In der deutschen ÖkonomInnen-Szene (oder zumindest in jenem vermutlich gar nicht so großen Teil, der sich gerne in diversen Onlinemedien äußert) hat die Nabelschau des eigenen Fachs Konjunktur. In der bundesweiten Debatte scheint es nur zwei Fronten zu geben: Auf der einen Seite junge, meist studentische Pluralos, die laut und provokant eine Abkehr vom Mainstream fordern – und auf der anderen Seite jene ProfessorInnen, die fest in ihren Lehrstuhlsatteln sitzen und von dort den Status quo mehr oder weniger vehement verteidigen.
Einerseits ist es sicherlich begrüßenswert, dass beide Seiten so engagiert über die Verbesserung der eigenen Disziplin streiten. Anderseits gehen mit der erneuten Intensivierung der Debatte auch Probleme einher: Weil beide Seiten relativ extreme Positionen vertreten, können diese gegenseitig leicht abgetan werden, was die Debatte nicht fruchtbarer macht. Und außerdem glaube ich, dass sich viele Lehrende und Studierende, die quasi „zwischen den Fronten“ stehen, nicht repräsentiert fühlen.
Ich selbst bin derzeit VWL-Masterstudent an der Uni Köln. Im letzten Sommersemester habe ich die ausschließlich von Studierenden organisierte Ringvorlesung „Polarschmelze, Polarisierung, Pluralismus – Ökonomische Fragestellungen unserer Zeit“ in Köln maßgeblich mitgestaltet. Ich bin allerdings ganz bewusst kein Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik.
Denn meiner Meinung nach ist das eigentliche Problem, das viele Studierende, Lehrende und an VWL Interessierte umtreibt, viel schwerwiegender und die Kritik viel größer als das Netzwerk: Es geht um die Frage nach dem Kern des Faches und des Studiums der Volkswirtschaftslehre: Was lernen und forschen wir da eigentlich? Und warum? Und was können wir damit in der Praxis anfangen?
Wir wollen nicht alle eine Hochschulkarriere machen
Auch wenn das für viele ProfessorInnen schwer einzusehen sein mag: Die meisten VWL-Studierenden streben keine Karriere in der Wissenschaft an. Sie studieren VWL, weil sie etwas lernen wollen – für sich persönlich und für ihre Jobs nach dem Studium (jene, die VWL studieren, weil sie keine Zulassung für BWL bekommen haben, mal außen vorgelassen). Sie wollen wirtschaftliche Zusammenhänge besser verstehen. Sie wollen lernen, wie man Prognosen über die Effekte von Politikmaßnahmen treffen kann. Sie wollen Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme finden.
Die Brücke jedoch zwischen dem, was gelehrt und geforscht wird, und diesen Fragen der „echten Welt“ wird meiner Erfahrung nach viel zu selten geschlagen. Die VWL in ihrer aktuellen Form (oder zumindest ihre Wahrnehmung) leidet vielmehr an zwei Problemen, die viel zu wenig beachtet werden:
1. Mangelnder Praxisbezug
Ich habe dieses Sommersemester – fast ein Jahrzehnt nach Beginn der globalen Finanzkrise – das Masterseminar „Financial Frictions and Bank Regulation“ besucht. In diesem haben wir elf komplett theoretische Journalpaper besprochen. Im Gespräch nach dem Seminar gefragt, was wir denn nun aus all diesen Modellen für die empirische Bankenregulierung lernen könnten, landete der Dozent nach einigem Hin und Her dabei, dass eine höhere Eigenkapitalquote sicher nicht verkehrt sei.
Das ist also die Erkenntnis eines ganzen Blockseminars? Ich bin ja bereit zu akzeptieren, dass ich im Studium noch nicht den praktischen Wert aller theoretischen Ergebnisse und sämtliche Zusammenhänge verstehen kann – aber in Mastervertiefungsmodulen sollte es doch zumindest möglich sein, eine Idee davon zu geben. Ich kritisiere nicht, dass ich die „Mainstream“-Forschung blöd finde, wie es Vertreter des Netzwerks Plurale Ökonomik oftmals tun – ich kritisiere, dass ich noch nicht einmal beurteilen kann, ob ich sie blöd finde.
Etablierte ProfessorInnen fordern von den VertreterInnen heterodoxer Ansätze häufig, diese müssten ihre Fruchtbarkeit beweisen. Eine berechtigte Forderung, die aber auch andersherum gilt: Für mich und viele andere müssten sich erst einmal auch viele Inhalte der etablierten Lehre und Forschung an der Praxis messen lassen. Das Entwickeln und Erforschern abgefahrener Modelle aus rein ästhetischen Gründen ist keinesfalls zu verurteilen – es gibt nur keinen Grund, dass dies den Lehrplan so derart dominieren und aus Steuermitteln finanziert werden sollte, wenn der Impact dieser Forschung nicht über den Universitätskosmos hinauskommt.
