Neue Serie

Deutschland und die Digitalisierung

Die Digitalisierung ist eine der Großbaustellen der deutschen Wirtschaftspolitik. In einer neuen Makronom-Serie werden wir das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.

Bild: Pixabay

Was früher unmöglich erschien, ist in der Pandemie zur Selbstverständlichkeit geworden: von zu Hause aus arbeiten, per Video an Konferenzen teilnehmen, online eine breite Palette von Gütern kaufen oder kulturelle Angebote nutzen. Für all dies ist die Ausstattung mit digitaler Infrastruktur, Software und Geräten unabdingbar. Ebenso unabdingbar ist die Akzeptanz und Nutzung von digitalen Instrumenten in allen Bevölkerungsgruppen und Branchen.

Die Pandemie hat nicht nur den Fokus der Öffentlichkeit auf die IT-Ausstattung gerichtet, sondern auch zu einer verbesserten Akzeptanz und einem souveräneren Umgang mit der Technik auch bei Nicht-Digital-Natives geführt. Möglicherweise war dies genau die Disruption, die Deutschland davor bewahren kann, im analogen Mittelalter zu verharren und damit den Anschluss an die weltweite Entwicklung und somit auch an die Wertschöpfung der Zukunft zu verlieren.

Zu wenige Daten?

Empirische Kennziffern werden mittlerweile breit diskutiert. Daten haben in der Corona-Krise eine Bedeutung erlangt wie selten zuvor. Die Zahl der Neuinfizierten, die Inzidenzrate oder der R-Wert sind Grundlage für drastisch wirkende ökonomische Maßnahmen – wie die Schließung von Restaurants und Museen, das Verbot öffentlicher Veranstaltungen und andere Beschränkungen sozialer Kontakte. Natürlich ist zu wünschen und in der aktuellen Lage unbedingt erforderlich, dass die Politik evidenzbasiert – also auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse – gemacht wird Dies ist jedoch leichter gefordert als getan: Die (relevanten) Daten müssen erhoben werden und den Interessierten zur Verfügung stehen, sie müssen ausgewertet, wissenschaftlich bewertet und kommuniziert werden.

Tatsächlich konnte man in der zweiten Welle aber sehen, dass Politik Zahlen – soweit sie überhaupt vorlagen – interessengeleitet interpretiert: Zunächst hieß es beispielsweise, in Schulen und Kitas werden Infektionen nicht weitergetragen. Allerdings ist die Studienlage hier nicht eindeutig und es wurden wohl auch nicht genügend Studien in Auftrag gegeben. Wo die Infektionsherde tatsächlich sind, wo sich die meisten anstecken, ist offenbar nicht bekannt. Die Corona-Warn-App, bereits im Juni 2020 eingeführt, sollte die Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung der Infektionsketten unterstützen, doch nicht alle Behörden und Testlabore sind in die digitale Übermittlung von Testergebnissen eingebunden. Gäbe es genauere und zeitnahe Informationen über die Infektionswege, wäre ein genereller Lockdown möglicherweise überflüssig gewesen.

Das große Interesse der Öffentlichkeit an Daten lässt hoffen, dass die Bürger in Zukunft eine stärker evidenzbasierte Politik erwarten und auch darauf dringen. Dafür müssen Daten bereitgestellt werden. Während die großen Online-Plattformen unendlich viele Daten sammeln, herrscht in der öffentlichen Verwaltung ein Mangel an Daten und Koordinierung zwischen den unterschiedlichen föderalen Ebenen. Hier klagt die Forschung, dass Deutschland im internationalen Vergleich rückständig sei, wobei das in Deutschland besonders intensive Datenschutz-Misstrauen als ein Hauptgrund genannt wird.

