Essay

Die große Globalisierungslüge

Lange haben Politiker die Globalisierung als für alle Menschen von Vorteil und unvermeidbar dargestellt – tatsächlich war sie weder das eine noch das andere. Wenn es die zentristischen Eliten auch weiterhin nicht schaffen, angemessen auf die jüngsten Rückschläge zu reagieren, könnte dies die liberale Demokratie zusammenbrechen lassen. Ein Essay von Dani Rodrik.

Containerterminal im Hamburger Hafen: In welche Richtung wird sich die Globalisierung weiter entwickeln? Foto: Pixabay

Vor nicht allzu langer Zeit galt die Debatte über die Globalisierung als abgeschlossen – und das sowohl von linker als auch von rechter Seite.

2005 hielt Tony Blair auf dem Parteitag der Labour-Partei eine Rede, die einen Eindruck des damals herrschenden Zeitgeists gibt: „Ich höre Menschen sagen, wir müssten einhalten und über die Globalisierung debattieren“, so Blair. „Man könnte genauso gut darüber diskutieren, ob der Herbst dem Sommer folgt.“ Strukturelle Umbrüche würden folgen und einige würden zurückbleiben, das Motto laute dennoch: Die Menschen müssten damit klarkommen. Unsere „Welt im Wandel“, fuhr Blair fort, sei „voller Chancen, die allerdings nur jenen offen stehen, die sich zügig anpassen“ und sich nicht so schnell beklagen.

Heutzutage würde wohl kein kompetenter Politiker seine Wähler dazu drängen, sich solche Sorgen nicht zu machen. Die Davos-Clique, die Blairs und Clintons unserer Zeit zerbrechen sich alle den Kopf darüber, wie um alles in der Welt sich diese doch angeblich so unaufhaltsame Entwicklung ins Gegenteil verkehren konnte. Der internationale Handel stagniert im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, die grenzüberschreitenden Finanzströme haben sich seit ihrem Einbruch während der globalen Finanzkrise vor zehn Jahren nicht mehr erholt und auf einer Welle des Populismus ist ein amerikanischer Nationalist ins Weiße Haus geritten, wo er jegliche Bemühungen um mehr Multilateralismus in Frage stellt.

Jene, die noch um die Jahrhundertwende herum der Hyper-Globalisierung das Wort geredet haben, stehen nun hilflos da. Sie sind völlig unfähig zu begreifen, wie alles so dermaßen schiefgehen konnte, und realisieren nicht, wie wenig sie von dem Prozess verstanden haben, den sie so bereitwillig propagierten.

Schon im Jahr 2005, als Blair seine Parteitagrede hielt, gab es Anlass daran zu zweifeln, dass „das, was funktioniert kein Mysterium ist: eine offene, liberale Wirtschaft, die stets gewillt ist, sich zu wandeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben“. Was würde mit dem sozialen Zusammenhalt passieren? Würde die Globalisierung ihn einfach hinwegfegen? Damals meinte Blair, dass der soziale Zusammenhalt nur überleben könne, wenn wir ihn neu definieren würden. Gemeinschaften dürften sich nicht der „Kraft der Globalisierung“ widersetzen – die Aufgabe einer progressiven Politik sei es lediglich, sie „darauf vorzubereiten“. Die Globalisierung war also ausgemachte Sache – die einzige Frage war, ob sich die Gesellschaft dem globalen Wettbewerb würde anpassen können.

Blair und sein Gefolge waren sich dessen nicht nur deshalb so sicher, weil sich die Welt in ihre Richtung entwickelte. Sie hatten auch ein sehr mächtiges Argument auf ihrer Seite: den Komparativen Vorteil. Dieses Argument war keineswegs neu, sondern schon 200 Jahre alt. Es war jedoch wieder in Mode gekommen und hatte auch echte logische Kraft: Handel ermöglichte Spezialisierung, und ein Land, das sich auf das konzentriere, was es besonders gut kann, würde dadurch „als Ganzes“ besser dastehen.

Allerdings vergaßen die Globalisierungs-Cheerleader mehr oder weniger, die Vorbehalte dieses „Ganzen“ zu berücksichtigen.

