Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts München, behauptete unlängst in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der in den 1970er Jahren vorherrschende wirtschaftspolitische Glaube an staatliche Interventionen wäre zurück. Jedoch zeige laut Fuest „die Erfahrung“, dass Wettbewerb wirtschaftliche Probleme besser löse als der Staat. Was ist davon zu halten?
Laut Fuest vergeht derzeit kaum ein Tag, an dem nicht „angeblich neoliberale Politik“ für ihren Marktglauben und die Folgen daraus (Populismus, Ungleichheit, Bankenpleiten usw.) kritisiert würde. Doch wäre diese Kritik in Zweifel zu ziehen. Denn die wirtschaftliche Freiheit in Deutschland ginge leicht zurück. Außerdem stünden immer weniger Menschen dem „Sozialismus“ (was immer das sein mag) kritisch gegenüber, während immer mehr Menschen staatliche Interventionen in „den“ Markt befürworten. Und statt bessere Bedingungen für private Investitionen zu schaffen, würden „zusätzliche Belastungen diskutiert und mit Umverteilungszielen gerechtfertigt“, was im Falle der Vermögenssteuer sogar mit der Leugnung ökonomischer Fehlanreize einherginge. Soll das neoliberale Politik sein?
Nein, so Fuest, vielmehr wäre „die politische Debatte in Deutschland zunehmend von einer Haltung geprägt, die das Gegenteil von liberal oder neoliberal ist“. Fuest fühlt sich hier an den Dirigismus der 1970er Jahre erinnert. Natürlich herrschen heute ganz andere Verhältnisse vor. Und um diesem Umstand angemessen Ausdruck zu verleihen, macht Fuest aus dem negativ (anti-keynesianisch) konnotierten „Dirigismus“ den „Neodirigismus“. Diesen definiert Fuest wie folgt:
„Erstens besteht ein geringes Vertrauen in die Fähigkeit von Märkten, Preismechanismen und Wettbewerb, wirtschaftliche Probleme zu lösen. Stattdessen wird staatlichen Institutionen zugetraut, durch steuernde Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen bessere Ergebnisse zu erzielen. Zweitens gehört zum Neodirigismus die Vorstellung, dass ökonomische Anreize für wirtschaftliche Entscheidungen keine zentrale Rolle spielen. Daraus folgt drittens die These, dass der Staat durch Preisregulierungen, Sozialtransfers oder Steuern Einkommen umverteilen kann, ohne dass größere Ausweichreaktionen und schädliche Nebenwirkungen zu befürchten sind.“
Neomarktfundamentalistische Basisargumentation?
Das überzogene und passend zurecht gedrehte (Feind-)Bild des „Neodirigismus“, das Fuest als Ausgangspunkt dient, lässt bereits erahnen, dass sein Text für mehr Vertrauen in „die Märkte“ und „den Wettbewerb“ wirbt. Es wäre aber falsch, ihm einen simplen Neoliberalismus bzw. Marktfundamentalismus zu unterstellen. Denn Fuest drückt sich vorsichtig genug aus, um den Kritikerinnen und Kritikern einer „neoliberalen“ Politik keine allzu offensichtliche Angriffsfläche zu bieten. So nutzt er zwar marktfundamentalistische Argumentationsmuster, wirkt aber präventiv dem Vorwurf der reinen Marktgläubigkeit durch zwei Strategien entgegen.
Erstens bekennt er sich zum ordnungspolitischen Rahmen, der natürlich staatlichen Handelns bedarf. Damit ist er kein reiner Marktgläubiger mehr (gemessen am eigenen Bild der Kritik am „Neoliberalismus“). Die zweite Strategie liegt darin, sich mit direkten Marktbekenntnisse zurückzuhalten. Stattdessen kommt der Glaube in Markt und Wettbewerb indirekt zum Ausdruck. Im Text werden nämlich die als dirigistisch dargestellten Maßnahmen als untauglich bis schädlich dargestellt, so dass am Ende die marktwirtschaftliche Logik als irgendwie einzige positive Lösungsoptions naheliegt.
Trotz aller relativierenden Elemente bleibt letztlich hängen, dass „der Markt“ doch eine ziemlich gute und gut funktionierende Sache sei, er zwar vereinzelt regulierender Eingriffe bedarf – es Deutschland damit aber viel zu weit treibt. Fuests Kernbotschaft lautet: Wider dem Neodirigismus, der sich in Form von Vermögens- und Erbschaftssteuern, der Subvention alternativer Energien (Sonne und Windkraft), (Feinstaub-)Verboten und anderen „ideologisch motivierte[r], über die erforderliche Rahmensetzung hinausgehende[r] Interventionen“ manifestiert.
