Eine Reihe von Studien des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) hat in den letzten dreieinhalb Jahren systematisch den Zustand der Ökonomik in Deutschland untersucht. Dabei wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Welche Lehrbücher werden an deutschen Hochschulen verwendet? Wie plural sind sie? Wie sind Lehrstühle besetzt? Und was denkt eigentlich der wissenschaftliche Nachwuchs über sein Fach?
Die Ergebnisse dieser Studien werden in einer Beitragsserie im Makronom veröffentlicht. Insgesamt gibt es zwölf Beiträge, von denen pro Woche immer einer montags erscheinen wird. Den Auftakt machte vorige Woche ein Überblicksartikel über die Projekte des Themenbereichs. In dem folgenden Beitrag diskutieren Michael Roos und Tom Bauermann von der Ruhr-Universität Bochum die Ergebnisse einer Umfragestudie unter Doktorandinnen und Doktoranden in der VWL.
Dass sich der Ausbruch der Finanzkrise und der Großen Rezession zum zehnten Mal jährt, ist ein naheliegender Anlass, über den Zustand der Makroökonomik und der Volkswirtschaftslehre im Allgemeinen nachzudenken. Grundsätzlich neigt die Disziplin kaum zur Selbstreflexion. Umso bemerkenswerter ist es, dass im Oxford Review of Economic Policy das Themenheft „Rebuilding Macroeconomic Theory“ erschienen ist, in dem sich prominente Makroökonomen in 14 Beiträgen Gedanken darüber machen, wie die Makroökonomik weiterentwickelt werden sollte.
Die meisten dieser Autorinnen und Autoren sind sich einig, dass man an der gegenwärtigen Makroökonomik einiges kritisieren kann. In ihrem einführenden und zusammenfassenden Aufsatz schreiben David Vines und Samuel Wills:
“In this issue we find that nearly all of our authors agree that the benchmark New Keynesian DSGE model is flawed. Most also agree with our own view, that it can and should be rebuilt rather than abandoned, though views differ greatly on what exactly will be required. However, some of our authors think that the existing benchmark DSGE model should be discarded, and that we should start again.”
Wie Vines und Wills feststellen, ist das Spektrum der Einschätzungen recht breit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass es kaum Bereitschaft gibt, die Makroökonomik grundsätzlich zu überdenken und neue Ideen zu erproben. So ist beispielsweise Ricardo Reis der Ansicht, dass sich das Fach eigentlich sehr gut entwickelt. Als Beleg listet Reis acht Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf, die kürzlich an einer der U.S.-Eliteuniversitäten promovierten und seiner Meinung nach sehr originelle und relevante Forschung betreiben. Das größte Verbesserungspotential sieht er im Bereich der Doktorandenlehre, die seiner Ansicht nach noch zu sehr auf das friktionslose neoklassische Modell setze und zu wenig datenorientiert sei.
Olivier Blanchard, der kurz vor Ausbruch der Krise noch konstatierte, dass der Zustand der Makroökonomik gut sei, gibt sich dagegen zerknirscht und stellt nun fest, dass die gegenwärtigen DSGE-Modelle in vielfältiger Hinsicht Mängel hätten. Allerdings glaubt er auch, dass man sie verbessern könne und sie zentral für die Zukunft der Makroökonomik seien.
Selbst Paul Krugman, der nach der Krise die Makroökonomik heftig kritisierte hatte, sieht keine Notwendigkeit mehr für eine größere Veränderung. Er zitiert Max Planck, wonach sich die Wissenschaft von Beerdigung zu Beerdigung fortentwickele, da etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selten ihre Überzeugungen revidierten. Nach den Krisen in den 1930ern und 1970er sei dies ausnahmsweise doch geschehen, so dass es damals zu wissenschaftlichen Revolutionen kam. Krugmans Ansicht nach blieb die wissenschaftliche Revolution nach der letzten Krise bisher aus, weil es nicht genug Änderungsdruck gegeben habe.
Der Grund dafür ist für ihn, dass es genug keynesianisch geprägte Makroökonominnen und -ökonomen gab und gibt – vor allem an wichtigen wirtschaftspolitischen Schaltstellen – und die Folgen der Krise durch eine geeignete Geld- und Fiskalpolitik rasch und effektiv bewältigt werden konnten. Daher sähen sich „Salzwasserökonomen“ wie er bestätigt, während die „Süßwasserökonomen“ keinen Veränderungsdruck spürten, da die Krise nicht schlimm genug war. So musste niemand seine Ansichten ändern.