Wenig überraschend waren die größten Profiteure der Globalisierung Länder wie China, die um die offiziellen Regelungen einen Bogen machten und nach ihrer eigenen Pfeife tanzten

Zudem übertrugen sie dieses Argument vom Güterhandel beiläufig auch auf die Finanzmarktliberalisierung, wo es aber schon immer anders und zweifelhafter war. Ohne zu zögern eilten sie also vom Abbau grenzbezogener Handelshemmnisse, wie etwa Zöllen oder Importquoten, zu politisch aggressiveren Initiativen, um auch hinter der Grenze Regulierungen – Investitionsregeln, Produktstandards, Patente und Copyrights – zu harmonisieren, bei denen weitaus weniger klar ist, warum eine grenzüberschreitende Integration alle beteiligten Länder besserstellen sollte.

Wenig überraschend waren die größten Profiteure der Globalisierung Länder wie China, die um die offiziellen Regelungen einen Bogen machten und nach ihrer eigenen Pfeife tanzten. China und andere asiatische Länder integrierten sich auf ihre ganz eigene Art und Weise in die Weltwirtschaft: sie betrieben eine Handels- und Industriepolitik, die von der Welthandelsorganisation verboten war, bestimmten den Wert ihrer Währungen nach eigenem Gutdünken und kontrollierten internationale Kapitalströme aufs Genaueste. Als Resultat erhielten sie beachtliche Wachstumsraten, die dazu beitrugen, dass Millionen Menschen der Armut entkommen konnten.

Dagegen fiel die Bilanz in den etablierten Industrienationen deutlich durchwachsener aus. Die Hauptprofiteure der nach 1990 geschaffenen Regeln der Globalisierung waren die Unternehmen und professionellen Eliten. Kein Zweifel, die Hyper-Globalisierer glaubten an ihre Sache. Aber sie übertrieben es bis hin zur vollständigen Verzerrung, und waren blind für den unausweichlichen Aufschrei ihrer Mitbürger – Bürger, die ihre Beschwerden neuerdings nicht mehr so schnell runterschlucken.

Die Lehren der Geschichte

Im Gegensatz zu Blairs Beteuerungen ist die Globalisierung durchaus ein umkehrbarer Prozess, der bereits jede Menge Rückschläge und Schlimmeres erlitten hat. Höhepunkte der weltweiten Integration waren schon an der Wende zum 20. Jahrhundert erreicht, wobei diese Periode in vielerlei Hinsicht mit der heutigen vergleichbar ist.

Unter dem damals vorherrschenden Goldstandard konnten nationale Währungen frei in fixe Mengen Gold umgetauscht werden und durfte Kapital ungehindert die Grenzen passieren. Das Regime förderte nicht nur Kapitalströme, sondern auch den Handel, indem es Währungsrisiken beseitigte: Händler konnten sicher von überall her Zahlungen annehmen, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, dass die Wechselkurse allzu stark schwanken würden. Im Jahr 1880 waren Goldstandard und grenzüberschreitende Kapitalfreiheit die Norm. Auch Menschen konnten diese Freiheit nutzen, was sie zwischen Europa und der Neuen Welt auch zahlreich taten. Genau wie heute erleichterten Verbesserungen der Transport- und Kommunikationstechnologien – Dampfschiff, Eisenbahn, Telegraf – die Verkehrsfreiheit von Gütern, Kapital und Arbeitern erheblich.

Der Rückschlag ließ nicht lange auf sich warten. Bereits in den 1870er Jahren übte der Verfall der weltweiten Agrarpreise Druck aus, wieder Importbarrieren wiedereinzuführen. Mit Ausnahme Großbritanniens erhöhten alle europäischen Länder bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihre Zölle für Agrarprodukte wieder. Vielfach übertrug sich dieser Agrar-Protektionismus auf Manufakturerzeugnisse. Im späten 19. Jahrhundert gab es auch erste Einwanderungsbeschränkungen. So beschloss der US-Kongress 1882 den berüchtigten „Chinese Exclusion Act” und beschränkte ab 1907 die Einwanderung aus Japan. Etwas später, in den 1920er Jahren, führten die USA dann ein umfassenderes System von Einwanderungsquoten ein.

In den USA entstand während der 1880er Jahre als Reaktion auf den internationalen Goldstandard die weltweit erste bewusst-populistische Bewegung. Und warum? Weil das System, obwohl es die Globalisierung beschleunigte, auch Verlierer hervorbrachte. Da das heimische Geldangebot an die Menge des vorhandenen Goldes gebunden war, wurde in Zeiten der Goldknappheit auch das heimische Kreditangebot knapper und die Realzinsen stiegen.

