Chinas Belt and Road Initiative

Drei Gründe, warum der Westen seine Einstellung zur neuen Seidenstraße überdenken sollte

Viele im Westen haben noch immer Schwierigkeiten damit, China als maßgeblichen Akteur in das eigene Weltbild zu integrieren, was sich auch im Umgang mit der „Belt and Road Initiative“ zeigt. Diese könnte der Westen als Chance nutzen, die Schwächen des eigenen Globalisierungsmodells offen einzugestehen und sich im Dialog mit China ein Stück weit neu zu erfinden. Ein Kommentar von Thomas Bonschab.

Während des letzten Wirtschaftsgipfels in Davos soll der Vorstandsvorsitzende von Siemens, Joe Kaeser, mahnend gesagt haben:

„The China One Belt, One Road is going to be the new W.T.O. — like it or not“.

Es sind die Worte eines Industriekapitäns, der im transatlantischen Denken sein Zuhause hat und der vielen aus Politik und Wirtschaft aus der Seele zu sprechen scheint. Leben wir bald in einer neuen Welt nach chinesischen Regeln? In einer Welt, in der westlichen Staaten und Unternehmen bestenfalls eine Rolle in der zweiten Reihe zugestanden wird?

Solche und ähnliche Ängste sind kennzeichnend für die aktuelle Debatte um Chinas „Belt and Road Initiative“ (BRI), die oft auch als „neue Seidenstraße“ tituliert wird. Viele im Westen haben noch immer Schwierigkeiten damit, China als maßgeblichen Akteur in das eigene Weltbild zu integrieren. Noch schwieriger scheint der Schritt zu der Erkenntnis, dass dieser neue Akteur mit anderen Methoden, Grundsätzen und Instrumenten verfährt als dies im Westen üblich ist.

Es mag in vielen Fällen daran liegen, dass zwei intellektuelle Welten aufeinandertreffen. In der chinesischen Politik, wie auch in der chinesischen Bevölkerung zweifelt kaum jemand an der offiziellen Selbstdarstellung, dass es sich bei der BRI um ein friedvolles Angebot an die Welt handelt – um das Angebot eines Landes, das es selbst gerade aus der Armut geschafft hat und nun andere daran teilhaben lassen will. Viele im Westen hingegen sehen in dieser Politik nur eine knallharte geopolitische Strategie, deren Umsetzung die eigene demokratische Wertevorstellung und den eigenen Wohlstand gefährdet.

Beide Darstellungen sind wenig hilfreich. Es würde vielen im Westen das Verständnis erleichtern, wenn China seinen globalen Gestaltungsanspruch hinter der BRI nicht kontinuierlich kleinredete. Zugleich wünscht man vor allem den vielen Transatlantikern im Westen einen Blick auf die offenkundigen Missstände des eigenen Globalisierungsmodells und auf die wirtschaftlichen und politischen Opportunitäten, die sich aus der BRI ergeben.

Für eine vernünftige Positionierung des Westens gegenüber der BRI sollten vor allem folgende drei Gesichtspunkte berücksichtigt werden:

1.

Die BRI ist keine sorgfältig ausgearbeitete geopolitische Strategie der chinesischen Führung. Zu der Befürchtung, die chinesische Regierung verfolge einen geopolitischen Masterplan trägt sie selbst bei. Kaum eine Erläuterung der Initiative kommt ohne die übliche unten stehenden Landkarte aus. Sie zeigt die historischen Landwege und die maritimen Wege, die China mit weiten Bereichen Asiens und Europa in früheren Zeiten verbunden hat.

Quelle: MofCom (2016)

Die Darstellung macht das Projekt anschaulich, mit klaren Zielsetzungen und Routen. Sie stiftet aber, zumindest für westliche Beobachter, mehr Verwirrung als Aufklärung.

