Arbeitsmarkt

Zwischen Jobwunder und Jobdilemma

Der deutsche Arbeitsmarkt verzeichnete auch 2017 wieder Rekordwerte. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass Deutschlands Jobwunder weiterhin vor allem ein Teilzeitwunder ist – was mit Blick auf die Rente sozialpolitischen Sprengstoff birgt. Enormen politischen Handlungsbedarf gibt es zudem bei der Langzeitarbeitslosigkeit. Eine Analyse von Stefan Sell.

Es sind Zahlen, um die uns viele andere Länder beneiden: Laut ersten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes waren im Jahresdurchschnitt 2017 rund 44,3 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig – so viele wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Die Zahl der Erwerbstätigen lag um 638.000 Personen oder 1,5% höher als im Vorjahr – der stärkste Zuwachs seit 2007.

Wenn man sich die Verteilung der Beschäftigungszuwächse genauer anschaut, zeigt sich, dass das Wachstum vor allem von den Dienstleistungsjobs getragen wird. Der Stellenzuwachs betrug hier gegenüber dem Vorjahr +1,7%. Dies spiegelt zum einen sicher die seit einiger Zeit gut laufende inländische Nachfrage wider. Zum anderen zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes auch, dass es sich dabei vor allem um neue Jobs in staatlichen bzw. staatsnahen Dienstleistungsbereichen handelt – so hatten die öffentlichen Dienstleister sowie das Erziehungs- und Gesundheitswesen mit einem Plus von 214.000 Erwerbstätigen den in absoluten Zahlen größten Anteil am Zuwachs im Dienstleistungssektor.

Auch die Bundesagentur für Arbeit hat Erfreuliches zu vermelden. Wie schon in den Vorjahren habe die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung 2017 stärker zugenommen als die Erwerbstätigkeit. Dagegen seien die sogenannten „übrigen Formen der Erwerbstätigkeit“ – das sind z.B. geringfügige Beschäftigung oder Selbstständigkeit – weiterhin rückläufig gewesen.

Die Marginalitätsquote sinkt

Diese Information ist vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktdiskussionen der vergangenen Jahre von besonderer Bedeutung. Denn damit setzt sich am aktuellen Rand der Entwicklung ein Trend fort, der ein oftmals kritisiertes Muster der Vergangenheit relativiert, nach dem die zusätzliche Beschäftigung vor allem über „atypische“ Beschäftigungsverhältnisse aufgebaut wird – also vereinfacht gesagt zwar neue Jobs entstehen, diese aber prekär und von schlechter Qualität sind.

In der Vergangenheit war das tatsächlich so – aber bereits seit einigen Jahren hat sich bei den Beschäftigungszunahmen etwas verändert. Diese Entwicklung lässt sich gut an der sogenannten „Marginalitätsquote“ ablesen, die das Verhältnis von marginaler Beschäftigung zur Gesamtzahl der Arbeitnehmer angibt:

Abbildung aus: Christoph-Martin Mai & Florian Schwahn: Erwerbsarbeit in Deutschland und Europa im Zeitraum 1991 bis 2016.

Aus dieser Grafik und der dazugehörigen Analyse des Statistischen Bundesamtes wird deutlich, dass sich seit der Wiedervereinigung zwei Zeiträume unterscheiden lassen:

Zwischen 1991 und 2007 gab es einen erheblichen Anstieg der marginalen Beschäftigung um rund 3,4 Millionen. Die quantitativ wesentliche Gruppe waren dabei die „geringfügig entlohnt Beschäftigten“. Dagegen nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im gleichen Zeitraum sogar stärker ab: Zwar gab es mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Teilzeit, die Beschäftigungsgewinne wurden durch Rückgänge bei der Vollzeitbeschäftigung aber mehr als kompensiert. Der damalige Bedeutungsgewinn der marginal Beschäftigten wird daran erkennbar, dass deren Anteil gemessen an allen Arbeitnehmern mit 17,1% ausgewiesen wird. Die Marginalitätsquote lag zu diesem Zeitpunkt mehr als doppelt so hoch wie im Jahr 1991.

