Der Bestand der Europäischen Union – und somit der Friede in Europa – sind ernsthaft gefährdet. Fast überall gibt es stärker werdende Bewegungen, die sich für eine nationalistische Rückbesinnung einsetzen und mehr oder weniger aggressiv das EU-Projekt bekämpfen.
Die Hauptursachen für diese Situation sind die Fehlkonstruktion des Eurosystems sowie eine falsche Austeritätspolitik, die die bestehenden Probleme nicht nur nicht gelöst, sondern die Lage vielerorts noch schlimmer gemacht hat. Insbesondere in Deutschland setzt sich diese Erkenntnis – wenn überhaupt – nur sehr langsam durch, da die Krise noch überwiegend jenseits unserer Grenzen stattfindet. Tatsächlich aber ist Deutschland mit seinen merkantilistischen und austeritätspolitischen Vorstellungen inzwischen international weitgehend isoliert. Und auch hierzulande bekommen wir immer stärker zu spüren – beispielsweise durch den Aufstieg der AfD – dass die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts einen fruchtbaren Boden für populistische Bewegungen geschaffen haben.
Was wir jetzt dringend benötigen sind Instrumente, mit denen wir möglichst viele Krisenursachen gleichzeitig bekämpfen können, ohne zu sehr in den Marktmechanismus einzugreifen. Unproduktive und asymmetrische Aufschuldungsprozesse haben insbesondere in Euroland zu untragbaren Schuldverhältnissen geführt, aus denen wir nicht mehr wie in früheren Zeiten herauswachsen können, da wir uns in der Phase der säkularen Stagnation befinden, die durch den demografischen Faktor auch noch verstärkt wird.
Die Zeit wird knapp
Lösungsvorschläge für diese Probleme gibt es viele. Allerdings setzen sie größtenteils auf einen schrittweisen Reformprozess, der über mehrere Jahre andauern würde (in diesem Zusammenhang ist beispielsweise der Repair and Prepare-Bericht zu nennen, der vor einigen Wochen von führenden Köpfen der internationalen Politik vorgestellt wurde). Ich bin der Meinung, dass diese Vorschläge vielleicht in die richtige Richtung gehen, aber zu viel Zeit erfordern – Zeit, die wir nach dem derzeitigen Stand der Dinge wohl nicht haben, um die europäische Wirtschaft wieder in die Spur zu bringen und den politischen Spaltungsprozess aufzuhalten.
Im Mittelpunkt der von mir vorgeschlagenen schnellen Krisenintervention steht daher eine Idee, die ursprünglich von Nobelpreisträger Milton Friedman im Jahr 1969 entwickelt wurde und die aktuell – oftmals etwas undifferenziert – unter dem Stichwort Helikoptergeld diskutiert wird.
Tatsächlich geht es hierbei aber nicht um einen unkontrollierten Abwurf von Geld aus dem Hubschrauber, sondern um eine kontrollierte, symmetrische und solidarische Einführung eines niedrigen zentralbankfinanzierten Bürgergelds für jeden Bürger der Eurozone. Diese „Citoyage“ (Seigniorage für den Citoyen) könnte etwa 100 Euro pro Monat betragen. Aufgrund der angespannten Situation sollte es in den ersten 12 Monaten zusätzliche Sonderzahlungen in Höhe von 200 Euro geben. Für einen 4-Personen-Haushalt wären dies zusätzliche 400 Euro Kaufkraft pro Monat bzw. in den ersten 12 Monaten 1.200 Euro monatlich.
Im Folgenden will ich darstellen, welche 14 Vorteile ein solches Bürgergeld meiner Meinung nach hätte.
Ein Bürgergeld würde für eine symmetrische Entschuldung der privaten Haushalte sorgen. Immer noch liegt die Verschuldung der Haushalte in der Eurozone deutlich über dem Vorkrisenniveau.
