Die Ökonomie ist eine weiche, aber prätentiöse Sozialwissenschaft, die gelegentlich durch Selbstzweifel verunsichert ist. Spätestens seit Ausbruch der globalen Finanzkrise vor zehn Jahren nimmt sie eine stark introspektive Haltung ein. Das Marktdogma der 1980er Jahre (staatlicher Rückzug aus dem öffentlichen Dienst, Kürzung der Sozialleistungen, deregulierte grenzenlose Finanzen, privatisierte Renten, geschwächte Arbeitnehmerrechte) – manchmal unpräzise als „Neoliberalismus“ bezeichnet – hat einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Das Wachstum in den fortgeschrittenen Ländern war gering, krisenanfällig und ungerecht. Heute sind allein in der EU und den USA mehr als 12 Millionen Menschen von absoluter Armut betroffen. In Deutschland erlitt das untere Drittel der Bevölkerung zwischen 1991 und 2014 reale Einkommensrückgänge.
Das Paradigma des freien Marktes wurde lange Zeit als einziger Weg zum Wohlstand überverkauft. Aber das „Ende der Geschichte“ – sprich: die westliche Zivilisation als die natürliche Ordnung der modernen Welt – blieb ein Trugbild. In den westlichen Marktwirtschaften kam es zu Abstoßungsreaktionen gegen die Globalisierung und zu Wahlerfolgen nationalistischer Parteien. Stattdessen verbreitete sich staatlich gelenkter Wohlstand in Asien. In China wurde die absolute Armut in den vergangenen vier Jahrzehnten um 800 Millionen Menschen verringert und ist in den Städten fast ganz verschwunden. Erfolg durch Entwicklungsstaat: Singapur hat es vorgemacht, Ruanda macht es jetzt nach.
Die Besorgnis über die Mittelschicht in den fortgeschrittenen Ländern hat Engpässe geortet – im F&E-Bereich, bei der industriellen Aufrüstung und bei der Kompetenzentwicklung. Industriepolitik und ortsbezogene Regionalpolitik kommen wieder in Mode. Neue Initiativen versuchen, ein neues wirtschaftliches Paradigma zu finden – aber eine neue einende Formel ist nicht in Sicht. Vielmehr scheint die Debatte derzeit im Nebel ungezügelter Komplexität verloren zu gehen. Dafür gibt es meiner Meinung nach drei Gründe: Die westliche Debatte über ein neues ökonomisches Paradigma hat sich zu wenig von der Entwicklungstheorie, dem Aufstieg der Entwicklungsstaaten und der Verlagerung des Schwerpunkts der Weltwirtschaft nach Asien inspirieren lassen. Gehen wir diese Argumente der Reihe nach durch.
1.) Die Entwicklungstheorie
In den 1940er und 1950er Jahren entstand eine lebhafte Debatte über die Entwicklung der neuen unabhängigen Nationen, die gerade die Kolonialherrschaft überwunden hatten. Die Entwicklungsökonomie war geboren: Theorien, die sich auf einen von Außeneffekten getriebenen Tugendkreis konzentrierten. In „The Fall and Rise of Development Economics“ destillierte Paul Krugman grundlegende Erkenntnisse der Entwicklungsökonomie. Er datiert den Beginn der („hohen“) Entwicklungsökonomie mit Rosenstein-Rodans Big-Push-Modell (1943) und dessen Ende mit den Rückwärts-/Vorwärtsverknüpfungen von Hirschmans Entwicklungsmodell (1958). Dazwischen entstanden Lewis´ Arbeitsmarktmodell (1954), das den Dualismus betonte, und Myrdals Polarisationstheorie (1957). Krugman hätte noch Gerschenkrons Betonung der Industrialisierung (1962) als entscheidend für den Aufholprozess hinzufügen können.
Diese frühen Beiträge können uns heute bei der Suche nach einem neuen wirtschaftlichen Paradigma helfen. Denn die Entwicklungstheorie betont die selbstverstärkende Entwicklung durch externe Effekte und zunehmende Skaleneffekte, die Entwicklungsfallen einer übermäßigen Außenhandelsspezialisierung, die Bedeutung der öffentlichen Infrastruktur und der öffentlichen Bereitstellung von Bildung, Innovation und Technologie sowie das hohe Produktivitätspotenzial der Urbanisierung bei dualistischen Arbeitsmärkten.
Einige Länder, so die frühe Entwicklungstheorie, blieben unterentwickelt, weil es ihnen nicht gelang, einen positiven Kreislauf in Gang zu bringen – sie blieben somit auf niedrigem Entwicklungsniveau stecken. Diese Analysen lieferten ein starkes Argument für den Staatsaktivismus als Mittel zum Ausbruch, insbesondere für den Aufbau einer harten Infrastruktur und die Bereitstellung einer allgemeinen öffentlichen Bildung. Im Gegensatz dazu ist heute die Einstellung zum Staat in den meisten fortgeschrittenen Ländern nach wie vor viel ablehnender als noch bis zur Mitte der 70er Jahre.