Das deutsche Jobwunder ist vor allem auch ein Teilzeitwunder

Zwischen den Jahren 2006 und 2016 verlief die Marginalitätsquote in ihrer Entwicklung dann aber zumeist rückläufig, während die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wieder verstärkt zunahm. Dieser Anstieg vollzog sich sowohl bei den Vollzeit- wie auch den Teilzeitbeschäftigten, war bei Letzteren aber höher – die Rekordentwicklung bei der Erwerbstätigkeit seit dem Jahr 2006 ist somit überwiegend auf den Anstieg der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Teilzeit zurückzuführen. Das deutsche Jobwunder ist also vor allem auch ein Teilzeitwunder.

Die Marginalitätsquote ist dagegen gegenüber 2006 um rund 3 Prozentpunkte zurückgegangen und lag im Jahr 2016 bei 13,8%, während die Teilzeitquote 2015 mit 26,8% ihren bisherigen Höchststand erreichte. Damit liegt die deutsche Teilzeitquote weit über dem EU-28-Durchschnitt von 19,0%. Lediglich in den Niederlanden (46,9%) und in Österreich (27,7%) war Teilzeitbeschäftigung noch stärker verbreitet. „Der Anstieg der Teilzeitquote ist langfristig: Im Jahr 1991 betrug die Quote noch 14,3%“, heißt es zudem beim Statistischen Bundesamt.

Zu vergleichbaren Befunde war ich im letzten Jahr in einer Analyse zum deutschen Arbeitsmarkt gekommen, in der ich unter anderem die folgende Abbildung verwendet hatte:

*) Erwerbstätige = Kernerwerbstätige: nur Erwerbstätige im Alter von 15 bis 64 Jahren, nicht in Bildung oder Ausbildung oder einem Wehr-/Zivil- sowie Freiwilligendienst. **) Solo-Selbstständige = Teilgruppe der ebenfalls ausgewiesenen Selbstständigen insgesamt. Der Wert für die geringfügig Beschäftigten (2015 = 357,6) wird hier nur nachrichtlich ausgewiesen, der Höhepunkt lag im Jahr 2007 mit 422,9. Datenquellen: Statistisches Bundesamt, Ergebnisse des Mikrozensus, eigene Berechnungen.

In dieser Grafik erkennt man ebenfalls, dass die Zahl der „Normalarbeitnehmer“ nach 1991 abgenommen hat. Eine Trendwende dieses Abbauprozesses ist ab 2007 und mit einer gewissen Dynamik vor allem seit 2011 zu erkennen – was sicher die insgesamt gute Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre in Verbindung mit den Engpasserfahrungen eines Teils der Unternehmen, die vor allem auch demografisch bedingt sind, widerspiegelt. Am aktuelle Rand der Entwicklung nehmen die Vollzeitstellen im sozialversicherungspflichtigen Bereich hinsichtlich ihres Beitrags zur Zahl der zusätzlichen Erwerbstätigen wieder zu.

Die veränderte allgemeine Arbeitsmarktlage schlägt sich auch bei der Entwicklung der Selbständigen und darunter bei der Gruppe der Solo-Selbständigen nieder. Deren Zahl hat sich bis 2012 stark erhöht. Seitdem geht sie wieder zurück, was auch den Rückgang bei den Selbständigen insgesamt erklären kann – sicher auch deshalb, weil bisherige Solo-Selbständige, die sich eher aus der Not heraus selbständig gemacht haben, nun wieder in abhängige Beschäftigungsverhältnisse wechseln.

Aber auch aktuell entfallen die meisten zusätzlichen Erwerbstätigen auf den Bereich der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeit. Die langjährige Entwicklung wird somit fortgeschrieben. Die folgende Abbildung verdeutlicht den weiter anhaltenden Bedeutungsgewinn der Teilzeitbeschäftigung durch einen Vergleich mit der Entwicklung des Arbeitsvolumens. Letzteres hatte 2016 (für 2017 gibt es noch keine Daten) gerade einmal das Niveau nach der Wiedervereinigung erreicht – gleichzeitig ist die Zahl der Erwerbstätigen deutlich angestiegen.

