Die europäische Integration polarisiert die Gesellschaft. Interessanterweise verläuft die Bruchlinie nicht streng entlang weltanschaulicher Grenzen, wie die britische Diskussion täglich verdeutlicht: Es gibt im konservativen, im (markt-)liberalen und im linken Lager sehr unterschiedliche Auffassungen. Nur die nationalistischen Strömungen sind sich einigermaßen einig in ihrer Ablehnung einer Vertiefung der europäischen Integration.
So vielfältig wie die Europhilen sind auch die Gründe, mit denen für eine Intensivierung der EU argumentiert wird. Das älteste und ehrwürdigste Argument ist jenes der Friedensunion, das vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in seinem Brief an die Europäer wieder prominent hervorgehoben wurde. So richtig dieses Argument ist, es wird mit jedem Geburtenjahrgang weniger aktuell. Die Generation, die heute zu studieren beginnt oder ins Berufsleben einsteigt, ist mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch durch die Urgroßeltern verbunden – die Altersgenossen von Greta Thunberg haben keine Zeitzeugen mehr in der Familie. Geschichtsbewusste junge Menschen mögen zwar eine Gänsehaut bekommen, wenn auf Aufnahmen Mitterand und Kohl Hände haltend in Verdun der Opfer beider Weltkriege gedenken. Für die gegenwartsorientierte Mehrheit ist das Pathos solcher Gesten nicht mehr greifbar.
Das zweite prominente Argument für die europäische Einigung ist die Wertegemeinschaft. So sprach Helmut Kohl etwa anlässlich der Verleihung des Karlspreises 1988 davon, dass das europäische Wertesystem „auf der Einzigartigkeit des Menschen, auf der Achtung vor dem Leben, auf der Achtung von Menschenwürde und persönlichen Freiheitsrechten“ gründe.
Allerdings ist die Betonung von Freiheit und Demokratie in Abgrenzung zum Weltkommunismus auch schon etwas angestaubt – schon zeitgenössische Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass dies weniger eine spezifisch europäische Wertedefinition sei, sondern westlicher Konsens im Systemwettbewerb. Es ist wohl kein Zufall, dass die Europäer seit dem Ende des Ostblocks zunehmend uneins sind, was die Anwendung europäischer Werte realpolitisch jeweils bedeutet. Spätestens seit Victor Orbán 2014 die „illiberale Demokratie“ proklamierte, gibt es sogar eine offene Auseinandersetzung in und zwischen den EU-Mitgliedsstaaten über das Wesen europäischer Werte.
Europa für den externen Wettbewerb stärken
EU-Befürworter grenzen sich zunehmend von diesen angestaubten Begründungen ab. Beispielsweise schloss kürzlich ein flammender Appell im Spiegel, die ausgestreckte Hand Emmanuel Macrons von deutscher Seite auch zu ergreifen, mit den Worten:
„Und Deutschland sollte Europa weniger mit dem Schreckgespenst der Vergangenheit begründen als mit den machtpolitischen und geostrategischen Vorteilen für die Zukunft.“
Dieses dritte Argument tritt immer deutlicher in den Vordergrund, es diente auch Angela Merkel und Emmanuel Macron als Leitlinie bei ihren abgestimmten Auftritten beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2018. Das (herbeigesehnte) Führungstandem der EU wolle ein Europa, wie es die Zeit zusammenfasst,
„das seine Bürger schützt und ihnen gleichzeitig etwas abverlangt, nämlich mehr Bereitschaft zum Wettbewerb. Sie wollen, dass die EU die Globalisierung gestaltet und nicht aus ihr aussteigt. Dazu muss die EU stark sein, stärker als ihre Konkurrenten China und USA.“
Die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit und Machtstellung Europas treibt sogar neuerdings etatistische Blüten. Die bisher vorherrschende liberal-zentristische Auffassung besagte, dass deregulierte Märkte und ein schlanker Staat die effektivsten Wege seien, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu optimieren. Seit sich Chinas wirtschaftliche Entwicklung aber nicht mehr an das von Francis Fukuyama 1992 prognostizierte „Ende der Geschichte“ hält, werden zunehmend Zweifel laut. Für eine imaginierte geopolitische Auseinandersetzung werden neuerdings auch staatliche Interventionen befürwortet. Die Forcierung der Fusion des französischen TGV-Hersteller Alstom mit der Bahnsparte von Siemens begründete der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) unmissverständlich: „Wir brauchen mehr europäische Champions, um uns im Wettbewerb mit China und den USA zu behaupten“. Überdies möchte Altmaier die Industriepolitik wiederbeleben, um einen europäischen „Airbus bei künstlicher Intelligenz“ zu schaffen.*
