Das „Zerstörungs-Video” des Youtubers Rezo schlägt große Wellen und hat auch zahlreiche Fakten-Checker auf den Plan gerufen. Gut so, denn damit gehen die wichtigen Debatten, die er anstößt, erst richtig los. Allerdings sollte man manchen Fakten-Checkern auch genauer auf die Finger schauen.
Zunächst einmal muss man Rezo gratulieren. Mit seinem einen zugespitzten Video hat er vermutlich mehr Menschen für zentrale politische Themen unserer Zeit – die Verteilungsfrage, die ökologische Frage und fundamentale Fragen der Außenpolitik – interessiert und sensibilisiert, als dies über lange Zeit anderen professionellen, gut ausgestatteten Medienschaffenden gelungen ist. Natürlich kann – und soll Rezo selbst zufolge – das Video kein Ende, sondern erst der Start einer Debatte sein, und auch das ist ein echtes Verdienst. Dabei ist es vorbildlich, dass Rezo seine Quellen offenlegt und damit erst ermöglicht, seinen zugespitzten Aussagen auf den Grund zu gehen.
Und um es vorweg zu sagen: Für mich war der Klimateil des Videos der beste Part – und er spiegelt und stärkt zugleich weiter das Heranwachsen einer sozialen Bewegung, die zum womöglich gerade noch rechten Zeitpunkt in Deutschland an Fahrt gewinnt. Was beim Thema Klimaschutz mit mutigen Aktionen Zivilen Ungehorsams in Braunkohletagebauen begann und im Zuge der Proteste rund um den Hambacher Wald zu einer Massenbewegung wurde, das ist nun mit den „Fridays for Future”-Demos ganz oben auf die politische Agenda gesetzt: So ist es sicher kein Zufall, dass laut einer aktuellen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen erstmals die Umweltfrage die Liste mit Deutschlands wichtigsten Problemen anführt.
Rezos Video scheint hier ein Katalysator: Er legt authentisch offen, wie er selbst bei dem Thema gelernt hat und dürfte, gerade weil er es ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit großer Entschlossenheit vorbringt, weitere Menschen dazu bewegen, fortan Klimawandel als zentrale gesellschaftliche Herausforderung zu betrachten. Allein dafür: Danke, Rezo!
Rezo und die Verteilungsfrage
Nun stürzen sich besonders konservative Kommentatoren auf alles, was sie finden können, um Rezo anzugreifen. Die taz schreibt gar von „Schnappatmung” weiter Teile der „politischen Klasse”. Klar, Rezos Aussagen sind zugespitzt, und sie passen nicht jedem ins politische Konzept. Und sicherlich gibt es Unterschiede zwischen dem eindeutigen wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel und zur Dringlichkeit, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, und den anderen diskutierten Themen.
Gerade beim ersten Abschnitt zur Verteilungsfrage bewegt sich Rezo auf einem Feld, auf dem es zwar auch umfangreiche Daten gibt, und einen relativ breiten Konsens über die großen Entwicklungslinien. Wenn es aber um die Details (Einkommen oder Vermögen? Vor- oder Nachsteuereinkommen? Personenbezogen oder haushaltsbezogen? Entwicklung in welchem Zeitraum genau? Unter Berücksichtigung der Konjunktur oder nicht? usw.), und vor allem, wenn es um die Ursachen der wachsenden Ungleichheit und um wirtschaftspolitische Empfehlungen geht – dann driften die Interpretationen der Daten und Meinungen darüber deutlich auseinander und es gibt jeweils differenzierte Positionen, zwischen denen zu vermitteln kaum im Stil eines “Youtube-Zerstörungs-Videos” funktionieren kann.
Dennoch ist es auch beim Thema Ungleichheit zunächst einmal ein Verdienst Rezos, zweierlei herauszustellen: Erstens macht er deutlich, was gemeinhin unbestritten ist: dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten auseinandergegangen ist. Und zweitens ist sein Kernpunkt, dass während dieser Entwicklung keine „Politik der Mitte“ gemacht wurde, anders als es die jeweiligen Regierungsparteien suggerierten.
Punkt eins ist eine Faktenbeschreibung, an der bei niemandem, der sich mit dem Thema beschäftigt, Zweifel bestehen. Die Differenzen entstehen in der Regel bei allen weiteren Details, die auf diese Feststellung folgen.