Das fängt schon mit den mehrfachen Namensänderungen an. Im Jahr 2013 als „Economic Belt along the Silk Road“ eingeführt, wurde noch im selben Jahr die „21st Century Maritime Silk Road“ ergänzt, die auch Länder Südostasiens und Nordafrikas einschließt. Daraus entstand der lange Zeit gebräuchliche Name „One Belt, One Road“. Die heute verwendete Formulierung lautet „Belt and Road Initiative“ – mit ausdrücklicher Betonung, dass es sich hierbei um keine „Strategie“ oder „Agenda“ handelt.

Mit den Namensänderungen hat sich auch die Liste der in der Initiative inbegriffenen Länder geändert. Längst losgelöst von der historischen Seidenstraße umfasst die Initiative heute auch Länder Zentralafrikas, Südeuropas und künftig wohl auch Lateinamerikas.

Die globale Neuaufstellung Chinas folgt dem bewährten Prinzip „crossing the river by feeling the stones“

Zudem ist für westliche Beobachter schwer zu bestimmen, welche Projekte genau unter der BRI zu erfassen sind. Aus den Dokumenten der chinesischen Regierung lässt sich zumindest keine klare Struktur entnehmen. Wer es dennoch versucht, muss damit umgehen können, dass gerne auf eine Reihe afrikanischer Infrastrukturprogramme verwiesen wird, die zu einer Zeit geplant und begonnen wurden, als noch lange nicht von der BRI (oder einem Vorgängernamen) die Rede war.

Mehrfache Namensänderungen, wechselnde regionale Umspannung, eine gewisse Sportlichkeit in der zeitlichen Zuordnung – das alles spricht nicht für eine sorgfältig ausgearbeitete Strategie. Zumindest nicht im westlichen Sinne.

Statt von einer Strategie sollte man daher lieber von einem offenen Prozess sprechen. Das entspräche auch einem vertrauten Muster, das bei allen – nationalen und internationalen – Veränderungsprozessen des Landes zu finden ist. Die globale Neuaufstellung Chinas folgt dem bewährten Prinzip „crossing the river by feeling the stones“ – ein Prozess des Herantastens und der kontinuierlichen Anpassung der Zielsetzungen und der Instrumente. Gerade weil bei diesem Vorgehen nichts strategisch in Stein gemeißelt zu sein scheint, ist es so wichtig, wie westliche Länder darauf reagieren und die BRI mitgestalten.

2.

Die BRI bietet ein alternatives Modell für die Globalisierung. Aber wenn die BRI wie gezeigt keine Strategie im herkömmlichen Sinne ist, wie ist sie dann im globalen Kontext einzuordnen? Die chinesische Regierung gibt sich betont zurückhaltend. In keinem Fall soll der Eindruck erweckt werden, China verfolge mit der BRI einen Systemexport oder gar das Ziel, die bestehenden, westlich geprägten, globalen Regeln zu ersetzen. Offizielle Quellen wie etwa der chinesische Botschafter in Deutschland sprechen lieber von der Bereitstellung eines „öffentlichen Gutes“ und einem „Win-Win-Angebot“ an die entsprechenden Länder.

Auch diese Selbstdarstellung Chinas stiftet für das westliche Verständnis mehr Verwirrung als Aufklärung. Vor allem vermittelt sie die BRI unter ihrem Wert, weil sie den Innovationscharakter für künftige Globalisierungsprozesse nicht herausstreicht. Sicher: Wie sehr die BRI tatsächlich neue Perspektiven für die wirtschaftliche und politische Integration der betroffenen Länder bieten kann, wird sich erst historisch zeigen. Hier als Beispiel nur einige Ansatzpunkte, die für eine künftige Beurteilung von Relevanz sein dürften:

  • Bislang scheint es, als würden die Infrastrukturmaßnahmen im Rahmen der BRI die Hauptursache der letzten westlich geprägten Wirtschaftskrisen vermeiden können: Investitionen in die Zielländer sind eher langfristig angelegt, in Vermeidung spekulativer Prozesse jenseits der Realwirtschaft. Die renommierten chinesischen Ökonomen Justin Yifu Lin und Yan Wang sprechen in diesem Zusammenhang vom komparativen Vorteil des „geduldigen Kapitals“, das in den Projekten eingesetzt wird. Gelingt es der BRI besser als dem westlich geprägten Globalisierungsmodell, in den strukturschwachen Zielregionen der Realwirtschaft zu dienen?
  • Es sollte schon heute als eine Innovation gesehen werden, dass nennenswerte Kapitalinvestitionen und Technologieexporte in viele der Zielländer der BRI überhaupt wieder möglich scheinen. Auf Dauer wird sich der Beitrag der BRI aber daran bemessen, ob es gelingt, den Ländern nicht nur die dringend erforderliche Infrastruktur zu bringen, sondern ob sie ihnen zugleich einen Ausweg aus den bestehenden globalen Zulieferketten bietet. Kann die BRI die internationale Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie durchbrechen?
  • Voraussichtlich eine der zentralen Fragestellungen wird sich auf die Konfliktwirkung der BRI beziehen. Kann das Vorgehen Chinas als ein Entwicklungsmodell für islamische Länder wie Iran oder Pakistan dienen? Was werden die Effekte auf Terrorismus, Fremdenhass, ethnische Spannungen und autoritäre Regime sein?

Es ist offensichtlich, dass China mit der BRI auch nationale Ziele verbindet, die seinen eigenen Interessen dienen und in Konkurrenz zu westlichen Interessen stehen. Hierzu gehören der Bau von Militärstützpunkten, der internationale Abbau von industriellen Überkapazitäten, die staatliche geförderte Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Firmen und vieles mehr. Über jeden dieser Punkte sollte man sich kritisch auseinandersetzen.

Für die zwei im Westen am häufigsten zu beobachtenden Reaktionen dürfte eine solche kritische Auseinandersetzung indes nur bedingt Substanz liefern. Schon gar nicht für die Heraufbeschwörung eines chinesischen Generalangriffs auf die Werte der Freiheit und Demokratie (so Ex-Außenminister Gabriel auf der Münchner Sicherheitskonferenz), verbunden mit einer Solidarisierung der vermeintlichen Opferländer der BRI (wie etwa der vom deutschen Botschafter in Delhi geforderte „Verteidigungspakt mit Indien“).

Ernster zu nehmen ist da schon der in politischen und wirtschaftlichen Kreisen diskutierte Versuch, einen westlichen Gegenentwurf zur BRI zu entwickeln – im Umfang vergleichbar mit der BRI, und im Verbund mit Frankreich gegebenenfalls mit erheblicher politischer Bedeutung. Eine solche Initiative müsste allerdings eine von den bisher gängigen Praktiken abweichende Vision entwickeln, die für die Zielländer attraktiv ist und ihnen ein besseres Globalisierungsmodell vorschlägt als in der Vergangenheit. Allein die Einrichtung eines Fonds für Kapitalinvestitionen würde keine ernsthafte Gegenperspektive bieten.

In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, sich in der Rhetorik des Systemwettbewerbs gegen die BRI zu stellen, statt sich mit China an den Verhandlungstisch zu setzen und die Grundregeln der Initiative zu beeinflussen. Ein gemeinsamer Auftritt von Macron und Merkel in Peking würde schon einen großen Unterschied machen. Derzeit nutzt der Westen leider die BRI noch nicht als Chance, die Schwächen des eigenen Globalisierungsmodells offen einzugestehen und sich im Dialog mit China ein Stück weit neu zu erfindet.

3.

Besonders deutsche Unternehmen können von der BRI profitieren, sie brauchen dafür aber Unterstützung. Die prinzipiellen Geschäftsopportunitäten, die sich für westliche Unternehmen im Rahmen der vielen Infrastrukturprojekte ergeben, bilden große Teile der Wertschöpfung ab. Sie können:

  • als Investoren auftreten – eigenständig oder im Verbund mit chinesischen Unternehmen,
  • als Zulieferer von Technologie für chinesische Investoren auftreten oder
  • als Experten im internationalen Projektmanagement, um auf diesem Weg eine der Hauptschwächen der international meist unerfahrenen chinesischen Unternehmen zu kompensieren.

