Höhere Anreize zur Arbeitsaufnahme
Der Konsens in der Arbeitsmarktforschung ist, dass eine Absenkung des Arbeitslosengelds oder eine Verlängerung der Bezugsdauer aufgrund des veränderten Such- bzw. Bewerbungsverhaltens der arbeitslosen Erwerbspersonen die Arbeitslosigkeit senken kann. Beispielweise veröffentlichten Alan Krueger und Bruce Meyer 2002 einen Übersichtsartikel, der eine große Anzahl von empirischen mikroökonomischen Studien umfasste, die mittels Daten über arbeitssuchende Personen den Effekt des Arbeitslosengelds auf das Suchverhalten abschätzen. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass eine Kürzung des Arbeitslosengelds um ein Prozent die Chance eines Arbeitslosen, einen Job zu finden, auch um durchschnittlich ein Prozent steigert.
Mittlerweile gibt es aufgrund der US-amerikanischen Erfahrungen in der Großen Rezession verstärkt Stimmen, die einen Zusammenhang dieser Größenordnung zwischen Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit in Frage stellen. Doch ebenso gibt es neuere Studien zur Großen Rezession in den USA, deren Ergebnisse einen starken Zusammenhang bestätigen. Tom Krebs schätzt, dass die aktuelle Konsensmeinung von einer mikroökonomischen Elastizität von 0,5 ausgehe. „Das bedeutet, dass eine 1%ige Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für alle Kurzzeitarbeitslosen zu einem Anstieg der Chance, einen Job zu finden, um 0,5% führt“, so Krebs.
Ein wesentlicher Bestandteil der Hartz IV-Reform war die Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II und damit verbunden eine erhebliche Kürzung der Lohnersatzleistungen für viele Langzeitarbeitslose: Insgesamt hat die Hartz-IV-Reform die (Netto-)Lohnersatzleistung für langzeitarbeitslose Erwerbspersonen, deren vorheriges Arbeitseinkommen dem durchschnittlichen Arbeitseinkommen entsprach, von 57% auf 46% reduziert – eine Senkung um 11 Prozentpunkte. Wenn langzeitarbeitslose Erwerbspersonen mit nur 67% des durchschnittlichen Arbeitseinkommens betrachtet werden, dann ergibt sich eine kleinere, aber immer noch erhebliche Reduktion der Lohnersatzleistung um 6 Prozentpunkte. Hingegen hat die Hartz-IV-Reform die durchschnittliche Lohnersatzleistung für kurzzeitarbeitslose Erwerbspersonen nicht verändert.
Eine Senkung des Arbeitslosengelds veranlasst Arbeitslose, intensiver nach Beschäftigung zu suchen und auch schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen – dieses Prinzip entspricht dem „Fordern“ im berühmten Leitsatz „Fördern und Fordern“. Dieser Wirkungskanal senkt die strukturelle Arbeitslosigkeit, führt aber auch zu einem → Rückgang der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität und der Löhne.
In einer 2013 erschienenen Studie haben Tom Krebs und Martin Scheffel die Auswirkungen der Hartz-IV-Reform untersucht, die sich aufgrund der Veränderung des Suchverhaltens der arbeitslosen Erwerbspersonen ergeben. Demnach hat die Hartz-IV-Reform zu einem erheblichen Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit um etwas mehr als einen Prozentpunkt geführt.
Anders als Krebs und Scheffel kamen Andrey Launov und Klaus Wälde in einer ebenfalls 2013 erschienen Studie zu dem Ergebnis, dass die Hartz-IV-Reform die strukturelle Arbeitslosigkeit kaum gesenkt hat (sie diagnostizieren einen Rückgang um lediglich 0,1 Prozentpunkte).
Laut Tom Krebs gibt es zwei Gründe für die Abweichungen zwischen beiden Studien: Launov und Wälde differenzierten zwischen Erwerbspersonen mit unterschiedlichen Qualifikationsniveaus, während Krebs und Scheffel dies nicht taten – „und wir dadurch die Beschäftigungseffekte der Hartz-IV-Reform überschätzten“, wie Krebs einräumt. „Denn Erwerbspersonen mit hoher Qualifikation haben eine niedrigere Arbeitslosenquote als Geringqualifizierte und waren gleichzeitig am stärksten betroffen von den Leistungskürzungen im Rahmen der Hartz-IV-Reform.“
Außerdem würden beide Studien unterschiedliche Annahmen im Hinblick auf die „Größe“ der Hartz-IV-Reform treffen. Laut Launov und Wälde war die Hartz-IV-Reform eine „kleine“ Reform, die nur einen geringen Effekt auf die durchschnittliche Lohnersatzleistung für langzeitarbeitslose Erwerbspersonen gehabt habe. Hingegen stützten sich Krebs und Scheffel auf OECD-Daten, die die Hartz-IV-Reform als eine „große“ Reform ausweisen.
2016 veröffentlichten Krebs und Scheffel eine weiterführende Analyse in einem erweiterten Modellrahmen mit verschiedenen Beschäftigungszuständen (Vollzeit, Teilzeit, Mini-Jobs) und einer großen Anzahl an Haushaltstypen. Diese zeigte, dass der durch die Hartz IV-Reform verursachte Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit moderater ausfiel – je nach Modellspezifikation zwischen einem halben und einem Prozentpunkt. Der Grund für die Abschwächung des Reform-Effekts ist laut Krebs und Scheffel, dass die Erwerbspersonen mit hoher Arbeitslosigkeit (Geringqualifizierte, Ostdeutsche) relativ wenig betroffen waren von den Leistungskürzungen im Rahmen der Hartz IV-Reform.
Quellen:
- Tom Krebs: Welche Auswirkungen die Hartz IV-Reform auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit hatte
- Tom Krebs: Mythos Hartz IV
- Andrey Launov & Klaus Wälde: Estimating Incentive and Welfare Effects of Nonstationary Unemployment Benefits
- Alan B. Krueger: Labor Supply Effects of Social Insurance
- Jesse Rothstein: Unemployment Insurance and Job Search in the Great Recession
- David Card, Andrew Johnston, Pauline Leung, Alexandre Mas & Zhuan Pei: The Effect of Unemployment Benefits on the Duration of Unemployment Insurance Receipt: New Evidence from a Regression Kink Design in Missouri, 2003–2013