Punkt zwei ist jedoch eine politische Bewertung, für die es natürlich kaum einen wissenschaftlichen Konsens geben kann: Man kann diese Bewertung in Frage stellen, etwa indem man die Rolle von Globalisierung und technologischer Entwicklung stärker hervorhebt (und die Gestaltungsspielräume der Politik dabei kleinredet). Oder indem man „kontrafaktisch” (= was gewesen wäre, wenn…) argumentiert, dass es ohne die wirtschaftsfreundliche Politik der jeweils regierenden Parteien noch schlimmer gekommen wäre. Aber man kann hier eben auch anderer Meinung sein, und das begründet Rezo auch, indem er darauf verweist, dass die Politik an vielen Stellschrauben hätte anders handeln können, insbesondere in der Steuer- und Bildungspolitik.
Doch auf diese zentralen Punkte stürzen sich die Faktenchecker etwa in der FAZ und der Zeit gar nicht, obwohl genau das guter Journalismus tun sollte: nicht nur Quellen – auch im Detail – kritisch prüfen, sondern auch Relevanz zu erfassen. Aber die Kritiker halten nicht Rezos wesentliche Aussagen kritisch ins Licht und untersuchen nicht, ob Rezo grundsätzlich Fakten frisiert, um seine Aussage zu untermauern. Stattdessen stürzen sie sich auf vermeintliche Fehler im Detail und legen diese auf die Waagschale, während sie sie seine wesentlichen Punkte außen vor lassen oder erwähnen sie eher rhetorisch, ohne sie tatsächlich zu würdigen und als Kernfrage zu betrachten.
Fakten-Checks schießen bei den Details übers Ziel hinaus
Doch es kommt noch härter: Schaut man sich die vermeintlich unaufgeregten Fakten-Checks an, stößt man auf zum Teil kuriose Fälle von „Overshooting”, die am Ende selbst nach einem Fakten-Check schreien.
Zum Beispiel die Kolumne von Lisa Nienhaus auf Zeit Online: Nienhaus behauptet, nicht die Verteilungsfrage an sich, sondern eine undynamische Wirtschaft und daraus resultierende Probleme bei der Vermögens- und Chancenungleichheit seien das zentrale ökonomische Problem in Deutschland. Und Rezo stelle die aus ihrer Sicht wichtigste Frage, wie das zu ändern sei, nicht.
Hierbei ist zunächst anzumerken, dass man Chancenungleichheit und Ungleichheit von Einkommen (und Vermögen) nicht getrennt voneinander betrachten sollte, da der Zusammenhang in der wissenschaftlichen Literatur ziemlich gut belegt ist – und entsprechend auch ideologisch unverdächtige Forscher zu dem Schluss kommen, dass die Reduzierung von Ungleichheit (via Umverteilung) ein essentieller Baustein für eine wirkungsvolle Chancengleichheitspolitik sein sollte. Aber das mal beiseite gestellt kann man natürlich, wie Nienhaus es tut, die Schlussfolgerung ziehen, Rezo stelle die entscheidende Frage nicht. Nur: Auf dem Weg zu diesem Argument bringt Nienhaus vier Kritikpunkte an Rezos Part zum Verteilungsthema vor, die im Kern eine durchaus exemplarische Relativierung des von Rezo beschriebenen Ungleichheitsproblems darstellen.
Absolute Armut wird gegen relative Armut ausgespielt
Als erstes macht Nienhaus den Punkt, dass relative Armut ja nicht absolute Armut sei. Dieses Muster der Ungleichheitsrelativierung wird anscheinend nie alt. Wenn in Deutschland über Armut geredet wird, denkt doch praktisch niemand an die 2-Dollar-Linie der Weltbank (ein Beispiel für eine „absolute” Armutsgrenze), mit der sich die Entwicklungspolitik typischerweise befasst. Sondern natürlich denken Leute an Armut im Sinne der „relativen“ Armut, wie sie für reiche Länder wie Deutschland relevant ist.
Es ist also ein Verweis auf irrelevante Aspekte eines Themas, mit dem man den Frame verschiebt. Subtext: Armut in einem reichen Land ist doch gar nicht so wild. Dabei kann es den Armen doch herzlich egal sein, ob sie absolut etwas mehr Einkommen haben, wenn sie sich davon relativ zum Rest der Gesellschaft die wesentlichen Güter für Teilhabe nicht leisten können, sei es zunehmend teurer Wohnraum, Freizeitaktivitäten der Kinder, gutes Essen oder Urlaub.
Wie undramatisch ist es, wenn die Armut auf hohem Niveau noch steigt, obwohl die Konjunktur brummt?
