Kommen jetzt Neuwahlen?
Matteo Renzis Rücktritt muss nicht zwangsläufig zu vorgezogenen Neuwahlen führen. Zunächst muss Staatspräsident Sergio Mattarella das Rücktrittsgesuch erst noch annehmen. Am Montag Abend bat Mattarella Renzi, noch solange im Amt zu bleiben, bis der Haushalt für 2017 verabschiedet ist.
Danach hat der Präsident zwei Optionen: er kann Neuwahlen ansetzen oder eine Übergangsregierung einsetzen, die noch von der Abgeordnetenkammer und vom Senat bestätigt werden müsste. Die Bildung einer solchen „Technokraten“-Regierung gilt als wahrscheinlich, da auch Renzis Partito Democratico bemüht sein dürfte, angesichts der Schlappe Neuwahlen zu verhindern oder diese zumindest noch etwas länger in Richtung des regulären Wahltermins 2018 aufzuschieben. Ein zweiter wichtiger Grund ist die noch in der Schwebe stehende Wahlrechtsreform (dazu mehr in der übernächsten Frage zum „Italexit“).
Als aussichtsreichste Kandidaten für Renzis Nachfolge gelten der bisherige Finanzminister Pier Carlo Padoan, Senatspräsident Pietro Grasso sowie Kulturminister Dario Franceschini. Nur falls die Bildung einer Übergangsregierung scheitert, wäre Mattarella gezwungen, innerhalb von 70 Tagen Neuwahlen anzusetzen.
Ist das „no“-Votum ein Sieg europafeindlicher (Rechts-)Populisten?
Eher nicht. Sicherlich wurde die Kampagne zur Ablehnung des Referendums auch von Parteien betrieben, die man durchaus im populistischen Lager ansiedeln kann. Dazu zählen etwa die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), Silvio Berlusconis Forza Italia und die Lega Nord (wobei man letztere eher als klassisch rechtsextremistisch einstufen sollte).
Das „no“-Votum wurde aber insgesamt von einem breiten Bündnis unterstützt, beispielsweise auch von einigen Gewerkschaften und Teilen von Renzis eigener Partei. Auch im bürgerlichen Lager gab es etliche Gegner. Zudem hat sich Renzi selbst einer Methode bedient, die man durchaus als populistisch bezeichnen kann: Um die Verfassungsreform durchzubekommen, hatte er sein persönliches politisches Schicksal mit dem Ausgang des Referendums verknüpft, um von seinen (damals) hohen Beliebtheitswerten zu profitieren – was sich als schwerer Fehler entpuppte.
Droht jetzt der „Italexit“?
Es mag vielleicht merkwürdig klingen, aber: der vielfach beschworene „Italexit“, der Euro-Austritt Italiens, ist durch die Ablehnung zumindest auf kurze Sicht unwahrscheinlicher geworden. Das liegt in erster Linie an der Reform des Wahlrechts, die jetzt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der bisher angedachten Form kommen wird. Das sogenannte „Italicum“ sieht vor, dass die Partei, die bei den Parlamentswahlen mehr als 40% der Stimmen erreicht, 55% der Sitze in der Abgeordnetenkammer erhält. Wenn keine Partei über die 40%-Marke kommt, gibt es eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Parteien, deren Sieger dann den Bonus erhält. Es hätte in der Abgeordnetenkammer also immer eine Partei die absolute Mehrheit gehabt – und dabei hätte es sich auf Basis der aktuellen Umfragen (siehe oben) durchaus um die eurokritische Fünf-Sterne-Bewegung handeln können.
Diese Reform wird aber nach Ansicht der allermeisten Beobachter jetzt wieder von einer Übergangsregierung aufgeweicht werden, da sie unter der Annahme entworfen wurde, dass die Verfassungsreform durchkommt. Außerdem sind gegen das Italicum Klagen beim italienischen Verfassungsgericht anhänglich, über die das Gericht demnächst entscheiden will.
Die zweite Hürde für ein Italexit-Referendum liegt in der italienischen Verfassung. Diese stellt in Artikel 75 klar, dass es kein Referendum zu einem Gesetz geben dürfe, das ein „internationales Abkommen ratifiziert“. Für eine Verfassungsänderung bedürfte es aber sowohl im Senat als auch in der Abgeordnetenkammer einer Zwei-Drittel-Mehrheit – die für die Euro-Kritiker aufgrund der voraussichtlichen Umarbeitung der Wahlrechtsreform aber in noch weitere Ferne rückt. Denkbar wäre allenfalls, dass eine mögliche eurokritische Regierung ein unverbindliches Referendum ansetzt. Aber das ist eher ein mittelfristiges Thema.
Wird Italien jetzt dringend notwendige Reformen nicht umsetzen?