Anti-dirigistisches Raunen
Fuests Moralparänese wider dem Neodirigismus wäre eigentlich keiner großen Aufmerksamkeit wert, wenn der Text nicht prominent in einer großen Zeitung platziert worden wäre. Somit werden besonders öffentlichkeitswirksam jene Ökonominnen und Ökonomen als „Neodirigisten“ desavouiert, die sich in letzter Zeit für eine Förderung der Infrastruktur stark machten, dies auch mit Blick auf eine sozial gerechte Klimapolitik taten und die zur Finanzierung z. B. über eine Reaktivierung der Vermögenssteuer nachdachten. Einmal unter „Neodirigismus“ abgeheftet, soll sich wohl jede weitere Diskussion erübrigen. Statt also den Dialog zu fördern, spaltet Fuest mit seinem Text. Dazu passt, dass der Text vor Einseitigkeiten und fragwürdigem Geraune strotzt.
Das fängt beim einseitigen Bild an, das er von der Kritik an einer „neoliberalen“ Wirtschaftspolitik zeichnet: So geschichtsvergessen und damit bereits historisch verfehlt die Kritik am Neoliberalismus wäre, so verfehlt sei diese Kritik auch gegenüber der Gegenwart. Die Marktgläubigkeit halte sich in Grenzen und vom Rückzug des Staates könne gar keine Rede sein.
Würde Fuest darin ernst genommen, sich auf die Erfahrung zu berufen, wie er es am Anfang seines Texts für sich in Anspruch nimmt, dann wären hier wohl Differenzierungen angebracht – die von seinem Zerrbild der Kritik am Neoliberalismus recht wenig übrig lassen würden. Denn es existiert durchaus eine tief schürfende Forschung zum Neoliberalismus, die sich keineswegs so geschichtsvergessen gibt, wie Fuest es darstellt. Zu denken wäre an die Beitrage in Walter Ötsch und Claus Thomasberger (2009) oder aktuell Quinn Slobodian (2019). Darüber hinaus existiert auch Forschung z. B. zur Wechselwirkung zwischen Ökonomisierung und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Die Kritik an einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ist somit gar nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat ein empirisch gut untersuchtes Fundament. Und das dürfte für viele der Konsequenzen „neoliberaler“ Wirtschaftspolitik gelten, die Fuest als „angeblich“ in Abrede stellt.
Gerade im Umweltbereich irritiert es ferner, wenn Fuest die Förderung alternativer Energien dem Wettbewerb überlassen möchte, ohne zu fragen, ob dort derzeit überhaupt von einem „fairen“ Wettbewerb die Rede sein kann. Noch irritierender wirkt dazu der folgende eingestreute Satz: „Außerdem wird eine verlässliche Versorgung der Industrie mit bezahlbarem Strom benötigt.“
Fuest schreibt hier zwar nicht von Kohle- und Atomstrom, aber im Kontext seiner Ablehnung der Förderung alternativer Energien liest sich das durchaus wie ein Plädoyer dafür. Das wirkt nicht nur rückschrittlich, sondern ist ökonomisch auch fragwürdig, weil mensch davon ausgehen kann, dass die Kosten „traditioneller“ Stromerzeugung in Form von z. B. Umweltzerstörung, Klimaschädigung usw. keine angemessene Berücksichtigung finden. Was dazu eine erhebliche Inkonsistenz in der Argumentation darstellt, ist der Umstand, dass Fuest für die Industrie bezahlbaren Strom einfordert und damit ein Ergebnis vorgibt, das eigentlich „der Markt“ produzieren soll – ganz so, als ob das kein dirigistischer Akt wäre.
In dieser Weise setzt sich Fuest auch mit der Investitionspolitik sowie der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik auseinander. Gerade letztere Ausführungen sind dabei meiner Meinung nach besonders tendenziös und problematisch.
