Aufatmen in Down Under: Wie das nationale Statistikamt heute mitteilte, ist Australiens Wirtschaftsleistung im Schlussquartal 2016 gegenüber dem Vorquartal um 1,1% gewachsen. Damit wurde das Abrutschen in die Rezession verhindert, nachdem es im 3. Quartal noch einen BIP-Rückgang von 0,5% gegeben. Australiens bemerkenswerte Rekordserie geht somit weiter – das Land hat inzwischen seit 102 Quartalen, also seit über 25 Jahren, keine Rezession erlebt.
Australien ist eines von nur zwei Ländern, das es in diesen 100-Quartale-Klub geschafft hat. Das zweite Land ist Japan, worüber man allerdings auch streiten kann (dazu später mehr). Die folgende Grafik zeigt, in welchen OECD-Ländern es in den letzten knapp 60 Jahren die längste Zeit ohne Rezession gab. Die lila Balken markieren Phasen, die noch nicht abgeschlossen sind.
Die australische Serie wirkt umso imposanter wenn man berücksichtigt, dass es derzeit außer der Slowakei und Südkorea kein anderes OECD-Land mit einer noch laufenden Serie von mehr als einem Jahrzehnt ohne Rezession gibt. Die folgende Abbildung zeigt, wie lang die aktuellen Serien für alle OECD-Länder sind. Die lila Balken markieren Wackelkandidaten, deren Wachstum im letzten gemeldeten Quartal negativ war und deren Serie also in Gefahr ist.
Die „Weltrangliste der Rezessionsvermeider“ macht unter anderem deutlich, dass lange Phasen ungebrochenen Wachstums keine zwingende Voraussetzung für eine hohe Lebensqualität der Bevölkerung sein müssen. Dänemark beispielsweise hatte nur eine Phase von knapp zehn Jahren ohne Rezession – dennoch landet es in Ranglisten wie etwa dem World Happiness Report ganz vorne. Deutschland (34 Quartale), die Schweiz (30) und Island (28) knacken mit ihren längsten Serien ebenfalls nicht die 10-Jahre-Marke. Und gut ein Drittel aller Top 30-Serien endeten in der Großen Rezession von 2008/09.
Auch kann man darüber streiten, ob der Begriff „Rezessionsvermeider“ nicht etwas irreführend ist, weil er zumindest suggeriert, dass es – für Regierungen – möglich wäre, eine Schrumpfung der Wirtschaftsleistung dauerhaft zu vermeiden (mehr dazu in den Kommentaren am Ende dieses Artikels).
Was ist eigentlich eine Rezession?
Zudem muss man erwähnen, dass diese Weltrangliste der längsten Wachstumsphasen bzw. Phasen ohne Rezession alles andere als alternativlos ist. Zunächst reichen die hier verwendeten OECD-Datenreihen nur bis zum 2. Quartal 1960 zurück. Vor allem aber ist da das Problem, dass es keine allgemein gültige Definition einer Rezession gibt. Grundlage der obigen Berechnung ist die Definition des deutschen Sachverständigenrates aus dem Jahresgutachten 2008/09 für eine sogenannte „technische Rezession“. Sie lautet:
„Eine technische Rezession liegt dann vor, wenn das saisonbereinigte Bruttoinlandsprodukt in mindestens zwei aufeinander folgenden Quartalen gegenüber dem Vorquartal sinkt.“
Das ist so ziemlich die einfachste verfügbare Definition, und entsprechend defizitär. Denn, wie auch der Sachverständigenrat weiter ausführt, greift sie „häufig zu kurz, da sie einerseits den Rückgang nur sehr grob erfasst, andererseits kaum Informationen über die Stärke des Schrumpfens der Wirtschaft angibt“.
Ein gutes Beispiel dafür sind die USA: Das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 verursachte eine Krise, in der die Zahl der Arbeitslosen um mehr als zwei Millionen Menschen anstieg. Allerdings befanden sich die USA gemäß der oben genannten Definition nicht in einer technischen Rezession, da das Wachstum nicht in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen nachgab.