So kam es, dass der Goldstandard in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend mit Deflation in Verbindung gebracht wurde, genauso wie die heutige Austeritätspolitik. Farmer beklagten sich darüber, dass sie gezwungen wurden, ihr Getreide billig zu verkaufen, und das zu einer Zeit, in der Frachtraten und Kredite teuer waren. Gemeinsam mit den Arbeiterbewegungen und Minenarbeitern aus dem Westen stellten sie sich gegen die Finanziers aus dem Nordosten, die sie als die einzigen Nutznießer des Goldstandards ansahen – und als die Erschaffer ihrer Notlage.

Die US-Populisten wurden letztlich besiegt, größtenteils wegen der Neuentdeckung zusätzlicher Goldreserven nach den 1890er Jahren, die den Deflationsdruck umkehrten. Nichtsdestotrotz verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen den finanziellen und kosmopolitischen Interessen, die den Goldstandard hochhielten und den nationalistischen Gruppen, die unter ihm litten, zunehmend. Diese Konfrontation spitzte sich im Europa der Zwischenkriegsjahre zu.

Das alte System zerfiel inmitten der Kämpfe des Jahres 1914, und die Versuche, es zurückzubringen, erwiesen sich unter der Last der ökonomischen Krisen und politischen Unruhen der 1920er Jahre als nicht tragfähig. Wie mein Harvard-Kollege Jeffrey Frieden schrieb, nahm die Reaktion auf die Mainstream-Politik zwei Formen an: Die Kommunisten zogen den sozialen Wiederaufbau der internationalen Wirtschaft vor, während Faschisten und Nazis auf nationale Wiedergeburt setzten. Beide Wege kehrten der Globalisierung den Rücken.

Vorteile und Nachteile

Warum also haben sich die fortgeschrittenen Stadien der Globalisierung – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und jetzt wieder im frühen 21. Jahrhundert – als so anfällig für Rückschläge herausgestellt? Fangen wir am besten mit dem eingängigsten Argument zugunsten der Globalisierer an: der Liberalisierung der Grenzbarrieren für den Warenhandel.

Es gibt kaum Zweifel, dass die zahlreichen Runden der multilateralen Handelsgespräche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jede Menge Gutes bewirkt haben. Die Importzölle und -Quoten für den Handel mit Industrieerzeugnissen waren damals extrem restriktiv – und ihre Lockerung brachte der Welt erhebliche Vorteile. Des Weiteren betraf diese Liberalisierung zunächst den Handel zwischen relativ fortgeschrittenen Volkswirtschaften, in denen die Löhne und Arbeitsbedingungen nicht sonderlich unterschiedlich waren. Die ersten Anzeichen für Probleme gab es, nachdem die Entwicklungsländer anfingen, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren – und ihre niedrigen Löhne begannen, in den Importländern verteilungspolitische Spannungen zu verursachen.

Europa war mit seinen ausgeprägten sozialen Sicherheitsnetzten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ gut vorbereitet, um mit disruptiven Handelsflüssen umgehen zu können

Das ist genau das, was die Volkswirtschaftslehre lehrt. Laut dem gefeierten Stolper-Samuelson-Theorem der Handelstheorie werden die Löhne von geringqualifizierten Arbeitern, wenn es von ihnen – wie in den USA und Westeuropa – zu viele gibt, durch den Freihandel sinken. Die Offenheit gegenüber dem Handel schadet immer manchen Menschen in einer Gesellschaft, abgesehen von Extremfällen, bei denen nur Dinge importiert werden, die zuvor niemals zuhause produziert wurden (diese Fälle sind aber für keine große Volkswirtschaft relevant).

In der Theorie können Länder immer ihre Verlierer kompensieren, indem sie Mittel von den Gewinnern umverteilen, und in der Praxis ist dies gelegentlich auch getan worden. So war Europa mit seinen ausgeprägten sozialen Sicherheitsnetzten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ gut vorbereitet, um mit disruptiven Handelsflüssen umgehen zu können. Zudem führten die Verhandlungsführer bei den Freihandelsgesprächen anfangs Sonderregelungen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften für Bekleidungs- und Textilexporteure durch, was deren Anfälligkeit begrenzte.