Eine alternative Modellierungsphilosophie
Der einzige Beitrag im genannten Sonderheft, der für einen grundlegend neuen Ansatz in der Makroökonomik plädiert, stammt von Andrew Haldane und Arthur Turrell, die beide für die Bank of England arbeiten. Haldane und Turrell beklagen eine makroökonomische „Monokultur“ der DSGE-Modelle mit rationalen Erwartungen und Optimierung. Zudem sei die Makroökonomik im Vergleich zu anderen Wissenschaftsdisziplinen außerordentlich „insular“, d.h. abgeschottet gegenüber äußeren Einflüssen.
Um diesen Problemen zu begegnen, schlagen Haldane und Turrel vor, agentenbasierten Modellen mehr Raum in der Makroökonomik einzuräumen. Diese Modelle stammen aus einer anderen Modellierungsphilosophie, die ohne Gleichgewichtsannahmen, Optimierung und rationale Erwartungen auskommt und daher eine wirkliche Ergänzung der vorherrschenden DSGE-Methode wäre. Außerdem sind agentenbasierte Modelle in anderen Disziplinen wie der Physik, der Biologie oder der Computerwissenschaft bereits sehr verbreitet, was der Volkswirtschaftslehre die Gelegenheit gäbe, sich gegenüber anderen Wissenschaften zu öffnen. Bemerkenswert an der Diskussion von Makroökonominnen und -ökonomen über den Zustand ihrer Disziplin ist das sehr flache wissenschaftstheoretische Niveau und die fehlende Bereitschaft, sich wirklich mit fundamentaler methodologischer Kritik auseinanderzusetzen. In der Makroökonomik sind vor allem die Kritik am Umgang mit fundamentaler Unsicherheit und die Verwendung von Modellen mit repräsentativen Agenten relevant.
Wie Leonhard Dobusch darlegt, reagieren viele Mainstream-Ökonominnen und -Ökonomen auf Kritik an ihrer Methode und der Forderung nach mehr Pluralismus auf eine unreflektierte, nahezu standardisierte Weise. So wird beispielsweise Modellpluralismus meist mit Theoriepluralismus verwechselt. Methodische Vielfalt ist zudem nur zulässig, solange sie sich auf mathematische und ökonometrische Methoden beschränkt. Mit qualitativer Forschung können die meisten Ökonominnen und Ökonomen wenig anfangen. Sie haben üblicherweise nur eine sehr geringe wissenschaftstheoretische Ausbildung und noch weniger Bereitschaft, über Methodologie nachzudenken. Bezeichnender Weise beginnt Olivier Blanchard seinen oben bereits erwähnten Artikel über die Zukunft makroökonomischer Modelle wie folgt:
“One of the best pieces of advice Rudi Dornbusch gave me was: never talk about methodology; just do it. Yet, I shall make him unhappy, and take the plunge.”
Noch deutlicher äußert sich Ricardo Reis:
“I accepted the invitation to write this essay and take part in this debate with great reluctance. The company is distinguished and the purpose is important. I expect the effort and arguments to be intellectually serious. At the same time, I call myself an economist and I have achieved a modest standing in this profession on account of (I hope) my ability to make some progress thinking about and studying the economy. I have no expertise in studying economists.
I go to work every day to understand why inflation goes up and down or why some fiscal systems deliver better outcomes than others. Making progress on these questions frequently requires taking detours into narrow technical points on definitions of equilibrium or the properties of statistical estimators. But the focus always remains on understanding the economy, not the profession of economics. I personally love reading biographies and delight in thinking about what a young Alfred Marshall would say to a young Kenneth Arrow. Yet, I do not confuse these pleasurable intellectual leisure times with my job as a researcher.”
Für Reis ist das Nachdenken darüber, was Ökonominnen und Ökonomen tun, also eine vergnügliche Freizeitbeschäftigung, aber kein Bestandteil seiner Arbeit als Wissenschaftler. Deutlicher kann man seine Missachtung für Wissenschaftstheorie eigentlich kaum ausdrücken. Vor diesem Hintergrund muss man sich über die Stagnation in der Disziplin kaum wundern.
