Die Beispiele China, Ruanda und Singapur zeigen, dass autokratische Regierungen sich lange an der Macht halten können – unter der Voraussetzung, dass sie von einem „Selektorat“ effektiv kontrolliert und notfalls abgesetzt werden können. Recep Tayyip Erdogans „Karriere“ hat allerdings eher Vorbilder in den Schwellenländern Lateinamerikas. Rudi Dornbusch und Sebastian Edwards haben 1991 das typische Phantombild des Makropopulisten erstellt und die vier Phasen, die er üblicherweise durchläuft:
- In der Regel findet der Populist ein weitverbreitetes Unbehagen in der Bevölkerung über die unzureichende Wirtschaftsperformance vor, oft als Folge einer vom IWF geforderten Austeritätspolitik. Eine krasse Ungleichverteilung – denn die „Kleinen“ zahlen bei Stabilisierungsprogrammen des Fonds meistens die Zeche – fördert die Unzufriedenheit. Gleichzeitig führt ein erfolgreiches IWF-Programm wieder zu höheren Devisenreserven und geringeren Budgetdefiziten. Kasse macht sinnlich – der Ruf nach Expansion wird lauter. Die von Dornbusch und Edwards geschilderte Ausgangslage traf 2003 bei Erdogans erstem Regierungsantritt exakt zu.
- Wachstum durch Nachfragestimulierung (zur Steigerung der Popularität) und Umverteilung (zur Sicherung der Volksnähe) haben in der zweiten Phase höchste Priorität. Erdogan, der Underdog aus Istanbuls rauem Kiez Kasımpaşa, findet seinen Rückhalt insbesondere bei den „Dunklen Türken“ – den armen und strenggläubigen anatolischen Massen.
- Parallel zum Wachstums- und Verteilungspostulat (unter)schätzt der Makropopulist typischerweise die makroökonomischen Risiken der Preisinflation, der konsumtiven Defizitfinanzierung und außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte als zweitrangig ein. Notfalls verlangt die Preisberuhigung aus Sicht der Populisten nach Unterdrückung der unternehmerischen Gewinnmargen und nach Preis- und Mietkontrollen – das ist dann Phase drei. Makropopulistische Regierungen vermeiden in der Regel, dass massive Lohnsteigerungen durch Währungsabwertung aufgefangen werden. Durch die künstliche Unterbewertung der Importe (und implizit der handelbaren Agrarprodukte) wird nämlich die unruhige urbane Bevölkerung ruhig gestellt, da so die Kaufkraft ihrer Löhne steigt.
Bis auf den letzten Punkt trifft das von Dornbusch/Edwards skizzierte Phantombild für die Türkei zu. Bislang zeichnete sich das Land durch offenen Kapitalverkehr und flexible Wechselkurse aus. Das erklärt sich wohl auch damit, dass Erdogan dem ländlichen Anatolien mehr verpflichtet ist als dem urbanen Großraum Istanbuls. Im Gegensatz zum Diktum Friedrich August von Hayeks, dass Kapitalverkehrskontrollen den „Weg in die Knechtschaft“ bedeuten, ist die Türkei diesen Weg unter Erdogan mit freiem Kapitalverkehr gegangen.
Doch wie steht es um Phase vier des Phantombilds – nämlich das Ende des makropopulistischen Regimes?
Erdogans Erfolge
Als Erdogan im Jahr 2003 die Regierungsgeschäfte übernahm, befand sich die Türkei in einem vom IWF und Wirtschaftsminister Kemal Dervis gesteuerten Reformprozess. Es galt, die schwere Finanzkrise des Jahres 2001 zu überwinden. Die Früchte, etwa in Form eines steilen Anstiegs des Pro-Kopf-Einkommens, erntete wahlpolitisch vor allem die von Erdogan angeführte Regierungspartei AKP. Insbesondere außerhalb der Landwirtschaft sorgte die AKP im armen Anatolien für kräftigen Beschäftigungszuwachs. Die absolute Armutsrate (unter 4,30$ Pro-Kopf-Einkommen) reduzierte sich stetig. Erdogans Wirtschaftserfolge galten besonders im arabischen Raum als Blaupause. Gemessen an der oberen Hälfte der OECD-Mitgliedsländer konnte die Türkei wirtschaftlich aufholen, allerdings verlangsamte sich dieser Aufholprozess unmittelbar vor dem gescheiterten Militärcoup des Jahres 2016:
Erdogans Scheitern?
China hat es vorgemacht: Autokraten brauchen zur Legitimierung ein hohes Wirtschaftswachstum. Um seine Herrschaft weiterhin auf eine starke Wirtschaft zu stützen können, ließ Erdogan nach der globalen Finanzkrise 2009 und dann wieder nach dem Militärcoup Mitte 2016 die gesamtwirtschaftliche Nachfrage mit prozyklischer Geld- und Fiskalpolitik anheizen. Neben üppiger Geldversorgung und hohen Defiziten im Staatshaushalt sorgten staatliche Kreditgarantien für private Unternehmen für ein loderndes Konjunkturfeuer. Die Investitionen boomten, waren aber zunehmend schuldenfinanziert, wie die folgende Abbildung zeigt. Die steigenden Devisenschulden wurden zwar besonders von Banken und Unternehmen aufgenommen, stellen aber häufig staatliche Eventualverpflichtungen dar.