Allerdings hätte die Liberalisierung des Handels selbst unter den bestmöglichen Umständen sowohl Vorteile als auch Nachteile mit sich gebracht. Nach den 80er Jahren begann die Bilanz schlechter und schlechter auszusehen. Wenn Zölle (wie auch Steuern) zu hoch sind, verzerren sie die ökonomische Aktivität stärker und schmälern den Wohlstand. In den 50er und 60er Jahren waren Zölle oftmals sehr hoch, weshalb ihre Reduzierung stark dazu beitrug, den volkswirtschaftlichen Kuchen wachsen zu lassen. Aber vier oder fünf Jahrzehnte später, in einer Welt, in der Zölle gewöhnlich im einstelligen Bereich lagen, war das Bild ein anderes.

Wenn man mit den Zöllen der Nachkriegszeit beginnt, sagen die ökonomischen Standardmodelle, dass man beim Erreichen eines Nettozuwachses von einem US-Dollar beim Nationaleinkommen durch die Handelsliberalisierung erwarten kann, dass rund vier oder fünf Dollar des Einkommens zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb eines Landes neu verteilt werden. Aber unter Annahme der Zölle, die es am Ende des 20. Jahrhunderts gab, geht ein Zuwachs von einem Dollar mit einer Umverteilung von 20 Dollar einher – was die Schaffung einer furchtbar großen Zahl von Verlierern impliziert. Und außerdem waren die 90er Jahre eine Zeit, in der der Sozialstaat ab- und nicht ausgebaut wurde. Somit war es weniger plausibel zu glauben, dass diese Verluste kompensiert werden würden.

Nehmen wir beispielsweise das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta), das 1994 in Kraft trat. Eine kürzlich erschienene Studie zu dessen Arbeitsmarkteffekten fand heraus, dass eine wichtige Minderheit von US-Arbeitern erhebliche Einkommenseinbußen erlitt. Wenig überraschend war der Effekt bei den „blue-collar workers“ am größten: Ein High School-Abbrecher in den vom Nafta-Handel stark betroffenen Gegenden hatte in Relation zu einem vergleichbaren Arbeiter aus den von Nafta nicht betroffenen Gegenden in der Periode von 1990 bis 2000 ein um acht Prozentpunkte niedrigeres Lohnwachstum. In den vormals geschützten Branchen, die ihren Schutz nun verloren, fielen die Löhne um 17 Prozentpunkte im Vergleich zu Branchen, die auch vorher nicht geschützt gewesen waren.

Und der Gesamtnutzen des Abkommens? Laut den jüngsten Schätzungen betrug der Nettozuwachs für die USA deutlich unter 0,1 Prozentpunkten des Bruttoinlandprodukts – das ist weniger als ein Zehntel von einem Prozent des Nationaleinkommens. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie viel weniger wahrscheinlich ein Präsident Donald Trump wäre, wenn all das politische Kapital, das für eine Initiative investiert wurde, die so viel Disruption für so viele Amerikaner verursacht hat und die Wirtschaft dabei nicht einmal nennenswert wachsen ließ, stattdessen für Industrie-, Qualifizierungs- oder Infrastrukturprogramme eingesetzt worden wäre, die ordentliche Arbeitsplätze in den USA geschaffen hätten.

Hinter der Grenze

Importe sind nur eine Quelle für Disruptionen auf den Arbeitsmärkten, und nicht einmal die wichtigste. Nachfrageschocks, technologische Veränderungen und der gewöhnliche Wettbewerb mit anderen heimischen Firmen produzieren in der Regel mehr Verschiebungen. Dennoch sind die durch den Außenhandel angestoßenen Entwicklungen tendenziell politisch markanter. Sie bieten Politikern eine dankbare Sündenbock-Strategie, weil diese leicht mit dem Finger auf Ausländer zeigen können – im Falle Trumps sind das Chinesen, Mexikaner oder Deutsche.