In der Abschlussdiskussion der oben erwähnten Ringvorlesung in Köln unterstrich ein VWL-Professor, dass er die Zuschreibung als ein Kompliment betrachte, sich sehr grundlegend mit bestimmten Fragen zu beschäftigen. Später gefragt, was er denn nach all diesem grundlegenden Nachdenken als die größten ungelösten Probleme unserer Zeit betrachte, zählte er den nicht ausreichenden Kampf gegen den Klimawandel, die demografische Alterung der Bevölkerung in Deutschland sowie die fehlende Einsicht, dass eine gemeinsame Währung auch mit gemeinsamer Haftung verbunden sei, auf.
Wirklich? Um diese Probleme zu sehen, braucht es also jahrelanges Forschen und Nachdenken? Die VWL zu studieren und zu erforschen ist hart und aufwendig. Wenn am Ende all die erarbeiteten mathematischen Modelle, all die gelösten Optimierungsprobleme keinen Mehrwert über die Universität hinaus haben, ist das frustrierend. Und eben diese Frustration bietet eine große Chance für Bewegungen wie das Netzwerk Plurale Ökonomik – sollte man meinen.
Doch statt darauf zu drängen, dass Studierende aus einem VWL-Studium mehr Wissen und Fähigkeiten mitnehmen können, konzentriert sich das Netzwerk auf Theorienvielfalt als sakrales Ziel. Vor knapp zwei Jahren hatten wir in unserem Kölner Lesekreis einen Dozenten der pluralen Cusanus-Hochschule zu Gast. Ausführlich beschrieb er seinen Werdegang zum Pluralismus – aber danach gefragt, welche wirtschaftlichen Zusammenhänge er durch seinen pluralen Ansatz nun besser verstehe, musste er passen. Diese Episode ist für mich symptomatisch: Die VertreterInnen des Netzwerks wollen mehr geisteswissenschaftliche Anteile in der VWL – aber mehr Praxis bringt das nicht.
2. Mangelnde (normative) Einordnung
Ein großer Verdienst des Netzwerks ist zweifelsohne, immer und immer wieder darauf hinzuweisen, dass die dominierende ökonomische Lehre und Forschung nicht wertfrei ist. Und damit treffen die Pluralos den zweiten Punkt, der viele frustriert: Es fehlt die Metaebene, die Einordnung der Inhalte, ihre Kontextualisierung. Ich muss und kann vielleicht auch nicht nach einem Studium die Inhalte von zehn Theorieschulen kennen – Theorienvielfalt ist kein Wert an sich. Ich muss aber lernen, eine Theorie als eine solche zu betrachten. Wenn ich mir dies einmal angeeignet habe, kann ich mit unbekannten Theorien viel leichter umgehen.
Genau das habe ich in meinem Bachelor der Politikwissenschaft gelernt, ohne dass ich notwendigerweise die Details des Neofunktionalismus, des Neorealismus und des Was-auch-immer-Ismus kennen musste. Relevante Fragen sind vielmehr: Wer hat diesen Ansatz wann entwickelt? Mit welchem Erkenntnisinteresse? Wie wurde er rezipiert? Warum ist er heute noch von Bedeutung? Was verändert sich, wenn einzelne Annahmen verändert werden? Warum sind unsere Nutzenfunktionen überwiegend utilitaristisch?
Die Beschreibung eines theoretischen Ansatzes als das, was er ist – eben ein theoretischer Ansatz – wäre schon mehr, als viele Lehrveranstaltungen heute bieten. Dort wird etwa einfach vom Walrasian Clearinghouse im Rahmen des ADM-Modells ausgegangen, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, Wirtschaft zu sehen. Der ehemalige Nachwuchsbeauftrage des Vereins für Socialpolitik, Rüdiger Bachmann, findet zwar, dass
„eine gute Einführung in die Mikroökonomik (…) vom Begriff gesellschaftlich erwünschter Güterverteilungen [startet] und (…) dann Wettbewerbsmärkte als ein mögliches Mittel zur Herstellung dieser erwünschten Güterverteilungen dar[stellt]“.
Allein: Das passiert nicht. Auch der aktuelle VfS-Vorsitzende Achim Wambach bezeichnet sich als „große[n] Freund davon, mehr Wirtschafts- und Ideengeschichte in das Studium zu integrieren“. Aber auch das passiert nicht.