Neodirigistische Sozial- & Arbeitsmarktpolitik
Auch die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik stehe laut Fuest in der Versuchung, neodirigistisch überformt zu werden:
„Typisch für Neodirigismus im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist die Forderung nach der „Überwindung“ der Agenda-2010-Reformen. Auch hier wird die Rolle ökonomischer Anreizwirkungen geleugnet. Dass Empfänger von Hartz-IV-Leistungen verpflichtet werden, sich um Beschäftigung zu bemühen, wird als unzumutbar zurückgewiesen. Anreize zur Arbeitsaufnahme seien nicht erforderlich. Arbeitslose nicht nur zu unterstützen, sondern von ihnen auch Anstrengungen bei der Jobsuche einzufordern, sei unzumutbar.“
Möglicherweise mag Fuest hier das Nachdenken über Modelle des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) adressiert haben, ohne dies bewusst namentlich erwähnen zu wollen. In der Tat wird in der BGE-Debatte ein anderes Verständnis von Arbeit eingefordert, über das sich durchaus diskutieren ließe. Dazu wäre jedoch eine entsprechende Einordnung und differenzierte Auseinandersetzung notwendig, die Fuest aber nicht leisten will.
Stattdessen scheint Fuest die BGE-Debatte mit der Kritik an Hartz IV zu vermengen. Und dabei verdreht er offenbar bewusst, dass am Arbeitslosgengeld II (ALGII) nicht die Verpflichtung zur Mitwirkung als unzumutbar kritisiert wird. Nein, es geht um die Definition von „Zumutbarkeit“, um unzumutbare Arbeit und unzumutbare Mitwirkungspflichten sowie unzumutbare Sanktionen. Das ist ein enormer Unterschied zu seiner Behauptung im Text!
Im Übrigen stellt der ALG-II-Regelsatz das Sub-Existenzminimum dar – laut aktuellem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind dies 70 Prozent des soziokulturellen Existenzminimums (Sell 2019) –, so dass es dort für viele Menschen ganz real ums Überleben geht. Fuest verschweigt dazu, dass die ökonomische Anreizwirkung im ALG II in unmittelbarem Zusammenhang mit der Existenznot der Bedürftigen steht. Die Existenznot ist gegenwärtig das Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Wer nun aber diese Existenznot lindern möchte, verneint – so suggeriert Fuest – die Rolle der ökonomischen Anreize.
Fragwürdig ist auch das vermittelte Menschenbild. Zwar behauptet Fuest nicht direkt, Arbeitslose seien faule Drückeberger, denen Beine gemacht werden müsse. Aber zu insinuieren, die Kritik an Hartz IV laufe darauf hinaus, das Einfordern der Bemühung um Arbeit als „unzumutbar“ zu ächten oder Arbeitsanreize als nicht notwendig anzusehen, offenbart schlicht eine Unkenntnis der Debatte und bedient darüber hinaus den Vorbehalt der sozialen Hängematte: Wer Hartz IV kritisiere, so der Eindruck, befürworte leistungslose Einkommen auf Kosten der Gesellschaft.
Dies formuliert Fuest durchaus geschickt. Denn in der Tat: unter einem reinen isoliert betrachteten modell-ökonomischen Kalkül mag z. B. die hohe Transferentzugsrate – also das, was Bedürftige im Sozialtransfer von einer nicht existenzsichernden Entlohnung behalten dürfen – negativ auf das individuelle Arbeitsangebot wirken. Nur ist das ein reines Modelldenken. Und im Text wird erst allgemein von Anreizen zur Arbeitsaufnahme gesprochen, um diese Verallgemeinerung dann im nachfolgenden Satz mit der Erwähnung des Wunschs nach Mehrarbeit etwas zu relativieren.
Dessen ungeachtet geht das Reden von den „richtigen“ Anreizen völlig am Alltag der Betroffenen im Sozialtransfer vorbei. Wie viele der Betroffenen können es sich denn erlauben, die Mitwirkung zu verweigern oder angebotene Jobs nicht anzunehmen? Tatsächlich ist das Hartz-IV-System so repressiv, dass es auf Betroffene geradezu zynisch wirken muss, ihnen mittels ökonomischer Anreizlogik eine mangelnde ökonomische Motivation zu attestieren. Wie geschrieben: Für die Betroffenen geht es in aller Regel um die schiere (Sub-)Existenz!
Davon abgesehen ist Fuest auch in seinen Ausführungen über die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik abermals inkonsistent und inkonsequent. So malt er zwar bei praktisch jeder Gelegenheit das Gespenst vom Neodirigismus an die Wand – aber es fällt ihm nicht einmal im Ansatz ein, den äußerst repressiven Dirigismus des Hartz-IV-Systems zu kritisieren. Konsequent im Sinne seiner Neodirigismus-Kritik wäre es gewesen, Maßnahmen zur Reduzierung des Dirigismus im Sozialbereich vorzuschlagen (von Strafen über die Residenzpflicht bis zur Antragstellung).