Die USA selbst bezeichnen diese Phase aber sehr wohl als Rezession – denn anders als in Deutschland und vielen anderen Ländern existiert in den Vereinigten Staaten ein anerkannter Konsens darüber, wann es eine Rezession gegeben hat. Die Hoheit über diese Entscheidung hat das National Bureau of Economic Research (NBER). Laut NBER sind Rezessionen durch einen „signifikanten Rückgang der ökonomischen Aktivität“ gekennzeichnet, der sich quer durch die Wirtschaft zieht und von wenigen Monate über mehr als ein Jahr anhalten kann. Was genau dieser „Rückgang der ökonomischen Aktivität“ ist, definiert das NBER aber auch nicht, sondern nennt lediglich die Entwicklung des realen BIP, der Realeinkommen oder des Arbeitsmarktes als Orientierung.
Und was ist mit Holland?
Aber selbst wenn man die vom Sachverständigenrat skizzierte Definition einer „technischen Rezession“ wählt, lässt sich immer noch keine wirklich unanfechtbare Weltrangliste der Rezessionsvermeider erstellen. In früheren Berichten über die australische Rekordserie kann man erfahren, dass nur die Niederlande eine längere Phase ohne Rezession gehabt hätten als Australien. So behaupten z. B. der Business Insider oder die Neue Zürcher Zeitung, dass Holland zwischen 1982 (BI) bzw. 1981 (NZZ) und 2008 keine Rezession erlebt hätte, sprich die Wirtschaftsleistung nicht in zwei Quartalen hintereinander geschrumpft sei.
Im 2. Quartal 2003 war die niederländische Wirtschaftsleistung um 0,3% gegenüber dem Vorquartal gesunken. Für das folgende 3. Quartal 2003 wird das Wachstum in den OECD-Statistiken und auch bei der niederländischen Statistikbehörde CBS auf den ersten Blick mit 0,0% ausgegeben – was kein Rückgang ist, und womit eben auch nicht die Definition für eine technische Rezession erfüllt wäre und die Niederlande ihren Über-100-Quartale-Lauf hätten.
Allerdings haben NZZ und Business Insider ihre Rechnung ohne die zweite Nach-Komma-Stelle gemacht. Denn ein genauerer Blick in die Statistik zeigt, dass die niederländische Wirtschaft im 3. Quartal sehr wohl geschrumpft ist – und zwar laut OECD um präzise -0,014045%, womit die Voraussetzungen für eine technische Rezession erfüllt ist. Somit reduziert sich die vermeintliche Rekord-Serie der Niederlande auf 86 Quartale, was aber immerhin noch für Platz 4 reicht.
Mit einer solchen Rangliste für die längste Wachstumsphase ist es also ein bisschen wie beim Boxen, wo auch jeder seinen eigenen Verband aufmachen und für die eigene Weltrangliste jede Menge individuelle Kriterien wählen kann.
Unterschiedliche Gewichtsklassen und Diskriminierung
Auch sind die einzelnen Serien unter teils höchst unterschiedlichen Rahmenbedingungen entstanden. So sammelte Japan seine 132 Quartale überwiegend in einer Zeit, als das Land noch ziemlich weit vom Status einer Industrienation entfernt war, es hat also quasi in einer anderen Gewichtsklasse gekämpft. Aus diesem Grund besteht die der „Welt“-rangliste zugrundliegende Welt auch nur aus den 35 Ländern, die momentan Mitglied der OECD sind.
Unsere Weltrangliste diskriminiert also in bester First-World-Tradition über vier Fünftel der gesamten Menschheit und das Lebenswerk einiger unserer eigenen Vorfahren: Denn unsere Zeitrechnung beginnt für rund ein Drittel der berücksichtigten Länder (z. B. die ehemaligen Ostblock-Staaten) erst in den 90er Jahren, da für frühere Jahre keine OECD-Daten vorhanden sind.