Man kann heute ein VWL-Studium hervorragend absolvieren, ohne irgendeine Idee zu haben wer Keynes, Hayek, Marx und Smith waren oder was Monetarismus, Neoklassik und Keynesianismus bedeuten. Man muss sich auch zu keinem Zeitpunkt fragen, was es eigentlich unterbewusst mit einem macht, wenn man ständig hört, dass Menschen nach ihrem Grenzprodukt entlohnt und Zustände häufig nur danach verglichen werden, welcher den höheren Output erzielt. Eine Reflexion des eigenen Studiums und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung ist für diese Menschen, die später in verschiedensten Positionen wichtige Entscheidungen treffen werden, nicht vorgesehen.
Auf diese beiden Punkte, auf die sich offenbar alle an Ökonomie Interessierten einigen können, sollte sich somit die Diskussion über notwendige Veränderungen des Faches konzentrieren: Eine klare Ausrichtung der Lehre und Forschung darauf, was sie zum Verständnis wirtschaftlicher Prozesse beiträgt, sowie auf die Einordnung der eigenen Inhalte könnte viel Frustration und Enttäuschung mindern. Ob dies dann anhand von Theorien des sogenannten „Mainstreams“ oder anderen stattfindet, ist erst einmal zweitrangig.
Um dies zu erreichen, braucht es eine Fokussierung auf realistische Ziele und erfolgsversprechende Ideen für deren Umsetzung. Das trifft nach meiner Erfahrung jedoch auf vieles nicht zu, was aktuell die Debatte bestimmt: Dass das Netzwerk als Gruppe von Studierenden mit dem VfS als Vereinigung von ProfessorInnen auf Augenhöhe agieren will, ist kaum realistisch und wird durch das (gelegentliche) Auftreten in Fundamentalopposition nicht erleichtert. So wird die Forderung des Netzwerks nach Lehrstühlen für MarxistInnen und feministische ÖkonomInnen noch lange unerfüllt bleiben – und zwar auch deshalb, weil das Netzwerk die Debatte überwiegend bundesweit führt: Denn diese Debatte kommt bei erstaunlich vielen ÖkonomInnen vor Ort gar nicht an. Und es sind auch nicht Organisationen wie der VfS, so ein schönes Feindbild er auch liefert, die über institutionelle Veränderungen an den Universitäten entscheiden, sondern die Landesregierungen und vor allem die Fakultäten selbst.
Genauso unrealistisch ist aber die Vertröstung Beckers, auf die Offenheit und Dialogbereitschaft der ProfessorInnen vor Ort zu setzen. Zum einen ist die Bereitschaft – wie Birte Strunk richtig schreibt – oft viel weniger ausgeprägt, als Becker das schildert. Das beginnt schon in den Veranstaltungen selbst: In einem Kurs zu Finanzmarktökonomik haben wir über das Equity Premium Puzzle gesprochen, das kurz gesagt darin besteht, dass die beobachteten Risikoprämien an Finanzmärkten in einem bestimmten Modell so gar nicht zu den experimentellen Ergebnissen zu Risikoaversion passen. Ein Kommilitone wollte wissen, worin denn das Puzzle bestünde und ob damit nicht einfach das Modell als falsch widerlegt sei. Der Professor konnte die Frage zunächst gar nicht nachvollziehen, erklärte dann noch kurz, dass es eben kein besseres (oder besser zu lehrendes?) Modell gäbe und machte weiter im Stoff.
Das Ziel darf nicht sein, in Zusammenarbeit mit besonders offenen „Pluraloverstehern“ wie Johannes Becker einzelne herausragende Veranstaltungen anzubieten. Stattdessen müssen alle Lehrveranstaltungen besser werden. Manchmal jedoch wollen Lehrende keinen Dialog führen – manchmal können sie es aber auch fachlich einfach nicht.
Und damit wären wir bei den strukturellen Gründen dafür, dass Beckers Vertröstung auf dialogbereite ProfessorInnen zu simpel ist: Die Grundlagenveranstaltungen, in denen eine Einordnung so wichtig wäre, werden häufig nicht von den Koryphäen eines Faches gehalten (die befinden sich eh oft in Forschungssemestern), sondern – bei allem Respekt – von Postdocs, denen man neben dem Druck, möglichst schnell möglichst gut möglichst viel zu publizieren, eben auch noch Lehrdeputat aufgedrückt hat. Sie haben keine Zeit und keine Motivation, Annahmen zu hinterfragen und Modelle ideengeschichtlich einzuordnen.