Die gesamte Community wird dadurch aufgewühlt, wenn sie sieht, wie einer ihrer Mitbürger wegen unfairer Praktiken keinen ordentlichen Job mehr bekommt

Aber es gibt noch einen weiteren, tiefer gehenden Faktor, der die durch den Handel verursachten Verwerfungen besonders kontrovers macht. Manchmal sorgt der internationale Handel für einen Wettbewerb, der durch heimische Gesetze normalerweise untersagt wäre, weil er vereinbarte Normen verletzt. Es ist eine Sache, wenn du deinen Job an jemanden verlierst, der nach den gleichen Regeln wie du selbst spielst – aber es ist eine völlig andere, wenn dein Job zu einer Firma wandert, die von schwächeren Arbeits-, Umwelt- oder Sicherheitsstandards profitiert. Ein solcher Wettbewerb kann wichtige Regulierungen und auch Steuergesetze durch die Hintertür unterwandern. Diese Fairness-Bedenken gehen über das hinaus, was ein Individuum direkt beeinflussen kann – die gesamte Community wird dadurch aufgewühlt, wenn sie sieht, wie einer ihrer Mitbürger wegen unfairer Praktiken keinen ordentlichen Job mehr bekommt.

Aber die Hyper-Globalisierer haben solche Bedenken ignoriert. Stattdessen setzten sie noch eins drauf und drängten auf Handelsabkommen, bei denen es in Wahrheit überhaupt nicht mehr um den Freihandel ging. Ihr Fokus verlagerte sich auf Regulierungen hinter der Grenze – auf den Abbau von Agrarsubventionen, auf die Standardisierung von Investitionsregeln, Produktstandards, geistigen Eigentumsrechten, Finanzregularien. Diese sind alle traditionell das Ergebnis von institutionellen Übereinkünften oder innenpolitischen Verhandlungen. Doch plötzlich wurden sie als Handelsbarrieren angesehen und durch Handelsabkommen neu geschrieben.

Die Details von Handelsregimen werden auf diesem Terrain sehr schnell sehr politisch. In Großbritannien gab es das Beispiel der Wohlfahrtsstandards bei der Eierproduktion oder in Deutschland die Chlorhühner-Debatte. Auch in anderen Ländern drehten sich die Bedenken oft um billige Nahrungsmittel. Als Großbritannien kleine Legehennen-Batterien verbot, aber wegen der EU-Regeln gezwungen war, den Import von Eiern aus dem weniger regulierten Polen zuzulassen, gab es einen Aufschrei unter den britischen Landwirten. Ein paar Jahre später waren schließlich die Polen wütend, als es den Briten gelang, die Gesetze für die Käfighaltung EU-weit zu verschärfen.

Und anders als beim konventionellen Freihandel versprechen hinter der Grenze wirksam werdende Harmonisierungen nicht notwendigerweise Effizienzverbesserungen. Es existiert keine mit dem Komparativen Vorteil vergleichbare Theorie, die erklären könnte, warum beispielsweise vereinheitlichte Lebensmittel- oder Bankenregulierungen grundsätzlich zum Vorteil aller Länder funktionieren sollten. Dafür beinhaltet der Harmonisierungsprozess die Aufgabe der nationalen Gesetzgebungsautonomie – und damit der Fähigkeit, auf die individuellen Konturen von Volkswirtschaften und Gesellschaften zu reagieren.

Abkommen zur Regelung von grenzüberschreitenden Investments und Initiativen wie das TRIPS-Abkommen, dass seit 1995 die geistigen Eigentumsrechte regelt, waren sicherlich das, was multinationale Konzerne, Finanzfirmen und die Pharmabranche wollten und oftmals bekamen. Solche Abkommen haben zu Kontroversen geführt, weil sie oft als Bevorzugung von Firmeninteressen auf Kosten der gesellschaftlichen wahrgenommen wurden – und als einen direkten Angriff auf die nationale demokratische Kontrolle.

Die Finanz-Globalisierung

Der vielleicht ungeheuerlichste Fehler der Hyper-Globalisierer war es, nach den 90er Jahren die Finanz-Globalisierung voranzutreiben. Sie nahmen ein Lehrbuch-Argument und liefen damit Amok. Der freie Verkehr von Finanzströmen rund um den Globus würde, so die selbstbewusste Prognose, Geld dort zum Einsatz bringen, wo es am ehesten gebraucht würde. Durch den freien Kapitalfluss würden Ersparnisse automatisch in Länder mit höheren Renditen gelenkt werden; durch den Zugang zu den Weltmärkten würden Volkswirtschaften und Unternehmen auch Zugang zu verlässlicheren Finanzquellen haben; und auch ganz gewöhnliche Sparer würden profitieren, weil sie nicht länger gezwungen wären, alle ihre Eier in einen nationalen Korb zu packen.