Während Frieden und Werte als Begründung zunehmend ausgedient zu haben scheinen, rückt der Macherhalt im geopolitischen Wettbewerb immer stärker in den Vordergrund. Soll das die „Seele Europas“ sein, von der Kommissionpräsident Jaques Delors 1989 vor dem Europäischen Parlament sprach? Macht der Macht wegen hat keinen genuinen Wert, keine ethische, weltanschauliche oder philosophische Essenz. Ist es naiv, in einer vermeintlich postideologischen Welt davon zu sprechen, dass man der puren „Macht“ etwas wie „Werte“ gegenüberstellen sollte? Das mag für die vergangenen Jahrzehnte sogar zutreffen. Für die Gegenwart lässt sich jedoch beobachten: Das Motiv der Macht ist als Argument keineswegs ausreichend, um für die europäische Integration zu mobilisieren. Im Gegenteil, große Teile der Bevölkerung wenden sich von der EU ab.
Viele Menschen assoziieren die Globalisierung mit Migration, Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und dem Verlust kultureller Identität. Die EU wird gefühlt als Bestandteil, Katalysator oder sogar als die Essenz der Globalisierung begriffen. Sowohl die europäische, als auch die globale Integration, limitieren objektiv nationale Handlungsspielräume. Das macht Menschen anfällig für nationalistische Rezepte, die vorgeben, unpopuläre Erscheinungen von Globalisierung und Europäisierung durch nationalstaatliche Politik wieder rückgängig machen zu können. Rechtspopulisten suggerieren, das Primat der Politik auf nationalstaatlicher Ebene zurückgewinnen zu können. Doch ausgerechnet das proeuropäische Argument, die EU müsse ihre globalen Interessen gegenüber den USA und China durchsetzen, ist in diesem Kontext kontraproduktiv. In den Ohren der Europaskeptiker bedeutet dies – nicht zu Unrecht – noch mehr globalisierten Wettbewerb. Diese Vision von Europa fühlt sich eher nach einem kalten, rauen Wind an, als nach jener Geborgenheit und existentiellen Sicherheit, die das sagenhafte Wohlstandsniveau (in Zentral- und Westeuropa) in Wirklichkeit längst für alle garantieren kann.
Die alte Welt
Vor allem für die ältere Hälfte der Bevölkerung Westeuropas ist die positive Bezugnahme auf den Nationalstaat weniger Nationalismus, sondern vielmehr eine Sehnsucht nach einer guten alten Zeit. So viel Verklärung auch dabei sein mag – die objektive sozioökonomische Stabilität der Nachkriegsjahrzehnte lässt sich nicht wegargumentieren: stetig steigende Einkommen, geringe Arbeitslosigkeit, relativ egalitäre Einkommensverteilung, Absenz von Finanzkrisen, Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Hinzu kommen eine ethnisch und kulturell deutlich homogenere Bevölkerung, ein kaum angefochtenes Geschlechter- und Familienbild sowie eine gewisse spießige Stickigkeit, die erst ab 1968 sichtbare Risse bekam.
In dieser „alten Welt“ passte die Volkswirtschaft auch noch ideal in das nationalstaatliche Korsett. Dieser Befund ist am eindrücklichsten daran festzumachen, dass in den großen europäischen Volkswirtschaften grosso modo das konsumiert wurde, was man selbst produzierte. Die Außenhandelsverflechtung lässt sich etwa anhand der Nettoexportquote messen, die angibt, welcher Anteil der heimischen Wertschöpfung ins Ausland exportiert wird. Im Deutschland des Jahres 1970 lag sie bei 11%.* Im Umkehrschluss heißt das: Fast 90% der gesamten deutschen Produktion wurden damals im Inland verbraucht. Der Außenhandel spielte eine untergeordnete Rolle. Das Gros der Wertschöpfungskette im Inland zu wissen, sorgte für eine gewisse Übersichtlichkeit.
