Der Begriff „Neoliberalismus“ ist inzwischen so allgegenwärtig, dass man denken könnte, dass er all seine Bedeutung verloren hat – außer eine nützliche, allumfassende Phrase für alles zu sein, was den Linken an den momentan sozialen und ökonomischen Entwicklungen nicht gefällt, oder präziser gesagt für diejenigen aus dem linken Spektrum, die jene im Mitte-Links-Spektrum anpöbeln. Meiner Meinung nach ist das viel zu abfällig. Aber die Gründe sowohl für die Verwendung des Begriffs, als auch für die Konfusion um seine Bedeutung haben echte historische und kulturelle Wurzeln.
Ich persönlich weiß, was ich meine, wenn ich (gelegentlich) den Begriff „neoliberal“ verwende. Der Neoliberalismus ist eine politische Bewegung oder Ideologie, die einen „starken Staat“ hasst und jede Form von Markteingriffen durch den Staat ablehnt, die Unternehmensinteressen favorisiert und gegen eine organisierte Arbeitnehmerschaft opponiert. Die häufige Entgegnung darauf lautet: Warum „Neo“?
In der europäischen Tradition könnten wir dieses Konzept als den Glauben eines (Markt-)Liberalen definieren (obwohl das aus verschiedenen Gründen irreführend wäre, dazu komme ich später noch). Das Hauptproblem besteht darin, dass in den US-amerikanischen Diskussionen insbesondere das Wort „liberal“ eine komplett andere Bedeutung hat. Wie Corey Robin schreibt, würden Neoliberale
„vor der Politik und den Programmen von Liberalen aus der Mitte des Jahrhunderts wie Walter Reuther oder John Kenneth Galbraith oder sogar Arthur Schlesinger, die behaupteten, dass der „Klassenkonflikt essenziell ist, wenn die Freiheit bewahrt werden soll, weil er die einzige Barriere gegen die Klassenherrschaft ist“, vor Schreck zusammenzucken.“
In der US-Denkschule ist der Neoliberalismus also die Anpassung einer Position aus dem linken Spektrum mittels der Ideen des rechten Spektrums.
Made in Germany
Anders als viele denken war der Begriff „neoliberal“ auch keine US-amerikanische Erfindung, sondern wurde zuerst vom deutschen Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler Alexander Rüstow verwendet, wie dieser exzellente Bericht von Oliver Hartwich und Razeen Sally zeigt. Er wurde als „dritter Weg“ zwischen dem Sozialismus und der deutschen Variante des Kapitalismus entwickelt. Er wurde von einer Gruppe aufgenommen, die später zur Mont Pèlerin Society wurde und aus Leuten wie Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman bestand – aber es wäre ein großer Fehler, diese Gruppe als eine Art vereinigte intellektuelle Verschwörung zu sehen.
Wie Hartwich und Sally bemerken, wurde sie „nach dem Tagungsort benannt, weil sich die Teilnehmer auf nichts Anderes einigen konnten“. Die Mont Pélerin Society war ausreichend vielfältig, so dass die Idee von dem, was wir heute die Soziale Marktwirtschaft nennen, ihre Wurzeln auch in dieser Gruppe hatte.
Einer der Streitpunkte innerhalb der Gruppe drehte sich um ein Problem, das wir als „Korporatismus“ bezeichnen: die Dominanz von Märkten durch eine kleine Gruppe von großen Firmen oder Kartellen ist ziemlich weit vom Ideal eines perfekten Wettbewerbsmarktes entfernt.
Rüstow sah im Korporatismus ein Problem, das zum Kapitalismus dazugehört. Entsprechend wird ein starker Staat benötigt, um ihm vorzubeugen (eine Idee, die zentral für das ist, was wir heute „Ordoliberalismus“ nennen). Dagegen dachte Mises, dass Korporatismus vielmehr das Ergebnis von Staatseingriffen sei. (Ökonomen würden sagen, dass beides möglicherweise richtig ist und von den jeweiligen Umständen abhängt, was einer der Gründe dafür ist, warum viele Ökonomen so große Schwierigkeiten damit haben, über Ideologien zu reden, die ihre eigene Disziplin mit einbeziehen.)