Entschuldete Haushalte können wieder stärker am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und stabilisieren durch ihre zusätzliche Kaufkraft die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und wirken somit positiv auf Beschäftigung und Staatshaushalt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der ING Diba zeigt, dass im europäischen Durchschnitt die Befragten mehr als ein Drittel ihres Bürgergeldes für Konsum oder Schuldenabbau ausgeben würden. Mehr als 10% des Geldes würden investiert werden. Eine ähnliche Umfrage des Vermögensverwalters Astellon Capital kommt sogar zu dem Ergebnis, dass die Bürger in verschiedenen Euroländern rund 60% des Geldes für Konsum oder Schuldenabbau ausgeben würden. Eine noch stärkere Wirkung kann dadurch erzielt werden, wenn zeitgleich eine moderate Erhöhung der Grenzsteuersätze erfolgt, die diese Einnahme abschöpft und sodann für investive Staatsausgaben verwendet.
Die Einnahme-Seite der Staatshaushalte würde deshalb gestärkt werden, weil die Citoyage als weitere Einkunftsart der Einkommenssteuer unterliegt, geringere Abschreibungen im Finanzsektor zu höheren Gewinnsteuern führen und letztlich zusätzliche Kaufkraft höhere Umsatzsteuereinnahmen bewirken.
Diese höheren Steuereinnahmen schaffen den notwendigen finanziellen Spielraum für die dringend benötigten Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastruktur, die zurzeit aufgrund der Schuldenbremse sowie der Politik der Schwarzen Null unterbleiben.
Das Bankensystem würde durch die weitgehende Verhinderung von Kreditabschreibungen stabilisiert werden. Es handelt sich somit um eine indirekte Rekapitalisierung der Banken, die zugleich deren Eigenkapitalbasis stärkt und somit das Finanzsystem wieder robuster macht.
Diese Form der dezentralen Liquiditätszuführung kommt insbesondere den strukturschwachen Regionen zugute und mindert somit den Druck der Landflucht, was wiederum positiv auf die Stabilisierung der Immobilienpreise in den Regionen sowie den Ballungszentren wirkt.
Dieser dezentrale Ansatz verhindert eine zentralistische europäische Planungsbürokratie und delegiert die Verantwortung für die Mittelverwendung auf die unteren Ebenen. Er wird somit der föderalen Struktur in Europa gerecht.
Eine direkte Bürgerfinanzierung verstößt nicht gegen die bestehende Rechtsordnung, da gemäß Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union lediglich die unmittelbare Staatsfinanzierung verboten ist, nicht aber die unmittelbare Bürgerfinanzierung.
Der Cantillon-Effekt (erhöhter Nutzen aus der Erstverwendung von Geld) verteilt sich gleichmäßig auf alle Bürger von Euroland und nicht nur auf diejenigen, die die beste Lobbyarbeit betreiben. Denn anders als es die gängigen Theorien zum Marktgleichgewicht oder auch die Trickle-down-Theorie (allgemeiner Wohlstand der Reichen sickert nach unten zu den Armen durch) suggerieren, sieht die Realität seit Menschengedenken doch ganz anderes aus. Vielmehr gilt der aus der Bibel bekannte Matthäus-Effekt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ Die Folge ist eine zunehmende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen auf nationaler und insbesondere innereuropäischer Ebene. In den letzten 30 Jahren haben wir zu viel getan, um diesen Effekt auch noch zu verstärken (Stichwort: Agenda 2010, Senkung von Unternehmens- und Grenzsteuersätzen).
Die zusätzliche Kaufkraft wirkt den deflationären und disinflationären Tendenzen entgegen und ermöglicht somit der EZB, ihrem Ziel der Preisniveaustabilität (unter aber nahe 2 %) wieder näher zu kommen.