Womit wir wieder einmal bei einem überaus relevanten und nicht zu unterschätzenden Aspekt angekommen wären: Wenn auch jetzt wieder in den meisten Medienberichten davon gesprochen wird, dass über 600.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind, dann muss man immer im Hinterkopf behalten, dass sich viele Menschen darunter eine bestimmte Form der Beschäftigung vorstellen, die dem entspricht, was die Statistiker einen „Normalarbeitnehmer“ nennen – also einen vollzeitig, unbefristet und  halbwegs „ordentlich“ entlohnten Beschäftigten. Diese sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung hat tatsächlich seit 2011 (wieder) zugenommen, aber sie ist eben nur eine Teilmenge dessen, was sich unter der Kategorie „Erwerbstätige“ subsumiert.

Die Zahl der Erwerbstätigen sagt nicht zwangsläufig aus, dass sich hinter dieser Zahl auch halbwegs „normale Jobs“ verbergen

Der entscheidende Punkt: Die Zahl der Erwerbstätigen sagt nicht zwangsläufig aus, dass sich hinter dieser Zahl auch halbwegs „normale Jobs“ verbergen. Das kann so sein, muss aber nicht, wie ein etwas zugespitztes Beispiel verdeutlichen soll: Eine vollzeitbeschäftigte Mitarbeiterin im Einzelhandel (bislang also = 1 Erwerbstätige) wird durch zwei teilzeitbeschäftigte Verkäuferinnen (= 2 Erwerbstätige) oder gar durch vier geringfügig Beschäftigte (= 4 Erwerbstätige) ersetzt – obgleich die Arbeitszeit (40 Stunden pro Woche) gleichgeblieben ist.

Sozialpolitische Brisanz

Auch mit Blick auf die aktuelle Beschäftigungsentwicklung sehen wir weiterhin – trotz des ebenfalls beobachtbaren Anstiegs der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeit – einen weiteren Bedeutungsgewinn der (sozialversicherungspflichtigen) Teilzeitarbeit. Das kann man durchaus begrüßen, denn oftmals handelt es sich tatsächlich auch um die von den Betroffenen gewünschte Arbeitszeitform. Aber man muss dann auch konsequent an die sozialpolitisch relevanten Implikationen erinnern:

  • Zum einen gibt es eine geschlechterpolitische Dimension, denn Teilzeit ist immer noch primär eine Sache der Frauen.
  • Hinzu kommt, dass Teilzeitarbeit überdurchschnittlich stark in Branchen vertreten ist, in denen es ein niedriges Lohnniveau gibt – und selbst innerhalb der Branchen konnten Studien zeigen, dass es einen Lohnunterschied zwischen Arbeitnehmern in Teil- und Vollzeit gibt.

Sozialpolitisch besonders brisant ist die Tatsache, dass wichtige Teile unseres sozialen Sicherungssystems, von der Arbeitslosenversicherung bis hin (vor allem) zur Rentenversicherung, auf dem Modell der möglichst ohne Unterbrechungen praktizierten Vollzeit-Erwerbsarbeit mit einer (mindestens) durchschnittlichen Vergütung basieren. Man denke hier nur an die Mechanik der Rentenformel: In der gesetzlichen Rentenversicherung hat man keine reale Chancen, eigenständig ausreichende Sicherungsansprüche aufzubauen, wenn man „nur“, und das über längere Zeiträume, Teilzeit arbeitet.

In Kombination mit den Merkmalen „Frauen“ und „Niedriglöhne“ hat man dann – wenn keine anderweitige abgeleiteten ausreichenden Sicherungsansprüche existieren oder diese wegbrechen – eine sichere Quelle zukünftiger Altersarmut. Anders formuliert: Wenn man die zunehmende Teilzeiterwerbsarbeit als eine gute Entwicklung interpretiert, dann muss man auch unsere sozialen Sicherungssysteme auf dieses expandierende Beschäftigungsmodell ausrichten und umstellen. Ansonsten fahren hier zwei sozialpolitische Züge aufeinander zu.