In einigen Teilen der deutschen Presse gehört es fast schon zum Standardprozedere, Italien pauschal ein „langsames Reformtempo“ und „Reformunwilligkeit“ zu attestieren. Tatsächlich ist in Italien in den letzten Jahren einiges passiert. So hatte Renzi beispielsweise eine umstrittene Arbeitsmarktreform durchgesetzt, die unter anderem den Kündigungsschutz stark gelockert hat. Auch zeigt etwa die „Labour Market Reforms Database“ der EU-Kommission, dass nur wenige europäische Staaten seit der Finanzkrise bis zum Jahr 2014 mehr Arbeitsmarktreformen durchgeführt haben als Italien – einen großen Teil davon übrigens während der Amtszeit von Mario Monti, der bekanntermaßen auch an der Spitze einer Technokraten-Regierung stand.
Dieser rein quantitative Maßstab sagt natürlich noch nichts über die Qualität der Reformen aus. Er soll auch nicht bedeuten, dass Italien nicht noch weiteren Reformbedarf hätte. Und sicherlich wäre es künftigen italienischen Regierungen nach der Umsetzung der Verfassungsreform leichter gefallen, Gesetze durchzubringen (was wiederum auch nichts über deren Qualität aussagt). Außerdem dürfte die künftige Übergangsregierung – wenn sie denn zustande kommt – jetzt erst einmal darauf bedacht sein, sich zu etablieren und keine größeren Umwälzungen vorzunehmen.
Man sollte aber nicht vergessen, dass sich trefflich darüber streiten lässt, ob Italien tatsächlich dringend noch mehr und/oder ausschließlich angebotsseitige Reformen braucht. So betonen Ökonomen, die gelegentlich einen Blick auf die Nachfrageseite riskieren, mit durchaus plausiblen Argumenten, dass für Italiens Genesung eher ein kräftiger, durch höhere Staatsausgaben inszenierter Konjunkturimpuls notwendig wäre.
Bekommt Italien jetzt akute Refinanzierungsprobleme?
Unwahrscheinlich. Zwar hat der italienische Staat Verbindlichkeiten in Höhe von 133% der jährlichen Wirtschaftsleistung – nur Griechenland weist in Europa eine höhere Staatsschuldenquote auf. Dementsprechend ist es für Italien alles andere als unproblematisch, wenn das Land jetzt höhere Zinsen für seine Schulden zahlen muss. Bereits im Vorfeld des Referendums waren die Renditen für italienische Staatsanleihen deutlich angezogen: Im August lagen sie für Anleihen mit einer Restlaufzeit von 10 Jahren noch bei etwas mehr als 1%, in den letzten Wochen stiegen sie auf über 2%.
Allerdings sollte man diesen Renditeanstieg nicht überbewerten. Laut Angaben der italienischen Schuldenagentur muss Italien im kommenden Jahr Schulden im Wert von 318 Milliarden Euro refinanzieren. Das entspricht rund 14% der gesamten ausstehenden Staatsschulden. Für einen großen Teil der 2017 fällig werdenden Papiere musste der italienische Staat bisher jedoch Zinsen zahlen, die deutlich über den momentan geforderten Marktzinsen liegen. Und die erste Reaktion gibt keinen wirklichen Grund zur Annahme, dass die Märkte künftig höhere Zinsen von Italien verlangen werden: die Renditen bewegen sich ungefähr auf dem Niveau der Vorwochen. Es scheint fast so, als wenn der Ausgang des Referendums bereits in den Vorwochen von den Märkten „eingepreist“ worden wäre.
Wenn es dabei bleibt, könnte Italien die anstehenden Umschuldungen trotz des Referendums zu Konditionen vornehmen, die definitiv besser sind als in früheren Jahren. Die Zinsausgaben für den italienischen Haushalt (derzeit 3,8% des BIP) werden weiter sinken, wenn auch nicht ganz so schnell, wie man es sich noch in den Sommermonaten hatte erhoffen dürfen.
Und selbst wenn die Renditen doch noch deutlich in die Höhe schießen oder Italien sogar Probleme bekommen sollte, am Primärmarkt genug Geld aufzunehmen, um seine Schulden zu bedienen, könnte im Notfall auch noch die EZB mit einer Ausweitung bzw. Anpassung ihres QE-Programms den Schuldendienst erleichtern, indem sie mehr italienische Anleihen kauft als es der bisherige Plan vorsieht.
