Es ist kaum zu überschätzen, welche Potenziale durch digitale Technologien für Volkswirtschaften auf der ganzen Welt entstehen: Informationen können einfacher, schneller und günstiger weitergegeben werden, was enorme Möglichkeiten für mehr überregionale Zusammenarbeit und Wissensdiffusion schafft. Wenn jeder vom globalen Wissen profitieren kann, sollte das auch Innovationen einen kräftigen Schub geben — und zwar überall.
Hier allerdings hält die Digitalisierung — zumindest bisher — eine Enttäuschung bereit. Innovationen sind weiterhin regional hoch konzentriert. Es sind wenige große Städte und deren unmittelbare Umgebung, die das Feld anführen. Sie sind die Heimat der Top-Forschungseinrichtungen und großen Unternehmen, die in Innovationen investieren. Kleinere Städte, ländliche Regionen sowie die Mehrzahl der Unternehmen bleiben abgeschlagen. Die Digitalisierung scheint diesen Umstand noch zu verstärken. Dies zeigt eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung und der OECD.
Ungleichverteilung nimmt zu – trotz oder wegen der Digitalisierung?
Es gelingt also bislang offenbar nicht ausreichend, eine wichtige Voraussetzung für mehr Wohlstand aller zu schaffen: eine breite Zunahme von Innovation und Produktivität auch fernab der Metropolen. Hier klafft in vielen Ländern eine gefährliche Lücke – die uns aufmerken lassen muss. Ein Zehntel der wirtschaftlich führenden Städte und deren unmittelbare Umgebung („Functional Urban Areas“) in den 30 untersuchten OECD-Staaten vereint fast zwei Drittel aller Patentanmeldungen auf sich — der Gradmesser für Innovationen. Allein in den fünf führenden Städten — Tokio, Seoul, San Francisco, Osaka und Paris — wurden 22 Prozent aller Patente der untersuchten Staaten angemeldet:
Sicher liegt es nahe, dass führende Wirtschaftsregionen auch in der Entwicklung von Produkt- und Prozessinnovationen vorne liegen. Allerdings war die Hoffnung zu Beginn der Digitalisierung groß, dass sich durch den einfachen und „entfernungslosen“ Zugang zu Daten und Wissen und die neuen Formen des Arbeitens auch die „klugen Köpfe“ besser verteilen. Damit ging die Erwartung einher, dass es fortan weniger davon abhängen werde, wo ein Unternehmen sitzt, um Innovationen voranzutreiben.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Der Vorsprung der führenden Städte ist im Untersuchungszeitraum von 1995 bis 2014 sogar leicht gestiegen. Auch die Städte auf den oberen Plätzen sind bemerkenswert stabil. Nur wenige Metropolen wie Seoul (1995: Platz 37) oder Seattle (1995: Platz 34) konnten einen Aufstieg in die Top-Ten hinlegen. Dies gilt ebenso für die meisten der untersuchten Länder. Zwar bildet Deutschland aufgrund seiner dezentralen Wirtschaftsstruktur hier eine Ausnahme, doch auch hierzulande ist es nicht gelungen, die Innovationskraft breiter zu streuen.
Insgesamt scheint es sogar so, als hätten nur die großen Städte die neuen technischen Möglichkeiten genutzt, um den Austausch günstiger und effizienter zu machen. Das heißt: Der technische Fortschritt führt womöglich sogar dazu, dass der Vorsprung der Metropolen zunimmt. Genau darauf deuten die Studienergebnisse hin. Tatsächlich sind die Konzentrationsprozesse vergleichsweise stark in solchen Branchen sichtbar, wo digitale Technologien verstärkt zum Einsatz kommen. In den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologien, Biotech und Meditech konzentrieren sich jeweils mehr Patentanmeldungen auf die jeweiligen Top-Städte der OECD-Länder als in anderen Branchen (siehe obige Abbildung). Wie kann das sein?
Zum einen verfügen sie über die nötige Infrastruktur: In den großen Krankenhäusern konzentriert sich die medizinische Forschung. Gründungszentren und Risikokapitalgeber sitzen ebenso in der Stadt wie Finanzberater und kundige Rechtsanwälte. Hinzu kommen Spezialisten und verfügbare Arbeitskräfte, von der guten Verkehrsanbindung und der kulturellen Attraktivität von Städten ganz zu schweigen. Wenngleich verbesserte Technologien virtueller Kommunikation die Zusammenarbeit der Zukunft grundlegend ändern können, spielt die Möglichkeit des direkten Austausches in einer Stadt zumindest bisher eine wichtige Rolle. Der schafft soziale Nähe und Vertrauen, die durch einen Videochat kaum zu erreichen sind. Unter diesen Voraussetzungen kann ein sich selbst verstärkender Kreislauf aus höheren Löhnen, höher qualifizierten Fachkräften, höherer Innovationskraft und wachsender Produktivität entstehen, der sich nur schwer in andere Regionen hin öffnen lässt. Zunehmende Einkommensdivergenzen zwischen Stadt und Land sind die Folge.