Eine intendierte höhere Inflationsrate ermöglicht die dauerhafte Erwirtschaftung einer positiven monetären Rendite (und nur darum geht es im Kapitalismus), ohne dass es zu einer realen höheren Wirtschaftsleistung kommen muss. Monetäres Wachstum ist unendlich möglich, reales Wachstum hingegen nicht. Damit kann die Citoyage einen existentiellen Beitrag zur ökologischen Stabilisierung des Planeten leisten und verhindert zugleich den Zusammenbruch der Lebensversicherungsgesellschaften.
An der Nullzinsgrenze (Zero Lower Bound/ZLB) hat die EZB keine Möglichkeit mehr, über eine weitere Zinssenkung den geldpolitischen Transmissionsmechanismus zur wirtschaftlichen Stabilisierung zu aktivieren. Von daher gibt es Überlegungen zu einem Bargeldverbot, da auf diese Weise das Zinsniveau deutlich in den negativen Bereich gedrückt werden kann. Abgesehen davon, dass ein solches Verbot keinesfalls vertrauensfördernd wäre (Geld ist Vertrauen), lässt sich das gleiche Ziel viel einfacher mit einem zentralbankfinanzierten Bürgergeld erreichen und wäre kein dirigistischer Eingriff in die Zahlungsgewohnheiten sowie die informationelle Selbstbestimmung.
Die Regelmäßigkeit der monatlichen Zahlung schafft Kontinuität und Planungssicherheit auf allen Ebenen und erübrigt politische ad hoc-Entscheidungen, die oftmals unter hohem Druck getroffen werden und somit nicht nur zu spät kommen, sondern dann auch häufig prozyklisch wirken.
Eine einheitliche monatliche Zahlungsleistung der EZB sendet ein positives Signal an die Bürger von Euroland und kann zu einem neuen verbindenden Element für ein einheitliches Europa in Frieden und Freiheit werden, bei dem Geld – frei nach Aristoteles – wieder ein Mittel zum Zweck wird und nicht der Zweck an sich ist. Die oben zitierte ING Diba-Studie hat übrigens auch gezeigt, dass sich insbesondere junge Menschen deutlich für das Bürgergeld aussprechen. Insgesamt wünschen sich 54% aller Befragten diese Maßnahme, 31% sind unentschieden oder haben dazu keine Meinung – und nur 14% halten es für eine schlechte Idee. Um die demokratische Legitimation des Bürgergelds zu erhöhen, könnte zudem eine Volksabstimmung darüber abgehalten werden.
Fazit
Natürlich wäre ein zentralbankfinanziertes Bürgergeld keine eierlegende Wollmilchsau und ersetzt keinesfalls eine kluge Wirtschafts-, Fiskal- und Geldpolitik. Es ist zudem nur in gesättigten und reifen Volkswirtschaften an der Nullzinsgrenze mit disinflationären Tendenzen das geeignete Mittel der Wahl. Keinesfalls können diese positiven Effekte in Schwellenländern erwartet werden.
Außerdem kann ein zentralbankfinanziertes Bürgergeld nicht die grundsätzlichen Konstruktionsfehler des Euro und die strukturellen Probleme in den einzelnen Ländern korrigieren – aber die Citoyage ist relativ einfach und schnell umzusetzen und schafft überhaupt erst die nötige wirtschaftliche und politische Entlastung, die für die benötigten Reformen gebraucht wird. Hierzu zählen insbesondere höhere Grenz- und Erbschaftsteuersätze, eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters, eine einheitliche Finanztransaktionssteuer sowie eine CO2-Steuer. Ohne diese zentrale Maßnahme wird Europa auch bei bestem politischen Willen der Eliten keinen Bestand haben. Noch ist es nicht zu spät zu handeln, aber die Zeit rennt uns davon. Handeln wir jetzt!
Zum Autor:
Michael Stöcker ist Diplom-Handelslehrer und hat über 10 Jahre das Thema Europäische und internationale Wirtschaftsbeziehungen mit dem Schwerpunkt Geld und Geldpolitik an der Europäischen Wirtschafts- und Sprachenakademie unterrichtet. Außerdem bloggt er auf zinsfehler.com.