Deutsche Unternehmen sind wegen ihrer Technologiekompetenzen von chinesischer Seite (noch) gefragt. Man sollte also annehmen, dass sich viele entsprechende Projekte in Vorbereitung befinden.

Warum passiert das in der Realität nicht? Ein Grund mag sein, dass westliche Unternehmen der Risikoseite (Vertragsunsicherheiten, Produktklau etc.) oft mehr Gewicht verleihen als den dahinterstehenden Opportunitäten (neue Absatzmärkte, schnellere Transportwege etc).

Eine weitere Erklärung dürfte darin liegen, dass besonders mittelständische Technologieunternehmen (die berühmten „Hidden Champions“) interkulturell und hinsichtlich der Projektkomplexität oft überfordert sind.

Der gewichtigste Grund aber ist der fehlende Zugang zu entsprechenden Finanzierungen. Präzise Daten über aktuelle Kapitalströme in die BRI-Länder sind derzeit zwar nicht erhältlich. Ein realitätsnahes Bild dürfte aber in etwa so aussehen, wie folgende Zusammenstellung aus Unternehmensbefragungen, Oxford Economics und der Financial Times.

Quelle: Deloitte Insights, Embracing the BRI Ecosystem in 2018. Navigating Pitfalls and Seizing Opportunities.

Die Grafik zeigt, dass ein Großteil der Kredite derzeit nur chinesischen Firmen offen steht. Und falls dem doch nicht so sein sollte: Wer kennt sich schon in dem Dschungel aus, über politische Verbindungen und Joint Ventures an Kredite von chinesischen Staatsbanken oder der CDB und Exim Bank zu kommen? Ein Zugang ist für westliche Unternehmen zwar nicht unmöglich, kommt aber einem Meisterstück gleich. Die multilateralen Banken, AIIB und NDB, sind hier deutlich offener, befinden sich aber erst im Aufbau. Will man nicht die oben beschriebenen Wege der Fundamentalopposition zur BRI oder den des Aufbaus alternativer Strukturen gehen, liegt ein stärkeres Engagement des Westens in eben diesen multilateralen Banken nahe.

Mindestens genauso wichtig aber ist es, westliche Unternehmen darin zu befähigen, an komplexen Projekten der BRI zu partizipieren. Dies trifft insbesondere auf die deutschen „Hidden Champions“ zu, die zwar marktführende Technologien anzubieten haben, aber schon aufgrund mangelnder Informationen und politischer Unterstützung nicht in der Lage sind, den chinesischen Unternehmensagglomeraten und Finanzierungsinstrumenten entgegenzutreten. Sie brauchen die Unterstützung der Bundesregierung und der EU insgesamt. Warum nicht mit den vorhandenen wirtschaftspolitischen Instrumenten den Mittelstand ermutigen, geschlossener aufzutreten und damit überhaupt erst eine starke Verhandlungsposition aufzubauen? Ein entsprechendes Unterstützungs- und Serviceangebot der Politik ist bislang kaum vorhanden.

Losgelöst von der defensiven Rhetorik in der chinesischen Selbstdarstellung, sollte der Westen aber natürlich nicht die Augen davor verschließen, dass die BRI nicht nur den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Chinas widerspiegelt, sondern auch vernünftige Innovationen für eine künftige Globalisierung ermöglicht. Europa z.B. könnte sich darüber politisch wiederfinden und an der Initiative im kritischen Dialog mit China mitwirken. Deutsche und europäische Unternehmen sind auf diesen Sinneswandel angewiesen, denn ohne politische Unterstützung wird es ihnen auf Dauer nicht gelingen, auf Augenhöhe mit China mitzuspielen.

 

Zum Autor:

Thomas Bonschab ist Gründer und Managing Director des Thinktank TiNC International. Zudem betreibt er gemeinsam mit Helmut Reisen und Robert Kappel den Blog Weltneuvermessung, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.