Die Ketten der Finanzbranche zu lockern produzierte eine Reihe von extrem kostspieligen Finanzkrisen – eine uneingeschränkte Offenheit gegenüber ausländischen Finanzierungen ist fast nie eine gute Idee

Diese Vorteile haben sich aber im Großen und Ganzen niemals eingestellt. Manchmal waren die Folgen sogar das Gegenteil des Versprochenen. China wurde zu einem Kapitalexporteur, anstatt Kapital zu importieren, was laut der Theorie für junge und arme Länder der Fall hätte sein sollen. Die Ketten der Finanzbranche zu lockern produzierte eine Reihe von extrem kostspieligen Finanzkrisen, darunter die Asienkrise von 1997. Im besten Fall gab es eine schwache Korrelation zwischen der Öffnung für ausländische Finanzierungen und Wirtschaftswachstum. Aber es gibt im Zeitverlauf eine starke empirische Verbindung zwischen Finanz-Globalisierung und Finanzkrisen – genau wie es sie seit dem 19. Jahrhundert schon gegeben hat, als frei bewegliche internationale Kapitalströme mit Begeisterung in die argentinische Eisenbahn oder für kurze Zeit in einen entlegenen Winkel des britischen Empire flossen, nur um dann bei der nächsten Gelegenheit wieder die Flucht zu ergreifen.

Die moderne Finanz-Globalisierung ging nirgendwo soweit wie in der Eurozone. Die monetäre Vereinigung zielte auf die komplette finanzielle Integration ab, indem alle mit Ländergrenzen verbundenen Transaktionskosten aufgehoben wurden. Die Euro-Einführung im Jahr 1999 reduzierte tatsächlich die Risikoaufschläge in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal, die Finanzierungskosten glichen sich an. Aber was war die Folge? Schuldnern wurde es ermöglicht, große Leistungsbilanzdefizite zu haben und problematische Größenordnungen an Auslandsschulden anzuhäufen. Das Geld floss in jene Sektoren der Schuldner-Volkswirtschaften, die nicht über Grenzen gehandelt werden konnten (vor allem in den Bausektor), und zwar zulasten der handelbaren Aktivitäten. Der Kreditboom führte schließlich zu unvermeidlichen Pleiten, und es folgten im Zuge der weltweiten Kreditklemme anhaltende Krisen in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland.

Heutzutage sind die Ansichten der ökonomischen Profession zur Finanz-Globalisierung bestenfalls ambivalent. Es ist allseits bekannt, dass das Versagen von Märkten und Staaten – asymmetrische Information, Bank Runs, exzessive Volatilität, inadäquate Regulierung – für die Finanzmärkte endemisch sind. Tatsächlich litten jene Volkswirtschaften am wenigsten unter der Asienkrise von 1997, die sich eine stärkere Kontrolle über ausländisches Kapital bewahrt hatten. Alles in allem ist eine uneingeschränkte Offenheit gegenüber ausländischen Finanzierungen fast nie eine gute Idee.

Die größte Skepsis wendet sich gegen für Krisen und Exzesse anfällige kurzfristige Finanzströme, während langfristige Flüsse und ausländische Direktinvestitionen allgemein immer noch als vorteilhaft angesehen werden, da solche Investments tendenziell stabiler und wachstumsfördernd sind. Aber auch sie sind nicht unproblematisch: Sie produzieren eine Verlagerung von Steuern und gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht, was der Arbeiterschaft zum Nachteil gereicht.

Warum? Weil die Arbeitgeber davon profitieren, eine glaubwürdige Drohung in der Hand zu halten, solange die Löhne teilweise durch Tarifverhandlungen bestimmt werden: akzeptiert niedrigere Löhne oder wir ziehen woanders hin. Es gibt eine gewisse Evidenz dafür, dass der schrumpfende Arbeitsanteil am Nationaleinkommen in Zusammenhang mit der Bedrohung steht, die Produktion ins Ausland zu verlagern. Zudem ist die Arbeiterschaft lokalen Schocks stärker ausgesetzt, wenn das Kapital viel mobiler ist als die Arbeit. Und die Arbeiter mit den geringsten Fähigkeiten und Qualifikationen, also jene, die am wenigsten in der Lage sind, ins Ausland zu ziehen, sind davon gewöhnlich am stärksten betroffen.