Und auch ProfessorInnen haben keinen Anreiz, Zeit derart zu investieren. Schon die bestehenden Kurse werden oft genug geflickt, fallen kurzfristig ganz oder an einigen Terminen aus, sodass die oft im Outline angekündigten spannenderen Themen hintenrunter fallen und dann doch nur wieder das Standardprogramm gelehrt wird. Die Fakultäten setzen sich häufig auch selbst in den Modulhandbüchern enge Grenzen und verhindern in vielen Studiengängen so die Möglichkeit, auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren.
Kleine, aber wirkungsvolle Schritte
Mangelnder Praxisbezug und eine fehlende Einordnung der Inhalte: Es läuft einiges schief in der ökonomischen Zunft. Und doch sind die Vorschläge, die bisher die Debatte dominieren, überwiegend sehr optimistisch, unrealistisch oder gehen an den eigentlichen Problemen vorbei. Ist also Resignation angesagt? Keineswegs. Aus meinem eigenen Engagement in dieser Debatte habe ich beispielhaft vier wesentliche Erkenntnisse gezogen, wie sich eine Verbesserung der Lehrsituation bewerkstelligen lässt:
- Realistische, bessere Alternativen aufzeigen: Dazu gehört natürlich zum Beispiel die begrüßenswerte Kooperation zwischen dem Netzwerk und Becker in Münster. Auch im Rahmen unserer Ringvorlesung in Köln konnten wir einen lokalen Professor gewinnen, einen Vortrag zum Zusammenhang zwischen Monetarismus und Finanzkrise zu erarbeiten. Er nahm dieses Engagement zum Anlass, seiner Makro 2-Vorlesung eine kurze Einführung zur Ideengeschichte voranzustellen.
- Nachfrage und Bedarf deutlich machen: ProfessorInnen haben kaum einen Anreiz, auf Unzufriedenheit der Studierenden zu reagieren. Sehr wohl von Interesse ist aber die Zahl der Studierenden in ihren Studiengängen und Veranstaltungen. Etwa 160 Bachelorstudierende hatten sich für unsere Kölner Ringvorlesung angemeldet. Diese Abstimmung mit den Füßen verleiht den Forderungen kritischer Studierenden eine ganz andere Glaubwürdigkeit und Schlagkraft als ein paar Retweets in der eigenen Bubble.
- Diskussionen lokal führen: So frustrierend es ist, aber Änderungen müssen lokal an den einzelnen Hochschulen erarbeitet werden. Ein bundesweites Engagement kann dies flankieren, aber nicht ersetzen. So viel Verständnis ich für meine Anliegen in Gesprächen mit Bundesbildungspolitikern erhalten habe, so unmissverständlich war der Hinweis auf Artikel 5, Grundgesetz: Die Autonomie der Hochschulen wird in Deutschland nicht angetastet. Heißt: Jede einzelne Fakultät muss von Änderungen überzeugt werden.
- Orientierung an konsensuellen Kriterien: Was viele als Verbesserung der ökonomischen Lehre empfinden würden, wäre eine klare Orientierung daran, was sie für das praktische Verständnis von Wirtschaft bringt. Nicht, wie sehr sie auf das Schreiben von Artikeln in Journals vorbereitet werden und auch nicht, möglichst viele verschiedene Theorien zu berücksichtigen. Hier könnte es beispielsweise förderlich sein, die Lehrenden immer wieder gezielt nach aktuellen wirtschaftspolitischen Themen zu fragen. Es ist kein Geheimnis, dass jene ProfessorInnen, die hin und wieder die aktuelle Nachrichtenlage in ihre Vorlesungen einfügen, zu den Beliebtesten zählen.
Wenn dies berücksichtigt wird, sind kleine Schritte zum Erfolg möglich. Die Unzufriedenheit in der Ökonomie ist größer als das Netzwerk und die Kooperationsbereitschaft nicht überall so groß wie bei Herrn Becker. Die Diskussion sollte nicht aus zwei klaren Fronten bestehen, sondern der Mehrheit Rechnung tragen, die einfach bessere ökonomische Wissenschaft erleben möchte. Vielleicht ja auch schon im gerade anlaufenden Wintersemester.
Zum Autor:
Tobias Herbst studiert den Master Economics an der Uni Köln. Seine Schwerpunkte sind Statistik und Ökonometrie sowie Makroökonomie, insbesondere Finanzmärkte. Zuvor hat er Politikwissenschaften an der Uni Bamberg studiert. Er interessiert sich insbesondere für das Zusammenspiel von politischen Institutionen und Märkten und engagiert sich neben dem Studium an verschiedenen Stellen ehrenamtlich. Auf Twitter: @mr_autumn
Hinweis:
Eine ausführliche Dokumentation der im Artikel erwähnten und von Tobias Herbst mitorganisierten Ringvorlesung finden Sie hier.