Wie Doktorandinnen und Doktoranden arbeiten
Max Planck folgend sollte man seine Hoffnungen auf eine Weiterentwicklung der Wissenschaft in den wissenschaftlichen Nachwuchs setzen. Daher ist es wichtig zu wissen, wie Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler über ihre Disziplin denken und wie sie arbeiten. Zu diesem Zweck hat ein Team der Ruhr-Universität Bochum eine Umfragestudie unter Doktorandinnen und Doktoranden in der VWL durchgeführt und diese nach den verwendeten Forschungsmethoden und Einstellungen gegenüber dem Fach befragt.
An der Umfrage beteiligten sich 448 Personen. Knapp 50% der Promovierenden ordnen ihre Doktorarbeit den klassischen Teilgebieten der VWL, Ökonometrie, Mikro- und Makroökonomik, sowie den Gebieten Arbeitsmarkt-, Verhaltens- und Finanzmarktökonomik zu. 91 Befragte gaben „Makroökonomik“ als Arbeitsfeld an. Nur zu einem verschwindenden Anteil (< 2%) widmen sich Promovierende Themen aus der Wirtschafts- und Theoriegeschichte der VWL.
Die Art und Weise der Promotion nähert sich dem amerikanischen Vorbild von Promotionen. Zwar promovieren die meisten noch immer an einem Lehrstuhl (54% der Befragten), jedoch promovieren 40,4% im Rahmen eines strukturierten Doktorandenprogramms. Die Orientierung an internationalen Standards kommt noch stärker in der angestrebten Art der Dissertation zum Ausdruck. Eine große Mehrheit von 90,9% der Befragten gab an, im Rahmen einer kumulativen Dissertation promovieren zu wollen, während nur 9,1% die Antwortoption Monographie wählten. 66,4% der Promovierenden haben bereits eine Arbeit bei einer Fachzeitschrift eingereicht.
Vor dem Hintergrund der Diskussion um eine Weiterentwicklung der Volkswirtschaftslehre wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefragt, welche Methoden sie für ihre Arbeit benutzen. Die überwiegende Mehrheit nutzt die klassischen Methoden der VWL. Am häufigsten (259 Nennungen) wurde Regressions- und Zeitreihenanalyse als Forschungsmethode genannt, gefolgt von Gleichgewichtsmodellen mit 102 Nennungen. Unter den neueren Methoden wurde die agentenbasierte Modellierung von 59 Teilnehmern am häufigsten genannt. Hingegen kamen Maschinenlernen/Data Mining und Netzwerkanalyse nur auf 37 bzw. 20 Nennungen.
Im Hinblick auf die Diskussion über den Zustand und die Zukunft der Makroökonomik bestätigt dieser Befund den Eindruck aus der in der Literatur geführten Diskussion: Auch unter den Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern ist die Bereitschaft, neue Ansätze auszuprobieren, eher gering. Die große Mehrheit setzt auf die etablierten Methoden.
Die Befragung legt nahe, dass die Wahrnehmung der Publizierbarkeit eine wichtige Rolle für die Methodenwahl spielt. Die meisten Befragten (282) glauben, dass man Ergebnisse von Regressions- und Zeitreihenanalysen in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlichen kann. Die gilt auch für die Ergebnisse ökonomischer Experimente (206 Nennungen) und für Gleichgewichtsmodelle (194 Nennungen). Dass agentenbasierte Modelle gut publizierbar sind, glauben hingegen nur 69 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Erkenntnisgewinn vs. Publizierbarkeit
Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen der Einschätzung, welchen Erkenntnisgewinn die verschiedenen Methoden liefern könnten, mit der Einschätzung der Publizierbarkeit. Hier zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen den etablierten Methoden und den neueren Ansätzen. Insbesondere bei den Gleichgewichtsmodellen gibt es eine erhebliche Relevanzlücke: Das Verhältnis derjenigen, die sich neue Einsichten versprechen (152 Nennungen), zu denjenigen, die Gleichgewichtsmodelle für gut publizierbar halten (194 Nennungen), beträgt 0,78. Bei den agentenbasierten Modellen beträgt dieses Verhältnis 1,97 (136/69) und bei Fallstudien sogar 3,77 (113/38).
Viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler glauben also, dass Methoden, die nicht zum Standardrepertoire der Volkwirtschaftslehre gehören, die Wissenschaft durch neue Erkenntnisse voranbringen könnten, dass es aber schwierig ist, solche Studien gut zu publizieren.
Da solche Erwägungen auch für die Methodenwahl der Doktorandinnen und Doktoranden relevant sind, stellt sich die Frage, ob sie auch mit einer anderen Methode als der tatsächlich verwendeten forschen wollen würden. 31% gaben an, auch eine andere Methode nutzen zu wollen. Mangelnde Kenntnisse in der betreffenden Methode ist das Haupthindernis (54,4%), weshalb die Befragten die Methode nicht verwenden.
Ca. 25% äußerten aber, die Methode nicht zu nutzen, weil sie mangelnde Aussicht auf eine gute Publikation hätte, ihr Betreuer oder ihre Betreuerin davon abraten würde oder weil die Methode derzeit nicht sehr populär in der VWL sei. Die Bedeutung der fehlenden Anerkennung einer Methode dürfte aber noch höher sein als durch die direkten Antworten angedeutet. Auch ein Teil derjenigen, die fehlende Kenntnisse als Grund angaben, dürfte diese Kenntnisse eben aufgrund der fehlenden Anerkennung der Methode nicht erworben haben. Aus diesen Ergebnissen kann man folgern, dass die starke Fokussierung der Promovenden auf kumulative Dissertationen und Veröffentlichungen bereits während der Promotion ein Hindernis für die Verbreitung neuer Methoden sein kann.
Wie kann die VWL relevanter werden?
In der Umfrage wurde auch gefragt, was in der VWL geändert werden sollte, um ihre Relevanz zu erhöhen. Etwas mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die alle Fragen beantworteten, schrieb einen Kommentar in das entsprechende Antwortfeld. Die mit Abstand am häufigsten genannte Kritik (28% der Antworten) bezog sich auf die in der VWL verwendeten und akzeptierten Methoden. Weitere 16,7% der Änderungsvorschläge bezogen sich ausdrücklich auf mehr methodischen Pluralismus und eine Öffnung hin zu anderen Wissenschaften. In 10,4% der Fälle wurde das Wissenschaftssystem kritisiert, das zu viel Wert auf hochrangige Publikationen lege und falsche Anreize setze. Schließlich äußerten 14% der Antwortenden eine umfassende Kritik, die mehrere Mängel einschließlich der zuvor genannten ansprach.
Insgesamt zeigt sich, dass viele der befragten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler einen kritischen Blick auf ihre Disziplin haben und durchaus bereit wären, mit neuen Methoden und Ansätzen zu arbeiten. Tatsächlich arbeiten sie aber weitgehend mit den herkömmlichen Methoden, weil sie fürchten, dass Arbeiten mit neuen Methoden nicht anerkannt werden und nicht gut publiziert werden könnten. Vor dem eingangs geschilderten Hintergrund, dass gerade in der Makroökonomik viele etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine Notwendigkeit sehen, die Disziplin grundlegend zu überdenken, ist die Vorsicht des Nachwuchses auch rational.
Im Gegensatz zu vielen etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat eine deutliche Mehrheit der Jüngeren eine positive Einstellung gegenüber der Wissenschaftstheorie. 75,7% stimmen der Aussage zu, dass diese ein fester Bestandteil der Doktorandenausbildung sein sollte. 45% bejahen, dass gute Wissenschaft ohne solide Kenntnis in Wissenschaftstheorie nicht möglich ist, während 25% dies verneinen.
Es scheint also so zu sein, dass sich viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler kritisch mit ihrer Wissenschaft auseinandersetzen und sich von der Wissenschaftstheorie Antworten erhoffen, was gute ökonomische Forschung ist. Leider ist das Angebot an wissenschaftstheoretischer Ausbildung in der VWL sehr gering. Mehr und bessere wissenschaftstheoretische Ausbildung würde nicht nur diese Nachfrage bedienen, sondern langfristig hoffentlich auch zu einer anspruchsvolleren Diskussion über den Zustand des Fachs führen.
Zu den Autoren:
Michael Roos ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum.
Tom Bauermann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum.
Hinweis:
Eine Übersicht aller bisher veröffentlichten Beiträge finden Sie hier.