Wegen der steigenden Rechtswillkür unter Erdogan wurde das hohe Leistungsbilanzdefizit immer weniger durch Direktinvestitionen unterfüttert (zuletzt nur noch zu 15%). Die von Erdogan stimulierte Nachfrage traf auf angebotsseitige Kapazitätsengpässe. Die dadurch steigende Inflation durfte die abhängige Zentralbank nicht wirksam bekämpfen. Die Vertrauenserosion seitens der Investoren schwächte zunehmend die türkische Lira, was die Inflation weiter anheizte.
Denselben Effekt hatte die steigende Goldnachfrage seitens der Türken, die der Willkür der Erdogan-Herrschaft zunehmend misstrauten. Seit 2017 ist die jährliche Inflationsrate im zweistelligen Bereich. Es war nun nur noch eine Frage der Zeit, wann die Türkei Opfer einer Währungskrise würde, zumal der starke Dollar die Schwellenländer global belastete. Schwellenländer können nämlich nicht nur über ihre Armut oder ihr Wirtschaftswachstum definiert werden – sondern auch über ihre Abhängigkeit vom Dollarkurs.
Im heißen Sommer 2018 gab es dann für die türkische Lira kein Halten mehr. Nach seiner Wiederwahl im Juni hatte Erdogan verlautet, dass er die Konjunkturpolitik in Zukunft stärker bestimmen werde, im Juli ernannte er bezeichnenderweise seinen Schwiegersohn zum Finanzminister. Gleichzeitig überzogen sich die USA und die Türkei mit Strafzöllen, was die Lira weiter schwächte. Schließlich setzten die drei großen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit der Türkei in den Ramsch-Bereich. Beim Lira-Crash am 13. August war die türkische Währung, obwohl bereits vorher krass unterbewertet, zwischenzeitlich knapp 50% weniger wert als im Juni. Erdogans Makropopulismus war gescheitert.
Ist Erdogan damit am Ende, wie es sich viele erhoffen?
Zu klassischen Austeritätsmaßnahmen will der türkische Präsident vorerst nicht greifen. Restriktive Geldpolitik, insbesondere höhere Zinsen zur Stützung der Währung und Bekämpfung der Inflation, ist Erdogan ein Gräuel. Die Zentralbank wird an der kurzen Leine geführt, und für Erdogan sind Zinsen „Mutter und Vater allen Übels“.
In der Tat würden höhere Zinsen allenfalls kurzfristig die türkische Lira stützen – spätestens mittelfristig würden die weitgehend kreditfinanzierte Wirtschaft und die Banken kollabieren, was wiederum die Währung schwächen dürfte. Der IWF könnte die türkische Zentralbank mit ihren recht mageren Devisenreserven unterstützen, um der türkischen Wirtschaft die Refinanzierung ihrer Devisenschulden abzusichern. Auch davon will Erdogan nichts hören: „Wir wissen sehr gut, dass jene, die uns ein Geschäft mit dem IWF vorschlagen, uns eigentlich vorschlagen, die politische Unabhängigkeit unseres Landes aufzugeben“, ließ er verlauten. Denn Erdogan will sich nicht von außen domestizieren lassen.
Solange man in orthodoxen Kategorien denkt, könnte man wie Olaf Gersemann mit Bezug auf Dornbusch und Edwards schon mal frohlocken: „Populismus? Scheitert. Immer!“ Gersemann hat Dornbusch und Edwards freilich nicht bis zum Ende gelesen: Diese weisen nämlich (in durchaus orthodoxer Manier) darauf hin, wie Populisten auf Dauer Erfolg haben können: mit reichlich Devisenreserven, angebotsorientierter Wachstumspolitik (statt kurzfristiger Konjunkturstimulierung), Beachtung einheimischer Kapazitätsengpässe und guter Steuerverwaltung zur Sicherung einer soliden Fiskalpolitik.
Erdogan hat aber nicht nur orthodoxe Instrumente zur Hand, um sich bis zu seinem gewünschten Abschied im Jahre 2025 an der Spitze zu halten. Unlängst war der russische Außenminister zu Besuch, und das katarische Herrscherhaus hat bereits 15 Milliarden US-Dollar versprochen. Das sind zwar nur etwa 10% der im kommenden Jahr fälligen Verbindlichkeiten. Doch im Bereich der globalen Entwicklungsbanken (AIIB, NDB) und mit Chinas neuer Seidenstraße haben sich mächtige Ressourcen abseits des vom Westen dominierten multilateralen Finanzsystems aufgetan. Der „Charme“ dieser neuen Geldgeber für Autokraten wie Erdogan ist, dass die Gouvernanz-Rhetorik um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit keine Rolle spielt.
Zudem könnte Erdogan auf Kapitalverkehrskontrollen zurückgreifen. Ein erfolgreich praktiziertes Beispiel finden sich dafür etwa in Malaysia: Premierminister Mahathir hatte 1997 während der sogenannten Asienkrise die spekulativen Angriffe von George Soros‘ Quantum Fund mit strengen Kapitalverkehrskontrollen beantwortet und damit Malaysia vor dem Ruin gerettet. Kapitalausfuhrkontrollen machen allerdings für Erdogan nur Sinn, wenn das externe Defizit der Türkei auf ein Maß zurückgeführt wird, das sich durch die neuen Geldgeber finanzieren lässt. Das sollte jedoch mit einem Maß von Austerität zu schaffen sein, die Erdogans Machtstellung nicht ins Wanken bringt.
Mein Fazit: Erdogan ist noch lange nicht am Ende. Leider.
Zum Autor:
Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die unabhängige entwicklungspolitische Beratungsfirma ShiftingWealth Consulting und den Blog Weltneuvermessung, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist. Auf Twitter: @HrReisen