Replik

No deal – warum das Risiko eines ungeordneten Brexits weit größer ist als überwiegend angenommen

Es ist einigermaßen rätselhaft, warum sich noch immer so Viele an der vermeintlichen Sicherheit eines weichen Brexits oder gar eines Brexit in name only festklammern – denn wenn man sich die möglichen Entwicklungspfade vergegenwärtigt, wird klar, dass ein No Deal-Brexit derzeit das wahrscheinlichste aller Szenarien ist. Ein Kommentar von Jakob Steffen.

Foto: Moyan Brenn via Flickr (CC BY 2.0)

Der britische Ökonom Simon Wren-Lewis hat einen interessanten und bemerkenswert gelassenen Kommentar zur aktuellen Lage des Brexit-Prozesses veröffentlicht. In diesem prognostiziert er, dass ein Brexit in name only (BINO), also ein weitestgehend entschärfter, nur dem Namen nach erfolgter Brexit das Ergebnis aus dem Chaos der vergangenen Tage sein werde.

Dabei greift jedoch vor allem Wren-Lewis‘ Schachspiel-Analogie zu kurz: Tatsächlich ist der Brexit-Prozess ein Paradebeispiel für die chaotische Dynamik eines Zwei-Ebenen-Spiels, wo wir es – um in Wren-Lewis‘ Bild zu bleiben – mit zwei simultanen Schachspielen zu tun haben: Ein Zug auf dem einen Brett kann dann Schachmatt auf dem anderen zur Folge haben, ohne dass die Spieler der zugehörigen Partie noch groß etwas daran ändern könnten.

Aus dieser Perspektive folgen allerdings drei Erkenntnisse, die Wren-Lewis‘ Gelassenheit widersprechen: Erstens steht ein Brexit in name only mitnichten bereits jetzt als Ergebnis des Prozesses fest. Zweitens ist die vollständige Abkehr vom Brexit nahezu ausgeschlossen. Und drittens führen bereits seit der Destabilisierung der Regierung May durch die Neuwahlen im vergangenen Jahr mehr Entwicklungspfade zu einem No Deal-Szenario, bei dem Großbritannien ohne jede Vereinbarung ungeordnet aus der EU ausscheidet, als zu allen anderen denkbaren Ergebnissen.

Wegscheiden und Entwicklungspfade

Warum das so ist, wird schnell klar, wenn man sich die schiere Zahl von Wegscheiden und den daraus folgenden, bedingten Entwicklungspfaden vergegenwärtigt, ganz so wie das Geäst in einem Baum. Die folgende Liste zeigt in zeitlicher Reihenfolge, welche Wegscheiden und Verästelungen jetzt anstehen:

  • Die Form der Reaktion der EU auf den neuen Brexit-Plan Theresa Mays, der auf ihrem Landsitz Chequers beschlossen wurde, ist die erste entscheidende Hürde. Ist sie skeptisch und mit größeren Nachforderungen verbunden (wovon auszugehen ist), wird dies mit einiger Sicherheit den Sturz der Premierministerin oder aber bis zum Winter einen Verhandlungsabbruch herbeiführen. May ist mit dem Chequers-Plan so weit gegangen, wie es ohne Regierungssturz möglich ist. Jede weitere Konzession an die Befürworter eines möglichst weichen Brexits wird ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin zur Folge haben. Das haben die Anhänger eines harten Brexits („Brexiteers“) bereits klargestellt – dies wäre sozusagen die Wiedervereinigung der aktuell gespaltenen Brexiteers (wie Wren-Lewis zu Recht feststellt) im Angesicht eines gemeinsamen Gegners. Nur wenn die Reaktion der EU also maximal konstruktiv ausfällt, geht die Reise in Richtung Einigung überhaupt weiter.
  • Darauf folgt die Abstimmung des Unterhauses über den Antrag auf Verbleib Großbritanniens in einer Zollunion mit der EU in der kommenden Woche. Verliert die Regierung, würde dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenfalls ein Misstrauensvotum gegen Theresa May nach sich ziehen. Kommt es tatsächlich zu einem Sturz Mays und einem Wechsel im Amt des Premierministers, stellt sich daraufhin zum ersten Mal die Frage nach Neuwahlen und einem eventuellen Antrag auf Verlängerung der Verhandlungsfrist gemäß Artikel 50 der EU-Verträge (die eben jenen berüchtigten 29. März 2019 als Austrittsdatum festschreibt). Der Verlängerung müssten allerdings wiederum alle 27 verbliebenen EU-Staaten einstimmig zustimmen. Theresa May hat bereits am Tag der Rücktritte von David Davis und Boris Johnson klargestellt, dass es mit ihr weder eine Verlängerung der Frist von Artikel 50 noch ein zweites Referendum geben werde.
  • Erfolgt in beiden Fällen keine Verlängerung der Verhandlungsfrist, steht spätestens im Winter die Abstimmung des Unterhauses über das Verhandlungsergebnis in Brüssel an, sofern überhaupt eines erzielt werden konnte. Die Brexiteers in der Konservativen Partei sind jedoch bereits dabei, eine Ablehnung zu organisieren. Zwar sind sie in ihrer Fraktion in der Minderheit – aber in einer Minderheitsregierung, in der es auf jede Stimme ankommt, würden die rund 80 Abgeordneten, die sich nach der Bekanntgabe des Chequers-Plans auf dem euroskeptischen Flügel der Fraktion gesammelt haben, vollkommen ausreichen, um der Regierung eine Niederlage zu bereiten – es sei denn, Labour-Führer Jeremy Corbyn wollte tatsächlich eine konservative Regierung an der Macht halten, indem er ihr Programm mitträgt.
  • Dass Theresa May allerdings überhaupt bereit wäre, sich auf eine solche Unterstützung durch die Labour Party verlassen zu müssen, kann bereits nahezu ausgeschlossen werden – nach allen (ungeschriebenen) Regeln des britischen Parlamentarismus wäre sie dann als Premierministerin nicht mehr haltbar. Weder der Chequers-Plan noch ein harter Brexit haben dann aber eine Mehrheit im Parlament, eine Patt-Situation ist die Folge. Kommt es vor diesem Hintergrund tatsächlich zu einer Ablehnung des Brüsseler Verhandlungsergebnisses, würde auch das zu einem Sturz der Regierung mit dann beinahe sicheren Neuwahlen und einem Antrag auf Fristverlängerung bezüglich Artikel 50 führen, wiederum mit oben genannten möglichen Entwicklungspfaden …