Und wenn das Kapital mobil wird, ist es außerdem schwerer zu besteuern. Die Regierungen müssen sich zunehmend durch die Besteuerung von Dingen finanzieren, die weniger gut zu Fuß sind: Konsum oder Arbeit. Tatsächlich sind die Unternehmenssteuern – die Trump gerade reduziert hat – seit den späten 80er Jahren praktisch in allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften deutlich gesunken. Währenddessen blieb die Abgabenbelastung der Einkommen (z. B. durch Sozialabgaben) größtenteils konstant, während die Konsum- und Umsatzsteuern oftmals erhöht wurden.

Eine demokratische Neujustierung

Wie wird die Reise weitergehen? Zunächst sollten wir nicht erwarten, dass die Erwartungen der 1990er Jahre, also einer unbarmherzigen ökonomischen Integration, die von den Politikern nicht beachtet wurde, alsbald zurückkehren werden. Die Wähler werden das einfach nicht mehr mitmachen, die enorm gewachsene Zustimmung für Links- und Rechtspopulisten in den Demokratien dieser Welt bereitet dafür die Grundlage. Meinen Berechnungen zufolge haben Länder, in denen Populisten zur Wahl standen, in den späten 90ern weniger als 10% der Stimmen erhalten, doch in den letzten Jahren ist ihr Anteil auf knapp 25% gestiegen.

Und wenn der alte Weg versperrt ist, wohin kann es dann gehen? Der Alptraum einer Neuauflage des Kollapses aller Kooperationen im Stile der 1930er Jahre erscheint zum Glück unwahrscheinlich. Jahrzehnte nach der Desintegration der Sowjetunion wird niemand mehr von einem stalinistischen „Sozialismus in einem Land“ überzeugt werden, jedenfalls nicht so, wie es viele Linke damals waren. Der Nationalismus bleibt eine mächtige Kraft, aber ihm steht mehr im Weg, als dies in den 30ern der Fall war. Heutzutage haben wir viel stärkere internationale Organisationen, und obwohl die heimischen Sicherheitsnetze ausgefranzt sein mögen, bieten sie jenen, die vom Handel negativ betroffen sind, doch mehr Schutz als während der Jahre der Depression. Und vielleicht am wichtigsten: Die in den heutigen fortgeschrittenen Volkswirtschaften vorherrschende politische Machtbalance bevorzugt sehr stark Gruppen, die für internationalen Handel und Investitionen sind.

Nichtsdestotrotz gibt es ein anderes scheußliches Szenario, dass deutlich wahrscheinlicher ist: Die zentristischen Eliten schaffen es nicht, angemessen auf den Rückschlag zu reagieren, was Populismus und Protektionismus weiter befeuert. Dies könnte zu einer Erosion der Offenheit unserer Volkswirtschaften gegenüber ausländischen Produkten und vielleicht auch Ideen führen, und – am wichtigsten – die liberale Demokratie zusammenbrechen lassen. Dieses Risiko besteht wegen der Verachtung, die die Populisten typischerweise für rechtsstaatliche Verfahren, den Schutz von andersdenkenden Minderheiten und für die Kontrollmöglichkeiten des von ihnen definierten „Volkswillens“ haben. Das ungesunde Element des nationalistischen Chauvinismus könnte sich leicht einschleichen – der Brexit und Trump sind die Vorboten dieses Szenarios.

Es gibt jedoch noch einen anderen – viel besseren – Weg in die Zukunft: eine demokratische Neujustierung. Ein Abrücken von der Hyper-Globalisierung, aber ohne die Tür zuzuschlagen, während eine größere nationale Autonomie im Dienste einer inklusiveren heimischen Ordnung wiederhergestellt wird.

Was würde dies konkret beinhalten? Zunächst einmal die Entwicklung und Anwendung der Idee des „fairen Handels“. Das ist ein Begriff, für den sich Ökonomen nur schwer erwärmen können: Für viele von ihnen hat er den Beigeschmack eines getarnten Protektionismus. Aber der faire Handel ist bereits in Form von Anti-Dumping- und Kompensationspflichten in den Handelsgesetzen festgeschrieben, die Länder nutzen können, um gegen Länder zurückzuschlagen, die Exporte auf rücksichtslose Weise bepreisen oder sie subventionieren, um Marktanteile zu gewinnen. Sicher, diese sogenannten „handelspolitischen Schutzmaßnahmen“ ermöglichen das Blockieren eines Austauschs, aber sie ermöglichen es auch, sich politisch für ein offenes Handelssystem einzusetzen.