Gesamtgesellschaftliche Herausforderung
Politik und Unternehmen müssen darauf reagieren. Die Zahlen zeigen, dass die digitalisierte Wirtschaft nicht inklusiv genug ist und nicht genug Menschen zu ähnlichen Teilen profitieren lässt. Wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit wird hierzulande ebenso wie in den untersuchten OECD-Staaten stark davon abhängen, ob die Kluft zwischen den Regionen abnimmt. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Innovationspolitik, die abgeschlagenen Landesteile und Unternehmen beim Aufholen zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr aus dem Innovations-Ökosystem herausfallen. Daran wird sich entscheiden, ob die Mehrzahl der Arbeitnehmer, Unternehmer und Investoren von digitalen Innovationen profitieren kann. Wenn man so will, zeigt sich hier eine bedenkliche Parallele zur Globalisierung: Auch sie war ohne Zweifel ein Haupttreiber eines enormen Wachstumsschubs. Es ist aber gerade in den Industrieländern nicht immer gelungen, diese Wachstumsgewinne auch inklusiv zu verteilen.
Selbstverständlich sollte niemandem daran gelegen sein, die Vorteile der Top-Städte zu schmälern oder deren Dynamik zu bremsen. Allerdings gibt es für die Politik Möglichkeiten, die Innovationsförderung effizienter zu machen und die Konzentration zu reduzieren. Ein Weg ist etwa eine kluge Spezialisierung auf bislang nicht oder schwach besetzte Nischen. Dabei muss der komparative Vorteil einer Region identifiziert und ausgenutzt werden. Das kann abgeschlagenen Regionen auf die Beine helfen, ohne die führenden Städte zurückzuhalten. Eine wachsame Wirtschaftspolitik kann Steuervorteile für KMU gewähren und Unternehmen dabei unterstützen, sich effizienter zu vernetzen, zum Beispiel entlang der Wertschöpfungsketten anstatt lediglich regional. Kooperationsprojekte, Netzwerke und Cluster können Unternehmen helfen, gemeinsam riskantere Innovationen zu stemmen. Zudem ist es erforderlich, die Peripherie besser an die Zentren anzubinden, sei es über verbesserte Mobilitätskonzepte oder den konsequenten Ausbau der digitalen Infrastruktur, um den Zugang zu Daten und Wissen überall zu ermöglichen.
Ein besonderer Appell richtet sich aber auch an die Unternehmen selbst: Um innovativer zu werden, müssen sie stärker in Forschung und Entwicklung, in Software, Datenbanken und ins Können ihrer Mitarbeiter investieren — kurz gesagt: in ihr Wissenskapital. Dies ist dringend nötig für ein Unternehmen und stellt einen ebenso wichtigen Wert dar wie das Sachkapital. Deutschland hängt bei den Investitionen zurück. Außerdem veraltet Wissenskapital schnell und ist in Deutschland nicht auf dem neuesten Stand. Vor allem der deutsche Mittelstand investiert noch nicht ausreichend in diesen zentralen Treiber von Innovation und Produktivität. Allen ist geholfen, wenn neue Technologien auch dort schneller zum Einsatz kommen. Und es bringt uns dem Ziel näher, dass nicht nur die führenden Städte und Unternehmen voranschreiten, sondern alle innovativer werden und die Digitalisierung die in sie gesetzte Hoffnung vielleicht doch noch erfüllen kann.
Zu den AutorInnen:
Marcus Wortmann ist Project Manager im Programm Nachhaltig Wirtschaften bei der Bertelsmann Stiftung.
Caroline Paunov ist Leiterin der Arbeitsgruppe für Innovations- und Technologiepolitik (TIP) bei der OECD. Auf Twitter: @carolinepaunov
Lukas Nüse ist Referent im Bundesfinanzministerium. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Studie war er für die Bertelsmann Stiftung tätig. Auf Twitter: @LukNse
Hinweis:
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Inclusive Productivity-Blog. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie finden Sie hier.