Der Zeitfaktor

Bereits diese schon reduzierte (!) Aufzählung macht deutlich: Die Zeit ist das entscheidende Element in diesem Zwei-Ebenen-Spiel zwischen EU und britischer Regierung. Wenn die Verhandlungsfrist nicht verlängert werden sollte – und die Wahrscheinlichkeit dafür ist wegen der erforderlichen Einstimmigkeit sehr gering – dann führen bereits die meisten der oben geschilderten Entwicklungspfade unausweichlich zu einem No Deal-Brexit – alleine schon deshalb, weil die verbleibende Zeit nicht ausreicht, um irgendetwas Anderes bis zum 29. März 2019 zu Wege zu bringen. Neuwahlen oder gar ein zweites Referendum müssten überhaupt erst einmal anberaumt und durchgeführt werden. Einem möglichen anschließenden Antrag (von dem obendrein nicht klar ist, ob er rechtlich überhaupt Bestand hätte) Großbritanniens auf Rücknahme des Austrittsgesuchs würde niemals rechtzeitig vor dem 29. März 2019 stattgegeben – und damit noch immer ein No Deal-Brexit erfolgen.

Die Zahl aller vorstellbaren Entwicklungspfade hin zum No Deal-Brexit ist schlicht größer als die zu allen anderen Endresultaten

Selbst wenn also tatsächlich einer Fristverlängerung stattgegeben würde, und Neuwahlen oder ein zweites Referendum einen Brexit in name only oder gar die Rücknahme des Brexits herbeiführten (wofür im ersteren Fall überhaupt erst mal eine Einigung zwischen EU und UK plus Zustimmung des Unterhauses erforderlich wären), sind dies die einzigen beiden, sehr langen und damit sehr unwahrscheinlichen Entwicklungspfade, die tatsächlich zu einem füglichen Ausgang des Brexit-Prozesses führen könnten.

Es ist einigermaßen rätselhaft, wie sich angesichts dieser Faktenlage noch immer so Viele an der vermeintlichen Sicherheit eines weichen Brexits oder gar eines Brexit in name only festklammern, wo diese doch wie geschildert absolute Ausreißer-Szenarien entlang den beschriebenen Entwicklungspfaden darstellen. Das hat auch nichts mehr mit Wahrscheinlichkeiten oder Kristallkugeln zu tun: Die Zahl aller vorstellbaren Entwicklungspfade hin zum No Deal-Brexit ist schlicht größer als die zu allen anderen Endresultaten, unterschiedliche Schattierungen des Brexits mit eingeschlossen.

Der Brexit kommt, daran ist kaum mehr zu rütteln. Und er wird allem Anschein nach schmerzhafter, als es die Meisten wahrhaben wollen.

 

Zum Autor:

Jakob Steffen ist Inhaber und Geschäftsführer der Unternehmensberatungsfirma J. S. Research.