grenzen.
Edwin Cannan fragte bereits vor einem Jahrhundert vorausschauend und klug: „Falls es tatsächlich wahr ist, dass es eine natürliche Koinzidenz von Eigeninteresse und Allgemeininteresse gibt, warum dehnt sich diese Koinzidenz dann nicht, wie es wirtschaftliche Prozesse tun, über nationale Grenzen hinaus aus?“ (zitiert nach S. Herbert Frankels Presidential Address von 1942 vor der South African Economic Society; Tony Atkinson hat mich auf diese unverdient obskure Referenz aufmerksam gemacht).
Falls das nicht der Fall wäre, könnten wir gleichermaßen plausibel argumentieren, dass es Grenzen für die Arbeitsmobilität zwischen den Regionen eines einzelnen Landes geben sollte. Weil aber so gut wie niemand dafür plädieren würde, ist es nur logisch, dass das gleiche Prinzip der Freizügigkeit auch international gelten muss. In anderen Worten: Die Arbeitsfreizügigkeit führt zur Maximierung des globalen Outputs.
Wir wissen auch, dass Migration, indem sie die Einkommen der Migranten (die meistens arm sind) erhöht, die wirksamste Kraft zur Reduzierung der weltweiten Armut wie auch der weltweiten Ungleichheit ist.
So weit, so gut. Aber, könnte man jetzt einwenden, reduziert die Migration nicht die Löhne für einheimische Arbeiter, mit denen Migranten konkurrieren? Obwohl empirische Studien zeigen, dass die negativen Effekte auf die vergleichbaren einheimischen Arbeiter gering sind (und wir sollten nicht vergessen, dass es auch einheimische Arbeiter gibt, die von Wanderungsbewegungen profitieren, falls ihre Fähigkeiten die der Migranten ergänzen), sind diese Effekte nicht gleich null.
Demnach haben wir – von einem ökonomischen Standpunkt aus betrachtet – das Problem der Migration gelöst. Sie ist zum Wohle der Allgemeinheit und falls es Probleme oder Bedenken dagegen gibt, müssen das nicht-ökonomische Gründe wie soziale Kohäsion, die Vorliebe für eine gegebene kulturelle Homogenität, Fremdenfeindlichkeit oder dergleichen sein.
Allerdings denke ich, dass es nicht so einfach ist. Es dürfte auch noch einige negative ökonomische Effekte geben, die es zu berücksichtigen gilt. Ich sehe drei davon.
Erstens: Den Effekt von kultureller oder religiöser Heterogenität auf den wirtschaftspolitischen Ansatz. In den 1990er Jahren hat Bill Easterly eine veritable Heimfabrik mit Studien angelegt, die argumentieren, dass religiöse oder ethnische Heterogenität die Wirtschaftspolitik weniger effizient und für permanente Konflikte und Kuhhandel anfällig macht: Ich lasse euch abwerten, wenn ihr mir gestattet, Preiskontrollen durchzudrücken. Die Literatur befasste sich hauptsächlich mit Afrika (sie versuchte, die miserablen Wachstumsraten zu erklären), aber es gibt keinen Grund, sie nicht auch auf Europa anzuwenden.
Die Grunderkenntnis von Easterlys Ergebnissen ist, dass Gruppen heftig um die Projekte oder die Politik, die ihren Mitgliedern zu Gute kommen, kämpfen, wenn das gegenseitige Vertrauen der Gruppen wegen religiöser oder ethnischer Unterschiede gering ist. Dementsprechend will eine Gruppe eine Abwertung der Währung, wenn ihre Mitglieder im Exportsektor aktiv sind, und eine andere Gruppe würde Schutzmechanismen für die Waren bevorzugen, die ihre Mitglieder überwiegend produzieren.
Es ist richtig, dass die ökonomischen Rollen der Minderheiten in Europa nicht so eindeutig wie in Afrika sind: Muslime in Großbritannien haben keine Präferenz für einen niedrigeren oder höheren Sterling-Wechselkurs, weil sie nicht auf spezielle Industrien konzentriert sind wie die ethnischen Gruppen in Nigeria, die im Delta leben und einen Anreiz haben, nach einem höheren Anteil der Einnahmen aus dem Ölgeschäft zu fragen. Nichtsdestotrotz sollte man das Problem der schwierigen Koordination angesichts religiöser oder ethnischer Unterschiede im Hinterkopf behalten. Es könnte in der Zukunft wichtiger werden, wenn Europa vielfältiger wird.