Offenbar hat eine gewisse Trägheit dafür gesorgt, dass erst in der Krise Unternehmen, Verwaltungen und Haushalte ihre Arbeitsabläufe auf einen digitalen Modus umgestellt haben

Und sicherlich ist der Datenschutz ein sensibles Rechtsgebiet. Er soll vor allem die Nutzer von digitalen Leistungen vor Datenmissbrauch schützen. Tatsächlich wird aber dort, wo Interessengruppen möglichst wenig Transparenz wünschen, Datenschutz gern als Argument vorgeschoben: unter anderem im Gesundheitswesen und bei der Steuerverwaltung. Grundsätzlich hat die Bundesregierung aber erkannt, dass sie in Hinblick auf die Datennutzung und -koordinierung aktiv werden muss und im Januar 2021 eine Datenstrategie aufgesetzt. Walter J. Radermacher, ehemaliger Präsident des Statistischen Bundesamtes und ehemaliger Generaldirektor von Eurostat, befürchtet allerdings, dass die amtliche Statistik, ein wichtiges Instrument der Information, durch Sparprogramme schon seit langem gefährdet ist. Auch der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat in seinem jüngsten Gutachten Probleme bei der Digitalisierung in Deutschland aufgezeigt. Vor allem erkennt er verschiedene Formen von „Organisationsversagen“. Offenbar hat eine gewisse Trägheit dafür gesorgt, dass erst in der Krise Unternehmen, Verwaltungen und Haushalte ihre Arbeitsabläufe auf einen digitalen Modus umgestellt haben.

Alles in allem lässt sich wohl sagen, dass die Digitalisierung eine der Großbaustellen der deutschen Wirtschaftspolitik ist – und somit Grund genug dafür, dass wir das Thema in einer neuen Makronom-Serie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten wollen. Dazu zählen folgende Fragenkomplexe:

Politische Maßnahmen

Deutschland gehört in Hinblick auf die Anwendung digitaler Technologien nicht zu den Spitzenländern. Der Sachverständigenrat für Wirtschaft stellt in seinem aktuellen Jahresgutachten beispielsweise fest, dass Deutschland im Bereich digitale Verwaltung im EU-Vergleich auf Platz 21 von 28 Ländern steht. Der Mangel wurde vor allem in den Schulen augenfällig – hier scheinen Datenschutz, Föderalismus und geringe Digitalkompetenz (s. unten) eine unheilige Allianz eingegangen zu sein.

Auch die IT-Infrastruktur ist nicht auf dem neuesten Stand. Braucht Deutschland ein Digitalministerium? Wie gelingt in Deutschland echte digitale Innovation? Inwieweit sind hier industriepolitische Maßnahmen erforderlich?

Datenschutz

Es gibt Forderungen, den Datenschutz differenzierter zu betrachten. Vor allem die Forschung in Deutschland klagt darüber, einen im Vergleich zu anderen EU-Ländern stark eingeschränkten Zugang zu Daten zu haben. Ist der Datenschutz in Deutschland zu strikt? Behindert dies die Bürgernähe der öffentlichen Verwaltung? Was ist von der Datenstrategie der Bundesregierung zu halten?

Föderalismus

In der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass föderale Strukturen zu digital inkompatiblen Insellösungen geführt haben. Gleichzeitig haben unterschiedliche politische Entscheidungen zu einem Flickenteppich von Regelungen geführt. Muss der Föderalismus beschnitten werden, um eine Chance auf eine zielgerichtete, vernünftige und evidenzbasierte Politik zu erhalten?

Arbeitswelt

Gravierende Verhaltensänderungen hat es auch in der Arbeitswelt gegeben – Änderungen, die nur durch die Digitalisierung der Arbeitsbeziehungen möglich waren. Sehr vielen Beschäftigten wurde es in der Pandemie gestattet, ihren Tätigkeitsschwerpunkt nach Hause zu verlagern. Vor der Corona-Krise im Jahr 2019 hatte der Anteil von Beschäftigten, die in Deutschland manchmal oder normalerweise von zu Hause aus arbeiteten, nur bei 13% gelegen. Das war deutlich unter dem EU-Durchschnitt.