Die Gruppe adaptierte den Begriff „neoliberal“ als eine Modifizierung des europäischen Liberalismus und (zumindest in gewisser Weise) beinhaltete dies auch eine Bewegung von rechts nach links. I meine, dass die einfachste Sicht auf die Mont Pèlerin-Gruppe ist, dass sie eine gemeinsame Ablehnung des Kommunismus einte, woraus sich allerdings verschiedene Ideologien entwickelten, darunter der Ordoliberalismus und der Neoliberalismus, wie wir sie heute verstehen. Ich bin versucht zu sagen, dass das, was wir heute das neoliberale Element der Mont Pelérin-Diskussionen nennen, eine so starke Betonung auf der Ablehnung des Staates legte und so die Unvollkommenheit der Märkte ignoriert wurde, die der Staat korrigieren könnte.
Ich denke, dass dies alleine ein guter Grund wäre, eher den Begriff „neoliberal“ zu verwenden, als etwa „marktliberal“ zu sagen. So wie viele Menschen den Begriff „Neoliberalismus“ verwenden, hat er eine ziemlich entspannte Haltung gegenüber Abweichungen vom Ideal des Marktes, wie es Ökonomen sehen. Ein eingängiges Beispiel ist die Bezahlung von Vorstandsvorsitzenden, wie Chris Dillow aufzeigt: Wenn Leute fordern, dass die Bezahlung von CEOs „dem Markt überlassen“ werden sollte, dann meinen sie etwas Anderes, als dass das Gehalt „vom Markt bestimmt“ werden sollte. Denn der Markt spielt bei der Bestimmung der Vorstandsvergütung anders als bei der Lohnfindung von normalen Angestellten nur eine marginale Rolle: Die Bezahlung wird von Vergütungsausschüssen bestimmt, deren Referenzwerte die Gehälter von anderen CEOs sind. In diesem Fall bedeutet „dem Markt überlassen“ eigentlich „keine Einmischung durch Staat oder Gewerkschaften“.
Dieses Beispiel zeigt uns, dass es falsch wäre, den Neoliberalismus als eine nicht-existente Ideologie abzutun. Wie oft haben Sie schon Leute sagen gehört, dass die Bezahlung von Vorständen dem Markt überlassen werden sollte und diese Behauptung unangefochten blieb? Die allgemeine Akzeptanz der Phrase „dem Markt überlassen“, die eigentlich „keine Einmischung durch Staat oder Gewerkschaften“ bedeutet, legt den Schluss nahe, dass hier so etwas wie eine Ideologie am Werk ist. Andere häufig benutzte Formulierungen wie „das Geld der Steuerzahler“ (womit normalerweise Einkommenssteuerzahler gemeint sind) anstelle von „öffentlichen Geldern“ oder die obersten 1% als „Menschen, die Wohlstand erwirtschaften“ zu bezeichnen, funktionieren genauso.
Die Einstellung gegenüber dem Staat ist sowohl auf der rechten Seite sowie in der Mitte des politischen Spektrums inzwischen eine andere, als sie es in den 60er Jahren war (insofern ich mich noch daran erinnern kann). Die Fähigkeit des Staates, ökonomische Ziele zu erreichen, wird heutzutage routiniert verunglimpft. Ein Grund für den Erfolg von Mariana Mazzucatos Buch The Entrepreneurial State ist, dass es aufzeigt, wie kreativ und vermögensschöpfend der Staat sein kann (abgesehen davon, dass es einfach ein gutes Buch ist). Was früher offensichtlich war, als wir einen Mann auf den Mond geschossen haben, muss heute immer wieder neu argumentiert werden.
Deshalb glaube ich nicht, dass es ein Problem ist, dass sich heute nur wenige Menschen als neoliberal bezeichnen würden. Tatsächlich dürfte dies Teil eines viel größeren Problems sein, als es von den Linken wahrgenommen wird: neoliberale Ideen sind inzwischen nicht nur bei den Rechten, sondern auch in der politischen Mitte so alltäglich geworden, dass gar keine Selbstidentifizierung durch dieses Label mehr nötig ist.