2.) Der Aufstieg der Entwicklungsstaaten
Bis vor kurzem wurde die Fähigkeit des Staates, wirtschaftliche Ziele zu erreichen, routinemäßig verunglimpft. Aber was lehren uns Singapurs Aufstieg an die Welteinkommensspitze, Chinas ununterbrochen schnelles Wachstum über vierzig Jahre hinweg trotz aller kollabierten Kollaps-Szenarien und Ruandas Entwicklungserfolg aus der Asche des blutigen Völkermords? Lassen Sie sich vom Aufstieg des Entwicklungsstaates inspirieren, auch wenn Ihre Bauchgefühle Autokraten verachten. Im Hinblick auf Wirtschaftswachstum, Gesundheit und Bildung haben „verantwortliche Autokratien“ die Demokratien übertroffen, solange die autokratische Führung leistungsabhängig war und durch ein „Selektorat“ gestürzt werden konnte.
In seinem neuen Buch „Developmental States” rezensiert Stephan Haggard das Konzept des Entwicklungsstaates, das sich herausgebildet hat, um das schnelle Wachstum einer Reihe von Ländern in Ostasien zu erklären. Ergebnis: In einer zweitbesten Welt mit erheblichen Marktmängeln können staatliche Eingriffe kollektive Handlungs- und Koordinierungsprobleme unter Einbeziehung privater Akteure und der Zivilgesellschaft in einem iterativen Prozess besser als der Markt lösen. Auf der Grundlage eines großzügigen staatlichen Angebots an harter und weicher Infrastruktur wird eine wirksame Industriepolitik geschmiedet, die durch gezielte Handelsinterventionen und ausländische Direktinvestitionen unterstützt wird. Regierungen, die in der Lage sind, einen für die Innovationsförderung notwendigen geduldigen, langfristigen und strategischen Ansatz zu verfolgen, sollten eine unerschrockene Rolle als „Investor erster Zuflucht“ einnehmen und als proaktiver Investor bei wichtigen Innovationen mit angemessener Gewinnbeteiligung agieren.
Um die allgegenwärtige Einflussnahme durch private Lobbys zu überwinden, erlegt der Entwicklungsstaat privaten Akteuren Disziplin auf. Eine solche Disziplin hat sich nicht nur für eine effektive Industriepolitik als notwendig erwiesen, sondern auch für den Übergang zu einer stärker marktorientierten Politik. Wie Danny Quah in einem faszinierenden Ted Talk erklärt, ist der starke und verantwortungsbewusste Entwicklungsstaat eher pflichtorientiert als rechtebasiert – jedoch ist diese Alternative zur liberalen Demokratie weit entfernt von der Karikatur, die sie manchmal als korrupte, extraktive, raubgierige Struktur zeichnet.
3.) Die zunehmende Bedeutung Asiens
Historisch gesehen findet der Aufstieg und Fall von Supermächten zuerst in der Wirtschaft statt, dann in Paradigmen und Politik, schließlich militärisch. Die Verbreitung des asiatischen Wirtschaftsparadigmas trifft jedoch auf einige Stolpersteine in den Ländern auf beiden Seiten des Atlantiks: Englischsprachige Verlage neigen immer noch dazu, die Analyse globaler Angelegenheiten aus einer eurozentrischen Perspektive zu fördern: Nicht-westliche Denker werden oft nicht ins Englische übersetzt, und wissenschaftliche Artikel über China scheinen oft die China-Phobie zu schüren oder das Risiko einer Krise oder eines Zusammenbruchs überzubewerten.
Dagegen müsste eine von Asien inspirierte Wirtschaftspolitik die Betonung auf Effizienz mindern sowie die Bedeutung der Akkumulation und des Transfers von Ressourcen wieder hervorheben. Sie sollte die verschiedenen Stadien der institutionellen Entwicklung, der Marktinformalität und der Dualität ins Bild nehmen – vielleicht entlang der Ideen, die in der neuen Strukturökonomie von Justin Lin skizziert werden. Selbst für einkommensstarke Länder, die sich bereits an der globalen Technologiegrenze befinden, sind einige asiatische Lehren unerlässlich, um das Wachstum in den Rostgürtelregionen wieder anzukurbeln.
Ein solch neues Paradigma muss komparative Nachteile (etwa durch Strukturkonservierung) meiden und latente komparative Vorteile ermitteln, um dann Kapazitäten durch staatliche Förderung zu schaffen, vor allem in der Digitalisierung, in der Verkehrsanbindung und im öffentlichen Nahverkehr. Und nicht zuletzt sollte es ein Innovationssystem aufbauen, das öffentliche Bildung für die Entwicklung von Höherqualifizierung der ortsansässigen Bevölkerung, Anreize für private F&E und die staatlich-private Zusammenarbeit vereint.
Natürlich sollte man nicht den gleichen Fehler machen wie die Jünger des freien Marktes und dieses neue Paradigma entsprechend nicht überverkaufen. Auch in der Entwicklungspolitik des 21. Jahrhunderts gibt es keinen Königsweg. Aber es haben sich einige wichtige, „nicht-westliche“ Pfade herauskristallisiert, die wir nicht länger ignorieren dürfen.
Zum Autor:
Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die unabhängige entwicklungspolitische Beratungsfirma ShiftingWealth Consulting und den Blog Weltneuvermessung. Auf Twitter: @HrReisen