Obendrein gab es in dieser „alten Welt“ noch keine Welthandelsorganisation mit ihrem supranationalen Regelwerk, keinen EU-Binnenmarkt mit seinen Grundfreiheiten, keine Währungsunion und noch keinen liberalisierten Kapitalverkehr (dieser wurde erst in den 1980er Jahren durch die von der OECD forcierte Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen kreiert). So verfügte beispielsweise die französische Regierung 1970 über folgende wirtschaftliche Steuerungsinstrumente, die sie heute nicht mehr hat: Zölle, Importquoten, Kapitalverkehrskontrollen, Wechselkurspolitik und nationale Geldpolitik. Der politische Rahmen der alten Welt garantierte ein hohes Maß an nationalstaatlicher Souveränität. Das bedeutet aus demokratietheoretischer Perspektive, dass die demokratisch erstrittenen Präferenzen realpolitisch tatsächlich umsetzbar waren. Das Versprechen der Demokratie konnte somit auf nationaler Ebene eingelöst werden.
Die neue Welt
Das bedeutsamste Charakteristikum der neuen Welt ist die Globalisierung. Die Außenhandelsverflechtung vieler Staaten hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Aus Gründen der Datenverfügbarkeit wird zur Darstellung dieser Entwicklung auf Bruttoexportquoten zurückgegriffen. Diese überschätzen zwar die Bedeutung von Exporten, verdeutlichen aber trotzdem, wie stark sich einzelne Volkwirtschaften in den letzten Jahrzehnten globalisiert haben.
Aus den Daten geht hervor, dass die Welt im Jahr 1960 eine andere war. Der Außenhandel spielte für die einzelnen Volkswirtschaften im Vergleich zum Binnenkonsum eine untergeordnete Rolle. Mittelgroße Länder wie Deutschland (1970), Frankreich, Großbritannien, Italien, oder auch Mexiko und Südkorea, waren relativ geschlossene Volkswirtschaften. Für die USA – damals die mit Abstand größte Volkswirtschaft der Welt – spielte der Außenhandel im Verhältnis zum BIP nur eine marginale Rolle. Die wirtschaftliche Tätigkeit fand 1960 primär im Rahmen der Nation statt. Dementsprechend war die Regierung hochgradig souverän und konnte steuernd in den Wirtschaftsprozess eingreifen.
Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die Außenhandelsverflechtung verschiedener Volkswirtschaften im Jahr 2017. Wie zu erwarten war, befinden sich kleine offene europäische Volkswirtschaften im Spitzenfeld der Außenhandelsverflechtung. Mittelgroße Volkswirtschaften, wie Südkorea, Frankreich oder Mexiko, nehmen Mittelplätze ein, während die großen Volkswirtschaften wie die USA, Japan oder China nach wie vor relativ geschlossen sind.
Die hohe Außenhandelsverflechtung bedeutet schlicht, dass die Volkswirtschaft nicht mehr in den Rahmen des Nationalstaats passt – denn eine national organisierte Demokratie steht einer international organisierten Wirtschaft gegenüber. Ausländische Direktinvestitionen und internationale Arbeitsmigration verstärken diese Diskrepanz. Sämtliche nationale Regulierungswünsche – seien es ökologische, steuerliche, soziale oder welche, die den Arbeitnehmer- oder Konsumentenschutz betreffen – müssen im Lichte grenzüberschreitender Reaktionen auf nationale Politik hin abgeklopft werden. Wenn heimische Produzenten an Wettbewerbsfähigkeit verlieren oder ausländische Direktinvestitionen ausbleiben, kann die Rückwirkung auf den „Standort“ gravierender sein als die positive Auswirkung der Regulierung selbst. Die nationale Politik ist in der Spielanordnung der Globalisierung objektiv limitiert. Doch ist eine Nation nicht mehr souverän, dann ist auch ihre Demokratie nicht mehr souverän.