Der Fachkräftemangel

Interessant bei der aktuellen Berichterstattung ist, dass es nicht nur Jubelmeldungen über das andauernde deutsche „Jobwunder“ gibt, sondern in vielen Beiträgen sogleich mahnend der Finger gehoben und von einem bevorstehenden bzw. bereits immer stärker zu Tage tretenden „Jobdilemma“ gesprochen wird. Stellvertretend heißt es etwa in einem Kommentar in der Welt:

„Die boomende Konjunktur hat ihre Schattenseite. Es gibt enormen Fachkräftemangel, was die Betriebe an der Expansion hindert. Und die Langzeitarbeitslosen werden nicht weniger. Es droht eine Spaltung …  Der Fachkräftemangel erfasst immer mehr Regionen und Branchen … Trotz guter Konjunkturlage gelingt es bisher nicht, einen Großteil der Langzeitarbeitslosen in Lohn und Brot zu bringen … Deutschland droht damit in Zukunft ein zunehmend gespaltener Arbeitsmarkt mit wachsendem Fachkräftemangel auf der einen Seite und einer nicht kleinen Gruppe kaum vermittelbarer Transferempfänger auf der anderen.“

Nun kann man – wie das viele tun – lange und intensiv darüber streiten, ob, wann und wo genau es Fachkräftemangel gegeben ist. Die Perspektive vieler Arbeitgeber ist da nachvollziehbarerweise eine andere als die der Arbeitnehmerseite.

Der entscheidende Punkt ist aber, dass ein Blick auf die Entwicklung der Arbeitsangebotsseite – gemessen am Erwerbspersonenpotenzial, also allen dem Arbeitsmarkt irgendwie zur Verfügung stehenden Personen – verdeutlichen kann, dass wir es mit einem quantitativen und teilweise weitaus bedeutsamer: mit einem qualitativen Strukturbruch zu tun haben, der bereits seit Jahren läuft: Betrachtet man nur die demografische Seite, dann verliert der deutsche Arbeitsmarkt schon seit langem jedes Jahr eine Großstadt an Arbeitskräften, die altersbedingt mehr ausscheiden als unten jüngere nachwachsen. Die folgende Abbildung verdeutlicht die Größenordnung – die sich noch weiter in den negativen Bereich ausweiten wird, denn die richtig geburtenstarken Jahrgänge werden erst in den kommenden Jahren aus dem Erwerbsarbeitsleben ausscheiden.

Quelle der Daten: Arbeitsmarktberichte des IAB; Werte für 2016 und (die Schätzwerte) für 2017 sind dem IAB-Kurzbericht 9/2017 entnommen. Die Werte schwanken deutlich, je nach Arbeitsmarktbericht des IAB. Beispiel Verhaltenseffekt: Im IAB-Kurzbericht 20/2016 findet man diese Werte: 2016 = +250.000 und 2017 = +470.000. Dieser Wert wird hier nicht verwendet, er kommt durch eine Vermischung von Verhaltens- und Migrationseffekt zustande. Dazu das IAB: In der Regel wird ein neu eingereister Flüchtling nicht sofort Arbeit suchen oder aufnehmen können. So stehen Flüchtlinge aus dem Jahr 2015 dem Arbeitsmarkt teilweise erst erheblich später zur Verfügung. Die statistischen Erfassungsprobleme von Flüchtlingen im Mikrozensus erschweren derzeit die Aufteilung des Potenzialeffekts auf Migrations- und Verhaltenseffekt. Einen Teil des angegebenen Verhaltenseffekts könnte mal als – verzögerten – Migrationseffekt auffassen.“ (Fußnote 3, S. 8)