Neosystemstreit
Was an dem Text insgesamt erschrecken lässt, ist, wie stark er in das Denken des Ost-West-Systemstreits – Planwirtschaft hier, freie Marktwirtschaft dort – zurückfällt und mindestens gut drei Jahrzehnte des ökonomischen Diskurses ignoriert. Der ifo-Chef leistet sich damit eine Undifferenziertheit, die er wiederum einer Kritik am „Neoliberalismus“ – zu Recht – nicht durchgehen lassen würde.
So zieht Fuest gar nicht erst in Betracht, dass Menschen gute Gründe haben, um sich nicht auf „den Markt“ zu verlassen. Tatsächlich kann der Standpunkt vertreten werden, dass sich marktwirtschaftlicher Wettbewerb und Soziales unversöhnlich gegenüberstehen. Es handelt sich dann um eine Gegensätzlichkeit, die sich mit dem Begriff der „Marktkonformität“ allenfalls kaschieren lässt. Aber selbst wer diesen Standpunkt vertritt, muss doch nicht ins Extrem einer Planwirtschaft flüchten! Es ist ein großer Unterschied, ob ich diese Gegensätzlichkeit verleugne und mit „Marktkonformität“ zu Gunsten von marktwirtschaftlichem Wettbewerb beantworte oder ob ich – wie im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nach Müller-Armack angelegt – im Bewusstsein um diese Gegensätzlichkeit je nach gesellschaftspolitischer Situation Abstriche beim Sozialen oder beim Wettbewerb hinnehme.
Außerdem liefern Genossenschaften ein gutes Beispiel dafür, wie abseits „des Marktes“ und abseits einer Planwirtschaft gewirtschaftet werden kann. Insgesamt steht zu vermuten, dass es zukünftig mehr von solchen dezentral organisierten, gemeinschaftlichen Wirtschaftsformen braucht, wenn Probleme des Umweltschutzes oder anderer „Hinterland“-Probleme in menschengerechter Weise angegangen werden sollen. Dazu wären Biotope zum Experimentieren notwendig, die zum Teil auch (vorübergehend) gegen „den Markt“ zu schützen sind. Das Denken in Wirtschaftsstilen, die auch den Bereich des „Nicht-Marktes“ zulassen, wäre notwendig, um die Schnittstellen zwischen „Markt“ und „Nicht-Markt“ sowie die Grenzen von nicht-marktwirtschaftlichen Lösungen näher analysieren zu können. Übrigens bietet sich hier zukünftig ein interessantes und fruchtbares Feld für offene und interessierte Ökonominnen und Ökonomen diesseits und jenseits standard-ökonomischer Positionierungen, um sich mit alternativen Wirtschaftsformen und alternativen Rationalitäten des Wirtschaftens auseinanderzusetzen.
Deshalb wirft uns das Denken, das Fuest im Text mit seinem Neodirigismus präsentiert, um Jahrzehnte zurück. Im Grunde ist es auch wenig liberal, weil es die Entscheidung für oder gegen marktwirtschaftliche Lösungen (make-or-buy) einseitig zu Gunsten einer vermeintlich staatlich gerahmten Marktgläubigkeit beantwortet. Dies aber stellt ein Hindernis dafür dar, über verschiedene nachhaltige Wirtschaftsstile nachzudenken, die selbstverständlich auch jenseits „vom Markt“ liegen können.
Zum Autor:
Sebastian Thieme ist Diplom-Volkswirt, hat im gleichen Fach zum Thema „Subsistenz/Selbsterhaltung“ promoviert. Er ist im Wintersemester 2019/2020 Vertretungsprofessor im Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz, wo er bereits im WS 2018/2019 eine Professur für VWL vertrat, und war in verschiedenen Projekten zur Pluralität der Ökonomik tätig. Forschungsschwerpunkte sind u. a. Subsistenzethik, Selbsterhaltung als Wirtschaftsmotiv, Sozialstaat, Ökonomik und Normativität, Plurale Ökonomik, das Denken in Wirtschaftsstilen und ökonomische Misanthropie. Webseite: economicethics.blogspot.com Auf Twitter: @EconomicEthics