Hätten die Verhandlungsführer bei den Freihandelsgesprächen solche Schutzmaßnahmen auch auf das sogenannte „Sozialdumping“ ausgedehnt, also beispielsweise auf den Wettbewerb durch das Unterschreiten von Arbeitsmarktstandards, dann hätten sie dem Welthandelsregime möglicherweise jene Unterstützung verschafft, die ihm so schmerzlich fehlt. Aber die Hyper-Globalisierer konnten sich für diese Idee nie erwärmen. Für sie bedeutete komparativer Vorteil komparativer Vorteil – vollkommen egal, ob dieser nun durch die Ressourcen eines Landes oder dessen repressive Institutionen entstand.

Die Globalisierung war und ist das Produkt menschlichen Handelns – sie kann geformt und reformiert werden, zum Guten wie zum Schlechten

Durch Trump, den Brexit und die Wiederauferstehung der populistischen Linken bezahlen sie heute den Preis für ihre Gleichgültigkeit. Alle, die sich die Bewahrung einer offenen liberalen Ordnung wünschen, müssen sich nun ein paar längst überfällige Gedanken darüber machen, welche Art des politischen Fortschritts faire Handelsregeln schaffen kann, die nicht nur angewendet werden, sondern auch einen grenzüberschreitenden Respekt genießen. Wir können damit anfangen, Handelsabkommen zu entwerfen, die die Legitimität der Weltwirtschaft in den Augen der breiten Öffentlichkeit erhöhen, anstatt die Sonderinteressen von globalen Konzernen zu verfolgen.

Es ist fundamental zu begreifen, dass die Globalisierung das Produkt menschlichen Handels ist und es auch schon immer war – sie kann geformt und reformiert werden, zum Guten wie zum Schlechten. Das große Problem mit Blairs energischer Bejahung der Globalisierung im Jahr 2005 war die Annahme, dass sie eine Sache wäre, die nicht dadurch beeinflusst wird, wie unsere Gesellschaften sie erleben, und ein Wind des Wandels, mit dem man nicht verhandeln oder debattieren könne.

Diese Fehleinschätzung beeinflusst immer noch unsere politischen, finanziellen und technokratischen Eliten. Aber der nach den 90er Jahren umgesetzte Drang zur Hyper-Globalisierung, mit seinem Fokus auf eine freie Finanzbranche, restriktive Patentregeln und Sonderregelungen für Investoren, war nicht vorherbestimmt.

Die Wahrheit ist, dass die Globalisierung wissentlich durch die Regeln geprägt wurde, die die Machthaber erlassen wollten: durch die von ihnen privilegierten Gruppen, durch die Politikfelder, die sie angehen wollten und jene, die sie außenvorgelassen haben, und welche Märkte zum Gegenstand des internationalen Wettbewerbs wurden. Es ist möglich, die Globalisierung wieder für das Allgemeinwohl zu beanspruchen, indem man die richtige Wahl trifft. Wir können eine koordinierte Unternehmensbesteuerung gegenüber einem stärken Patentschutz, bessere Arbeitsstandards gegenüber Sondergerichten für Investoren und eine größere regulatorische Autonomie gegenüber der Minimierung von hinter der Grenze geltenden Transaktionskosten priorisieren.

Eine Weltwirtschaft, in der diese alternativen Entscheidungen getroffen würden, würde ziemlich anders aussehen. Die Verteilung von Gewinnen und Verlusten zwischen und innerhalb von Nationen würde dramatisch angepasst werden. Und wir würden nicht notwendigerweise weniger Globalisierung haben: Die Legitimation der Weltmärkte zu erhöhen, würde sehr wahrscheinlich den globalen Handel und Investitionen antreiben, statt sie zu behindern. Solch eine Globalisierung wäre nachhaltiger, weil sie mehr Unterstützung genießen würde. Und es wäre auch eine Globalisierung, die mit unserer heutigen nicht sonderlich viel gemeinsam hätte.

 

Zum Autor:

Dani Rodrik ist Wirtschaftsprofessor an der Harvard University.

Hinweis:

Eine englische Version dieses Beitrags ist zuerst im Prospect Magazine erschienen.