Von der Arbeit im Homeoffice werden verschiedene positive Effekte erwartet, neben einer gesteigerten Arbeitszufriedenheit werden eine Änderung der Siedlungsstruktur und eine umweltfreundliche Senkung der Mobilität prognostiziert. Was muss sich in den Unternehmen ändern, um die Bereitschaft für Arbeit im Homeoffice zu verbessern? Kann die Attraktivität ländlicher Räume durch den Ausbau der Breitbandinternet-Infrastruktur erhöht werden? Oder wird es so oder so ein „Back to Normal“ geben? Schließlich ergab eine Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft, dass von 1.200 befragten Unternehmen Ende 2020 zwei Drittel nicht vorhatten, ihren Beschäftigten nach der Corona-Krise mehr Homeoffice als vor der Krise zu ermöglichen.

Online-Handel

Was im Bereich der öffentlichen Verwaltung eher stockend vorangeht, funktioniert in der Privatwirtschaft hingegen sehr gut: In der Corona-Krise blüht der Online-Handel und Video-Konferenz-Anbieter (z.B. Zoom) verzeichen enorme Umsatzsteigerungen.

Manches hätte allerdings für den stationären Handel oder auch die Gastronomie besser laufen können, wenn sich die Anbieter in einer gemeinsamen nationalen Lieferplattform zusammengefunden hätten. Der Handel muss sich offenbar neu organisieren, zumal in der Pandemie eingeübtes Käuferverhalten nach der Krise sehr wahrscheinlich nicht so leicht geändert wird.

Abgesehen davon wird das veränderte Kaufverhalten in Richtung auf den Online-Handel durchaus kontrovers beurteilt. Welche politischen Maßnahmen sind erforderlich, um hier zu gestalten? Was sollte getan werden, um die Macht monopolisierter Plattformen zu beschränken? Und wie lassen sich eventuell Anreize schaffen, dass die Digitalisierung nicht zu einer Verödung der Innenstädte führt?

Die Wertschöpfung der Zukunft

Die Digitalisierung hat auch eine geopolitische Komponente: Was haben Deutschland und die EU den wichtigsten Playern China und USA entgegenzusetzen? Mit GAIA-X versucht die EU eine europäische Cloud-/Dateninfrastruktur-Lösung für die Wirtschaft aufzusetzen, um vom (all-)mächtigen US-amerikanischen Cloud-Anbieter Amazon unabhängiger zu werden. Noch ist allerdings nicht klar, wer tatsächlich von dem Projekt profitiert.

Die Digitalisierung des deutschen Mittelstands wird währenddessen dadurch gehemmt, dass es sehr schwer ist, bezahlbare und datenschutzkonforme Cloud-Lösungen zu finden. Ebenso ist die Zukunft für die Autoindustrie ungewiss. Die deutschen Automobilbauer sind ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor – und bleiben bei ihrem alten Geschäftsmodell. So lange sich PS-starke Benziner noch gut nach China verkaufen lassen, besteht kein allzu großer Innovationsdruck. Da China, aber auch US-Firmen wie Tesla, unter Hochdruck an KI und elektrifiziertem Fahren arbeitet, könnte dieses Konzept allerdings kurzsichtig sein.

Kurz: Die Wertschöpfung in Deutschland und der EU steht auf dem Spiel. Die wirtschaftliche Zukunft ist entscheidend von digitalen Technologien und einer entsprechend ausgebauten Infrastruktur abhängig. Datenschutz ist wichtig. Es sollte aber abgewogen werden, wie weit dieser Schutz gehen soll. Ein Schutz, der jeden Fortschritt verhindert, ist nicht zeitgemäß. Die entscheidende Frage ist: Wie kann es Deutschland und der EU gelingen, gegen China und die USA zu bestehen?

Wie schon unsere vorherige Serie zur Wirtschaftspolitik im Post-Corona-Zeitalter wird auch die Serie zur Digitalisierung einen „offenen“ Charakter haben: Wir haben bereits einige AutorInnen für verschiedene Beiträge gewinnen können. Es besteht aber die Möglichkeit, noch eigene Akzente zu setzen oder mit Repliken auf bereits erschienene Beiträge zu reagieren. Themenvorschläge schicken Sie bitte an [email protected].

 

Zur Autorin:

Susanne Erbe ist Redakteurin beim Makronom. Bis Ende 2020 war sie stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Wirtschaftsdienst. Auf Twitter: @susanneerbe