Zweitens: Kulturelle Unterschiede könnten zu der Erosion des Wohlfahrtsstaates führen. Diesen Punkt hat Assar Lindbeck vor 20 Jahren aufgeworfen. Die Wurzeln des europäischen Wohlfahrtsstaates (am deutlichsten sichtbar in der schwedischen „Volksheim“-Kampagne der 1930er Jahre) waren immer stark nationalistisch geprägt, basierend auf einer homogenen Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfe unter den Mitgliedern. Der Wohlfahrtsstaat verließ sich auf die gemeinsamen Werte und Affinitäten seiner Mitglieder.
Aber wenn diese Gemeinsamkeit nicht länger besteht, wenn die Befolgung gewisser Normen, auf denen der Wohlfahrtsstaat aufgebaut ist (z. B. sich nicht krankzumelden, wenn man es nicht ist, oder nicht bei der Arbeit zu trinken), ins Wanken gerät, dann beginnt der Wohlfahrtsstaat zu erodieren. Wenn du nicht die gleichen Werte wie ich beachtest und dich auf meine Kosten bereicherst, dann verliere ich das Interesse daran, diese Übereinkunft zu finanzieren. Daher ist die Migration eine erhebliche Bedrohung für die Integrität des Wohlfahrtsstaates in Europa. Es ist kein Zufall, dass die gegenwertigen Entscheidungen in den nordischen Ländern, ohne dem eine negative Bedeutung geben zu wollen, als ein Wohlfahrtsstaat für die im Land geborene Bevölkerung oder anders: als nationaler Sozialismus bezeichnet werden können.
Drittens: Migration kann einen erheblichen negativen Effekt auf die Herkunftsländer haben. Dieses Argument hat Paul Collier vor einigen Jahren in seinem Buch “Exodus: How Migration is Changing our World” vorgebracht. Ich war geneigt, diesen Punkt als versteckte Fremdenfeindlichkeit abzulehnen, die sich nicht traut, ihre Meinung offen zu äußern, bis ich im letzten Sommer etliche Artikel über die Effekte der Auswanderung aus kleineren osteuropäischen Ländern gelesen habe.
Diese Länder haben eine erhebliche Anzahl ihrer Ärzte, Krankenschwestern und Ingenieure an die reicheren Länder in West- und Nordeuropa verloren. Nun könnte man sagen, dass eventuell höhere Gehälter für Ärzte im Osten ausreichend wären, um sie in der Heimat zu halten oder vielleicht Ärzte von anderswo ins Land zu holen, etwa von Nigeria nach Ungarn. Aber ein solcher Ansatz ignoriert nicht nur, wie lange es dauert, Ärzte auszubilden, sondern auch, wie lange die Märkte brauchen, um die richtigen Signale auszusenden und bis die Menschen dementsprechend handeln.
Paul Krugman hat einmal schön gesagt: „Wenn die Geschichte keine Rolle spielen würde, würde die Anpassung sofort erfolgen.“ Aber während ökonomische Modelle solche sofortigen Anpassungen als gegeben annehmen, tut es das wahre Leben nicht. Dazwischen könnten Tausende von Menschen wegen der schlechteren Gesundheitsversorgung sterben. Auf die gleiche Weise könnte der Verlust einiger Spezialisten sehr schwer zu kompensieren sein. Wenn dein Land zehn Sanitärtechniker pro Jahr ausbildet und sie alle in reichere Länder ziehen, hast du schon bald niemanden mehr, der in der Lage ist, die Wasserqualität zu kontrollieren.
Ich denke, wir müssen auch die negativen ökonomischen Effekte der Migration berücksichtigen. Ich denke nicht, dass die genannten drei Effekte (und es gibt möglicherweise auch noch weitere) ausreichend stark sind, um die positiven ökonomischen Effekte aufzuheben. Aber sie können auch nicht vollständig unberücksichtigt bleiben oder ignoriert werden.
Zum Autor:
Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut.
Hinweis:
Dieser Beitrag ist zuerst in Branko Milanovic´Global Inequality-Blog erschienen. Die deutsche Übersetzung erfolgte durch die Makronom-Redaktion mit Genehmigung des Autors.