Unklar ist, wie die Ratingagenturen auf das „no“-Votum reagieren werden. S&P und Moody´s haben ihre Italien-Ratings kürzlich bestätigt, Fitch senkte den Ausblick auf „negativ“. DBRS signalisierte im Falle eines Scheiterns des Referendums die Möglichkeit einer Herabstufung. Ob die Agenturen nun tatsächlich Downgrades vornehmen, lässt sich noch nicht absehen. Außer bei S&P hat Italien aber bei allen anderen drei Agenturen noch einen Puffer von mindestens einer Rating-Stufe, bis es in den spekulativen Bereich fallen würde.
Verschärft sich Italiens Wirtschafts- bzw. Bankenkrise jetzt weiter?
Die jetzt einsetzende politische Unsicherheit wird sicherlich nicht das Investitionsklima in Italien beleben. Andererseits haben die Reaktionen auf das Brexit-Votum gezeigt, dass sich sowohl Realwirtschaft als auch Finanzmärkte inzwischen offenbar an solche „Schock-Events“ gewöhnt haben. Und Spanien hat auch ein knappes Jahr ohne Regierung überstanden, ohne zu kollabieren.
Das wichtigste Thema wird sein, wie sich die Bankenkrise weiterentwickelt. Die italienischen Geldhäuser haben – auch aufgrund der schwachen konjunkturellen Entwicklung – extrem viele ausfallgefährdete Kredite (non-performing loans, NPLs) in ihren Büchern. Vor allem die Bank Monte dei Paschi di Siena (MPS) stand zuletzt enorm unter Druck. Inzwischen versucht das älteste Geldhaus der Welt, sich bei privaten Investoren Kapital zu besorgen und Teile seines Kreditportfolios zu verkaufen. Es gab bereits Gerüchte, laut denen potenzielle Investoren bereits am Montag bei einem Geheimtreffen über ihre Beteiligung an MPS beraten wollten. Sollte der Sanierungsversuch scheitern, wird die Debatte um staatliche Rettungsmaßnahmen aus dem Sommer wohl wieder von vorne beginnen.
Ob die Sanierungsversuche bei MPS ausreichend sind, wird auch für andere italienische Banken richtungsweisend sein. Eine solche auf private Investoren bauende Lösung lässt sich natürlich besser umsetzen, wenn an den Finanzmärkten eine gewisse Ruhe herrscht. Der italienische Bankenindex rutsche am heutigen Montag erwartungsgemäß ins Minus, aber bei weitem nicht so deutlich, wie vielfach befürchtet worden war. Der italienische Leitindex beendete den ersten Post-Referendum-Handelstag nur mit leichten Verlusten. Dass die vor dem Referendum befürchteten Turbulenzen heute ausgeblieben sind, ist somit ein ermutigendes Zeichen, aber bei weitem kein Grund zur Entwarnung.
Was bedeutet Renzis Rücktritt für das europäische Machtgefüge?
Matteo Renzi hat sich in den letzten Jahren von allen europäischen Regierungschefs am vehementesten für eine Abkehr vom Sparkurs eingesetzt. Es ist also naheliegend zu glauben, dass durch seinen Rücktritt diejenigen Staaten gestärkt werden, die vor allem auf eine Einhaltung der europäischen Haushaltsregeln und angebotsseitige Reformen pochen (mehr zu diesen gegenläufigen Interessen hier).
Denkbar ist allerdings auch, dass eine weniger spektakulär agierende Technokraten-Regierung sogar größere Chancen hat, zumindest kurzfristig etwas mehr fiskalpolitische Haushaltsspielräume aus Brüssel (und Berlin) zu bekommen. Die Spekulation hinter dieser These: Renzi hat in der Vergangenheit sehr aggressiv gegen die deutsch-europäische Spardoktrin agiert – was es den Vertretern dieser Doktrin nicht unbedingt leichter gemacht hat, Renzis Forderungen entgegen zu kommen. Denn dann hätte jedes Zugeständnis als erfolgreicher „Erpressungsversuch“ gewertet werden können, egal wie inhaltlich gerechtfertigt er auch sein mag. Dass insbesondere die deutsche Bundesregierung sich darauf nicht einlässt, sollte spätestens die fortwährende und ökonomisch sinnfreie Demütigung der griechischen Syriza-Regierung überdeutlich gemacht haben.
Wenn also jetzt eine italienische Technokraten-Regierung ohne größeres Aufsehen zu erregen eine lockere Fiskalpolitik verlangt, könnte sie damit durchaus Erfolg haben. Schließlich könnten die anderen europäischen Regierungen inklusive der Bundesregierung aus Angst vor einem Erstarken der euro(pa)kritischen Kräfte jetzt eher geneigt sein, Italien eine lockerere Fiskalpolitik zuzugestehen, um die italienische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und so den auf der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage fußenden Bewegungen etwas das Wasser abzugraben. Denkbar wäre es, wenn auch (leider) nicht sehr wahrscheinlich.