Ökonomenszene

Die Truger-Debatte ist Sinnbild eines tiefergehenden Problems

Seitdem bekannt geworden ist, dass die Gewerkschaften Achim Truger als Kandidaten für den Sachverständigenrat vorschlagen wollen, wird dieser heftig angefeindet. Das Erschreckende daran ist, dass es gar nicht um die Inhalte von Trugers wissenschaftlichen Arbeiten oder politischen Vorschlägen geht. Ein Kommentar von Carlo D’Ippoliti und Svenja Flechtner.

Niemand sollte eine Publikationen beurteilen, ohne sie gelesen zu haben. Bild: Pixabay

Vor rund zwei Wochen ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel erschienen, in dem die mögliche Nominierung Achim Trugers als Kandidat der Gewerkschaften für den Sachverständigenrat kritisiert wurde. Den Beitrag von Wirtschaftsredakteur Philip Plickert muss man im Kontext einer Twitter-Debatte sehen, die sich entfacht hatte, nachdem die ersten Meldungen über die Entscheidung die Runde gemacht hatten. Unter anderem hatten die Ratsmitglieder Isabel Schnabel und Lars Feld Trugers Nominierung heftig kritisiert, dessen Qualifikation in ihren Augen wissenschaftlichen Standards nicht genüge.

Wir wollen hier Trugers Nominierung nicht weiter kommentieren, sondern stattdessen herausarbeiten, wie das „Truger-Bashing“ (Johannes Becker) in der Debatte abgelaufen ist. Denn das einigermaßen Erschreckende daran ist, dass es gar nicht um die Inhalte von Trugers wissenschaftlichen Arbeiten oder politischen Vorschlägen geht. Wie andere Kritiker vor ihm stellt auch Plickert in seinem Beitrag lediglich Trugers Referenzen als „Wirtschaftsexperte“ in Frage. Er tut dies, indem er einfach nur die Journale berücksichtigt, in denen Trugers Publikationen erschienen sind, anstatt deren Qualität zu bewerten.

Es sollte auf die Inhalte ankommen

Eine solche Praktik wird von Experten aus Evaluationsforschung und Wissenschaftspolitik rundweg abgelehnt. Dies kommt etwa in der San Francisco Declaration on Research Assessment (DORA) zum Ausdruck, die von 13.184 Wissenschaftlern aus allen Disziplinen und 732 wissenschaftlichen Organisationen, darunter auch die prestigeträchtigsten Wissenschaftsjournale, unterzeichnet wurde.

Der Hauptgrundsatz von DORA ist „die Notwendigkeit, Forschung für sich selbst stehend zu bewerten, und nicht auf der Basis des Journals, in dem die Forschung publiziert wird“. Und selbst Clarivate Analytics, ein multinationales Unternehmen, das die am breitesten genutzten Maße und Rankings für Journals produziert, rät offen von der Verwendung solcher Indizes für die Evaluation von Forschungsarbeiten ab.

Die Art, wie Plickert die akademischen Journale beschreibt, in denen Truger publiziert hat, ist hochgradig diskreditierend. Er nennt das PSL Quarterly Review (das einer von uns herausgibt und dessen Redaktion wir beide angehören) ein „unbekanntes“ Forum für die pluralistische Debatte. Die letzte Ausgabe des PSL Quarterly Review beginnt mit einem Aufsatz des aktuellen italienischen Notenbank-Gouverneurs Ignazio Visco. Und in der Vergangenheit, als es noch Banca Nazionale del Lavoro Quarterly Review hieß, hat das Journal Beiträge von allseits bekannten Ökonomen aller Orientierungen wie etwa John Hicks, James Buchanan, Robert Solow und Nicholas Kaldor veröffentlicht, sowie kürzlich auch von Olivier Blanchard und sogar Jens Weidmann. Keiner dieser Autoren erscheint uns gefährlich extremistisch oder ökonomisch ungebildet.

All dies sagt natürlich noch nichts über Trugers Referenzen aus – allerdings sollte niemand eine Zeitschrift bewerten, ohne sie gelesen zu haben, oder einen Forscher anhand seiner Publikationsorte anstelle der Qualität seiner oder ihrer Publikationen.