Warum werden wir dann aber trotzdem – und bei aller notwendigen Differenzierung, Stichwort Arbeitsvolumen – mit Rekordmeldungen über die Zahl der Erwerbstätigen konfrontiert? Die Antwort kann man ebenfalls der obigen Abbildung entnehmen: Der Demografie-Effekt, der für sich allein genommen schon seit längerem zu einer erheblichen Abnahme der Beschäftigten hätte führen müssen, wurde und wird (noch) durch zwei andere Effekte kompensiert:

  • Vor allem seit 2012 wirkt der Migrationseffekt – also die Zunahme des Arbeitsangebots durch Zuwanderung, wobei wir hier nicht nur an die Flüchtlinge denken dürfen, sondern auch die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten im Blick haben sollten.
  • Und zum anderen werden positive Saldenwerte für den sogenannten Verhaltenseffekt ausgewiesen. Darunter versteht man vor allem zwei Effekte: Einerseits die Zunahme der Erwerbsbeteiligung der Frauen, hierbei vor allem der Mütter mit kleinen Kindern, sowie die der Älteren.

Die nächste Abbildung verdeutlicht die enorme Zunahme der Erwerbsquoten der 55- bis unter 60-Jährigen sowie der 60- bis unter 65-Jährigen. Wobei auch hier gilt: die Erwerbsquote berücksichtigt jede Form der Beschäftigung, also auch eine nur geringfügige Beschäftigung und die Selbständigen.

Wenn man aber nur die Anteilswerte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den höheren Altersgruppen betrachtet, dann sieht der Befund schon deutlich ernüchternder aus, was vor allem für die Renten von Bedeutung ist. Das wurde Anfang Dezember 2017 wieder kurz auf die Tagesordnung gesetzt, als die OECD ihre Studie „Pensions at a Glance 2017: OECD and G20 Indicators“ veröffentlichte. Dieser Studie war unter anderem zu entnehmen, dass in Deutschland die Beschäftigung Älterer im internationalen Vergleich in den vergangenen Jahren am meisten zugelegt hat. So habe Deutschland bei den 55- bis 64-Jährigen seit dem Jahr 2000 die Beschäftigungsrate um mehr als 30 Prozentpunkte gesteigert. Bei den 55- bis 59-Jährigen wären in Deutschland etwa 80 Prozent mehr in Beschäftigung, bei den 60- bis 64-Jährigen noch rund 56 Prozent.

Das hört sich zwar super an und ist sicherlich auch erfreulich, aber nur eine Seite der Medaille. So muss man korrekterweise darauf hinweisen, dass diese Zahlen irreführend interpretiert werden können: Würde man für nur die für die Rente entscheidende Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten betrachten, gehen nur noch etwa jeder Dritte im Alter von 60 bis 64 Jahren noch einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach und nur jeder Vierte arbeitet noch sozialversicherungspflichtig in Vollzeit. Heißt: Nur 37% der neuen Rentnerinnen und Rentner wechseln aus einer stabilen und versicherungspflichtigen Beschäftigung in den Ruhestand.

Politische Arbeitsverweigerung

Aber abschließend wieder zurück zur Abbildung mit dem Erwerbspersonenpotenzial. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die dort dargestellten Komponenten erst einmal nur Quantitäten sind: Selbst wenn man rechnerisch eine Kompensation hinbekommen könnte, bedeutet das noch lange nicht, dass das auch mit qualitativen Entsprechungen erfolgt – ob ein Berufseinsteiger oder -Umsteiger auf Anhieb das Leistungsvermögen eines erfahrenen Berufsaussteigers erlangt, ist schließlich mindestens zweifelhaft.

An dieser Stelle wird deutlich erkennbar, warum sich die in der Gleichzeitigkeit von „Jobwunder“ und „Jobdilemma“ formulierte Zunahme der Spannungen auf vielen Teilarbeitsmärkten erst am Anfang befindet. Denn viele derjenigen, die derzeit und vor allem in den kommenden fünfzehn Jahren altersbedingt aus dem Erwerbsleben ausscheiden, gehören zu den für die deutsche Volkswirtschaft so wichtigen Gruppe der Facharbeiter, Handwerker oder Angestellten mit einer qualifizierten Berufsausbildung. Allein für deren Ersatz braucht man entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte.