Aber es könnte noch einen anderen Grund geben, warum sich wenige als neoliberal bezeichnen: Wenn wir einmal versuchen, den Neoliberalismus als kohärentes und konsistentes Überzeugungskonstrukt zu betrachten, dann wird ziemlich schnell deutlich, dass er mangelhaft und verworren ist. Ein landläufig akzeptierter Glaube muss dagegen nicht kohärent und konsistent sein.
Das ist der Grund, warum viele linke Darstellungen in die falsche Richtung gehen. Anstatt die Phrase „dem Markt überlassen“ als vorsätzliche irreführende Verkürzung von „keine Einmischung durch Staat oder Gewerkschaften“ zu verstehen, denken sie, dass der Neoliberalismus eine Ergebenheit gegenüber den freien Märkten umfasst oder – noch schlimmer – setzen den Neoliberalismus mit einem ungezügelten Wettbewerb gleich (dazu beispielsweise dieser Text von George Monbiot). Das mag zwar vielleicht für einige aus der Mont Pèlerin-Gruppe richtig gewesen sein, aber es gilt nicht mehr für den heutigen Neoliberalismus.
Der Grund ist offensichtlich genug. Der Neoliberalismus wurde von monetären Interessen aus dem rechten Spektrum adaptiert und promotet – und das erwirtschaftete Geld war häufig das Ergebnis dessen, was wir heute als „kapitalistische Vetternwirtschaft“ bezeichnen. Somit ist es beispielsweise ein großer Unterschied, ob man innerhalb des staatlichen Gesundheitsdienstes mehr Wettbewerb fördert (was im richtigen Kontext funktionieren könnte, wie Forschungen zeigen) oder ob man Gesundheitsverträge privatisiert. Die Privatisierung ist für den Wettbewerb weder notwendig noch ausreichend. Die Förderung von Wettbewerb innerhalb des staatlichen Gesundheitsdienstes als neoliberal zu bezeichnen, ist daher verwirrend und verfremdend.
Allgemeiner gesagt ist es ein Riesenfehler zu denken, die Linke müsste gegen die Mainstream-Ökonomie sein, weil der Neoliberalismus eine hochgradig selektive und verzerrte Sicht von grundlegender Ökonomie hat. Es ist ein Riesenfehler, weil die Anwendung der Mainstream-Ökonomie ein exzellenter Weg ist, neoliberale Ideen anzugreifen. Nehmen wir das Beispiel der Banken: Auf den ersten Blick bestand die Finanzkrise aus dem simplen Versagen, den freien Markt ausreichend zu regulieren. Aber es war ein Markt, der in jeder Hinsicht eine staatliche Subventionierung beinhaltete. Diese äußerte sich darin, dass der Staat (entweder direkt oder durch seine Zentralbank) im Falle von Marktversagen zur Hilfe eilen würde. Hier beförderte der staatliche Eingriff in den Markt einen Mangel an Wettbewerb: Nur diejenigen Marktteilnehmer, die „too big to fail“ waren, konnten sich sicher sein, Unterstützung zu bekommen.
Aus diesem und anderen Gründen (natürliche Monopole und andere Formen von Rent Seeking) verkörpert der Finanzsektor vieles von dem, gegen das diejenigen, die zuerst den Begriff des Neoliberalismus verwendeten, eigentlich opponierten. Es ist wichtig, dass man sich dieses Widerspruchs bewusst ist, wenn man den Neoliberalismus-Begriff heute verwendet. Das bedeutet nicht, dass die Verwendung des Begriffs zur Beschreibung der dominanten Ideologie falsch wäre – aber es ist ein Fehler anzunehmen, dass diese Ideologie nicht von Menschen, die ein Interesse an ihrem Funktionieren haben, weiter geformt, adaptiert und verfälscht worden wäre. Diese Veränderungen haben den Neoliberalismus intellektuell geschwächt und ihn gleichzeitig politisch stark gemacht.
Zum Autor:
Simon Wren-Lewis ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Oxford University und Fellow am Merton College. Außerdem betreibt Wren-Lewis den Blog Mainly Macro, wo dieser Beitrag zuerst auf Englisch erschienen ist.