Aber es geht noch weiter. Plickert problematisiert einen angeblichen Vorschlag Trugers bei einem SPD-Diskussionsforum, in dem dieser die Einführung einer Quote für heterodoxe Ökonomen gefordert haben soll. Tatsächlich diskutierte Truger lediglich die Idee eines Ziels von 20% heterodoxer Ökonomen in der Professorenschaft, womit er Bezug auf einen offenen Brief des Netzwerks Plurale Ökonomik aus dem Jahr 2012 nahm. Abgesehen von der Tatsache, dass die Etablierung einer 20%-Benchmark nicht das Gleiche wie die Einführung einer Quote ist (worauf das Netzwerk Plurale Ökonomik eigenen Angaben zufolge auch hingewiesen hat, was aber von Plickert ignoriert worden sei), setzt sich der FAZ-Beitrag überhaupt nicht mit dem Inhalt des Vorschlags auseinander, sondern lehnt ihn schlicht deswegen ab, weil überhaupt nicht klar wäre, was ein „heterodoxer Ökonom“ ist (mehr dazu hier).

Politische Imperative

Das Problem, dessen Symptom die Art und Weise der Diskussion um Trugers Nominierung ist, geht weit über diese konkrete Debatte hinaus. Die größte Wirtschaftskrise des Jahrhunderts liegt inzwischen zehn Jahre zurück. Doch ihre Folgen sind immer noch in vielen europäischen Ländern zu spüren – und man kann auch nicht wirklich behaupten, dass sich in der Ökonomik inzwischen alles zum Guten gewendet hätte. Über Kontinente hinweg werben Studentenvereinigungen (und manchmal auch Lehrende) für mehr Pluralismus in Lehre und Forschung. Wieder und wieder haben „Free Market“-Ökonomen staatliche Regulationsmechanismen benutzt, um die Wissenschaft zu kontrollieren und sich selbst in vielen Ländern ein Quasi-Monopol zu garantieren (europäische Beispiele dafür finden sich etwa in der letzten Ausgabe des Review of Political Economy).

Die engstirnige Referenz auf angebliche „Top Journals“ führt dazu, dass die Natur, der Inhalt und die Grenzen einer Diskussion an eine Handvoll von akademischen Schwergewichten outgesourct werden

Das Problem ist nicht nur kultureller Natur, sondern auch zutiefst politisch und hat starke Auswirkungen für linke Parteien sowie Gewerkschaften. Natürlich gibt es in der Ökonomik viele Strömungen, und es ist ebenso falsch, die Mainstream-Ökonomik mit konservativen politischen Strömungen gleichzusetzen, wie die heterodoxe mit progressiven. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass gewisse Teile der Mainstream-Ökonomik sich wiederholt und vehement für regressive Wirtschaftspolitik und Reformen eingesetzt und diese als aus wissenschaftlicher Sicht zwangsläufig geboten dargestellt haben (zum Beispiel hier, hier oder hier).

Gerade progressive Parteien und Bewegungen stehen momentan vor der Herausforderung, ihren Sinn und ihre Identität zu überdenken. Sie sollten somit ein tiefgehendes Interesse daran haben, die breitmöglichste Debatte über alternative Visionen einer anderen, reformierten Wirtschaft und der dafür nötigen Politiken zu fördern.

Akademisches Outsourcing

Im Gegensatz dazu führt die engstirnige Referenz auf angebliche „Top Journals“ als einziges Kennzeichen für die Ernsthaftigkeit einer akademischen Debatte dazu, dass die Natur, der Inhalt und die Grenzen einer Diskussion an eine Handvoll von akademischen Schwergewichten outgesourct werden, die wiederum in wenigen „Top-Institutionen“ in den USA sitzen. Wie James Heckman anmerkt, impliziert dies für alle Ökonomen nämlich die Verdrehung der Anreize, zu welchen Themen sie wie forschen.

Politisch besorgniserregend ist vor allem, dass solch ein Ansatz zu einer Auslagerung der politischen und ökonomischen Debatte an eine begrenzte (und oftmals im Ausland sitzende) Elite führt. Und das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was die Sozialdemokratie oder jedwede andere progressive Partei gerade braucht.

 

Zu den Autoren:

Carlo D’Ippoliti ist Associate Professor für Volkswirtschaftslehre an der Sapienza Universität Rom und Herausgeber des PSL Quarterly Review. Auf Twitter: @dippoliti

Svenja Flechtner ist Juniorprofessorin für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen und Teil der Redaktion des PSL Quarterly Review. Auf Twitter: @SvenjaFl

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst in einer früheren Form und in englischer Sprache auf Social Europe erschienen.