Wir sehen das hier relevante Problem bei vielen Flüchtlingen wie unter einem Brennglas – es gibt erhebliche Passungsprobleme mit den Anforderungen der Erwerbsarbeitswelt, was deren offene Stellen angeht. Das betrifft aber auch viele der „einheimischen“ Arbeitslosen, vor allem der Langzeitarbeitslosen, an denen die quantitativ gute Beschäftigungsentwicklung der vergangenen Jahre weitgehend vorbeigegangen ist.

Dafür gibt es viele Gründe – es gibt eben nicht „die“ Langzeitarbeitslosen. Allerdings stößt man immer wieder auf das Problem fehlender Berufsausbildungen bei den Betroffenen. Und gleichzeitig ist der potenzielle „Nachschub“ in diese Gruppe gesichert, denn unter den 20- bis 30-Jährigen haben wir zahlreiche Menschen, die über keinen Berufsabschluss verfügen und damit besonders risikobehaftet sind, von sich verfestigender Arbeitslosigkeit getroffen zu werden.

Nur ist es nicht so, als ob das nicht in den vergangenen vier Jahren massiv kritisiert wurde – viele Arbeitsmarktexperten, die einen realistischen Blick auf die Komplexität der Arbeitswelt haben, plädieren seit langem für eine massive Qualifizierungsoffensive gerade mit Blick auf die Risikogruppe der ungelernten jüngeren Arbeitnehmer bzw. Arbeitslosen. Seit Jahren wird auch hier gefordert, mit einem großzügigen Förderprogramm Anreize zu setzen, einen qualifizierten Berufsabschluss zu erwerben. Diese Investition würde sich mehrfach amortisieren. Dazu konnte sich die Politik bis heute nicht durchringen, obgleich man das Rad hier alles andere als neu erfinden müsste: Bis in die 1970er Jahre hat es so ein Programm in der Arbeitsförderung schon einmal gegeben hat.

Und mit Blick auf die Langzeitarbeitslosen wird ebenfalls seit Jahren eine vernünftig ausgestaltete öffentlich geförderte Beschäftigung gefordert, die zum einen gerade nicht in irgendwelchen arbeitsmarktfernen Nischen und zu teilweise hanebüchenen Bedingungen angeboten werden darf, sondern am, im und neben dem normalen Erwerbsarbeitsmarkt – wodurch sich eine andere Form der Qualifizierung durch „echte“ Arbeit realisieren ließe.

 Im Bereich der Langzeitarbeitslosen gibt es eine Arbeitsverweigerung der Politik

Zugleich wird hierbei für wirklich professionelle Beschäftigungsunternehmen plädiert, die als Scharnier zwischen der Welt der Langzeitarbeitslosigkeit und der Welt der „normalen“ Unternehmen fungieren, die Brücken bauen können, zugleich aber auch in der Lage sind, die besonderen Belastungen und Einschränkungen der Geförderten aufzufangen und Hilfestellungen zu geben. Dass das alles unter dem Primat der Freiwilligkeit und nicht des sanktionsbewehrten Zwangs stattfinden sollte und muss, will ich hier nur der Vollständigkeit halber zu Protokoll geben.

Das alles wird seit Jahren diskutiert und zahlreiche gute Konzepte liegen vor – wir haben kein Erkenntnis- oder Konzeptproblem, sondern schlichtweg ein Umsetzungsproblem. Immerhin findet sich inzwischen in den Wahlprogrammen aller im Bundestag vertreten Parteien die Forderung nach einer verbesserten Qualifizierung für Arbeitslose – solange diese aber nicht wirklich umgesetzt ist, kann man auch weiterhin mit Fug und Recht sagen: Im Bereich der Langzeitarbeitslosen gibt es eine Arbeitsverweigerung der Politik. Die Folgen des unterlassenen Handelns fallen uns jetzt sprichwörtlich auf die Füße und werden sich auch nicht per Knopfdruck reparieren lassen können.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.