Als zweites wirft Nienhaus Rezo vor, den Anstieg der Armutsquote zu übertreiben. Zunächst einmal kann einen ja schon das Niveau von über 16 Prozent der Haushalte schockieren, da braucht man über den Anstieg noch nicht einmal zu reden.
Aber es ist darüber hinaus auch schockierend, dass die Armutsquote sogar in den Jahren angestiegen ist, in denen die Arbeitslosigkeit massiv abgenommen hat und die Konjunktur gut gelaufen ist. Das wiederum verschweigt Nienhaus nämlich, wenn sie schreibt, der Anstieg sei weniger dramatisch als dargestellt.
Davon abgesehen stellt selbst eine Zunahme der Armutsrisikoquote um wenige Prozentpunkte bezogen auf die Gesamtbevölkerung eine sehr große Zahl von Menschen dar. Und betrachtet man den Zeitraum seit der Wiedervereinigung, hat die Armut immerhin um rund 6 Prozentpunkte zugelegt.
Haben die Reichen ihre Vermögen verdient?
Als drittes wirft Nienhaus Rezo vor, bei der Vermögensungleichheit zu übertreiben: nur die Hälfte der Vermögen sei ererbt. Rezo sage aber, „die meisten” Reichen würden nicht reich, weil sie hart arbeiteten, sondern durch Schenkungen und Erbschaften.
Hier ist zunächst die Frage, wer genau „die Reichen“ sind. Einer Studie des DIW zufolge liegt nämlich der Anteil der Haushalte mit Erbschaften bei den reichsten Vermögenden deutlich über 50%. Die Anteile der Vermögenden mit Erbschaften sind umso niedriger, desto kleiner die Vermögen sind. Und bei dieser Studie wurden die Superreichen, also die Milliardärsfamilien, in den Daten gar nicht berücksichtigt.
Ein weiterer Aspekt, der weder bei Rezo noch bei Nienhaus thematisiert wird, ist, wie „hart erarbeitet” nicht geerbte Vermögen im Vergleich zur harten Arbeit derjenigen sind, die keine Vermögen aufbauen konnten (etwa, weil sie niedrigere Löhne bezogen), und wie groß die Rolle von geerbten oder durch hohe Löhne erarbeiteten Vermögen dafür ist, weitere Vermögen zu akkumulieren.
Einkommensungleichheit: Vor oder nach Steuern?
Schließlich weist Nienhaus darauf hin, das Rezo sich auf eine Studie zur wachsenden Ungleichheit bezieht, die Markteinkommen vor staatlicher Umverteilung betrachtet. Damit hat sie zunächst recht. Allerdings hat auch die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen über den betrachteten Zeitraum klar zugenommen – und ist auch „seit der Finanzkrise signifikant gestiegen“, wie das DIW Berlin kürzlich festgestellt hat. Ebenso hat die staatliche Umverteilung abgenommen – worauf Rezo übrigens, bezogen auf die Steuerlast, explizit mit einer anderen Abbildung hinweist.
Außerdem hat Nienhaus schlichtweg Unrecht, wenn sie behauptet, die staatliche Umverteilung habe keine Auswirkungen auf die Ungleichheit der Markteinkommen. Gerade die sinkenden Spitzensteuersätze haben sehr wahrscheinlich dazu beigetragen, dass die Spitzeneinkommen gestiegen sind. Um mit dem Extremfall zu sprechen: Als Mitte des 20. Jahrhunderts etwa in Großbritannien und den USA die Spitzensteuersätze bei um die 80 bis 90% lagen, wirkte dies natürlich praktisch als Lohnobergrenze und hatte somit Auswirkungen auf die Markteinkommen.
Die Ungleichheit den Profis überlassen?
Nienhaus schreibt:
All das bedeutet nicht, dass Ungleichheit kein Problem in Deutschland ist. Doch wenn man ein Problem dermaßen verzerrt darstellt, wird es unmöglich, eine Lösung zu finden.
Liest sich wie: Rezo, halt Dich da raus. Lass uns das lieber klären. Das erinnert stark an Christian Lindners „Den Klimaschutz den Profis überlassen“-Aussage, mit der der FDP-Chef auf die „Fridays for Future“-Demonstranten reagiert hatte.
Ehrlich gesagt: Wer das Problem der Ungleichheit dermaßen herunterschreibt, sollte sich mit einer solchen Aussage lieber ein bisschen zurückhalten.
Zum Autor:
Julian Bank ist Geschäftsführer und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozioökonomie der Uni Duisburg-Essen. Zudem betreibt er den Blog Verteilungsfrage, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.