Die EU-Mitgliedsstaaten und die EU
Die Außenhandelsverflechtung aller EU-Staaten ist mit durchschnittlich mehr als einem Drittel relativ hoch. Doch für jedes EU-Land ist die Summe der anderen EU-Länder der wichtigste Handelspartner. Die hohe internationale Verflechtung der Slowakei, Belgiens oder Österreichs ist also primär eine europäische Verflechtung.
Der entscheidende Punkt aus europäischer Perspektive ist so simpel wie wahr: Die gesamte Europäische Union als Einheit betrachtet ist eine relativ geschlossene Volkswirtschaft. Nur 13% der Produktion der EU werden exportiert und ein ebenso großer Anteil des Konsums wird importiert. In der folgenden Abbildung ist der Unterschied zwischen einer Betrachtung der einzelnen EU-Länder sowie der EU als Einheit visualisiert.
Die Konsequenzen aus dieser Betrachtung liegen auf der Hand: Durch die geringe Außenhandelsverflechtung ist die EU weder stark abhängig von Exporten, noch von außereuropäischen Direktinvestitionen. Für die EU gilt zwischen Politik und Wirtschaft die Spielanordnung einer geschlossenen Volkswirtschaft – und in einer großen geschlossenen Volkswirtschaft mit einem starken eigenen Binnenmarkt hat die Demokratie prinzipiell mehr Durchschlagskraft gegenüber der Wirtschaft, als in einer kleinen offenen. Die heutige EU ist – als Einheit betrachtet – ähnlich souverän wie die Nationalstaaten der 1960er Jahre.
Interne Begründung: Das Versprechen der Demokratie einlösen
„Die EU wird von vielen Menschen als Antrieb wirtschaftlicher Globalisierung und nicht als Schutzschild gegen deren unfaire Auswirkungen gesehen.“ Diese erstaunlich differenzierte Bestandsaufnahme findet sich anstelle der handelsüblichen Pro-Contra-EU Polemik im aktuellen Europawahl-Programm der österreichischen Sozialdemokraten. Dort folgt eine Reihe an Vorschlägen, wie die Europäische Union als politisches Instrument dienen kann, um weltanschauliche Ziele durchzusetzen. Beispielsweise gibt es ein klares Bekenntnis, die EU zu nutzen, um den Vorrang der Politik vor der Wirtschaft wiederherzustellen. In Folge sollte mit Hilfe dieser handlungsfähigen demokratischen Autorität der Welthandel politisch zivilisiert werden (ILO-Standards verbindlich implementieren etc.). Überdies soll eine europäische Industriepolitik forciert werden, die v.a. ökologische sowie regionalpolitische (Beschäftigungs-)Ziele verfolgt. Zuletzt wird eine Beseitigung des innereuropäischen Unterbietungswettbewerbs bei Unternehmenssteuern angestrebt.
Die einzelnen vorgeschlagen Maßnahmen können dem Betrachter – je nach subjektivem politischem Standpunkt – unterschiedlich sympathisch sein. Alleine eine Auseinandersetzung darüber würde den etablierten Parteien zur Rückgewinnung politischen Profils verhelfen und der destruktiven Polarisierung des Rechtspopulismus lebensnotwendige Aufmerksamkeit entziehen. Viel fundamentaler als diese tagespolitischen Erwägungen ist der Kern der Erkenntnis: Die EU ist der Rahmen, der fast alle Sachzwänge der Globalisierung auflöst und Ideen, die auf nationaler Ebene utopisch scheinen, realpolitisch umsetzbar macht. Wenn der politische Wille vorhanden ist, kann die Europäische Union das Versprechen der Demokratie tatsächlich einlösen. Das ist die Erzählung, die ihr Überleben sichern kann.
Zum Autor:
Nikolaus Kowall hat mit Unterstützung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien promoviert und ist Dozent an der Fachhochschule des BFI in Wien.