Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren sendete der Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers Schockwellen um den gesamten Globus – die auch die Wirtschaftswissenschaft erfassten. Von nun an wurde auch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert, wie es es dazu kommen konnte, dass selbst die renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler*innen die verheerenden Dynamiken des Finanzsektors nicht rechtzeitig erkannt oder sogar ihren Anteil an der Entstehung der Krise hatten.
Forschung
Unter diesem Eindruck hat sich die Ökonomik durchaus weiterentwickelt. Die Zeiten, in denen Ökonom*innen wie Robert Lucas, damals Präsident der American Economic Association, selbstbewusst verkündeten, das Problem makroökonomischer Krisen sei praktisch gesehen für die nächsten Jahrzehnte gelöst, sind einem kritischeren Selbstverständnis gewichen. Ansätze, die vorher ein Nischendasein fristeten, wie etwa die Verhaltensökonomik, die Risikoforschung oder die Komplexitätsökonomik, haben in den Wirtschaftswissenschaften vermehrt Beachtung gefunden. Diesen Theorien gemein ist, dass sie Annahmen wie perfekte Rationalität, akkurate Risikobewertung und eine fundamentale Gleichgewichtstendenz auf Märkten bis zu einem gewissen Grad relativieren. Offensichtlich nicht haltbare Annahmen über die Realität wurden damit angepasst.
Diese Entwicklungen sind aber nicht Ausdruck eines grundlegenden Paradigmenwandels, sondern periphere Forschungszweige, die nur zu einem Teil in die fundamentalen Modelle integriert werden. Eine tiefgehende Reflexion der wissenschaftlichen Grundausrichtung hat wenn überhaupt dann nur sehr begrenzt stattgefunden. Präferenzbasierte Nutzenoptimierung aus einer Perspektive des methodologischen Individualismus in quantitativ abstrakten Modellen bleiben weiterhin die einzig anerkannte Herangehensweise ökonomischer Theorie.
Eine Öffnung der Volkswirtschaftslehre gegenüber Methoden und Theorien, die nicht in diesen Rahmen passen, hat es kaum gegeben. Das enorme Potenzial, das eine größere methodologische Vielfalt – durch qualitative Analysen ebenso wie durch komplexere mathematische Modelle, die nicht auf finite Lösbarkeit angewiesen sind – bietet, wird nicht ausgeschöpft. Auch fruchtbare Erkenntnisse, die sich durch den Dialog mit anderen Disziplinen ergeben könnten, werden – mit Ausnahme der Psychologie – meist außen vor gelassen, weil sie nicht in das gängige Paradigma der Ökonomik passen. Angesichts der bisher eher oberflächlichen Veränderungen der Ökonomik ist daher zu befürchten, dass auch die aktuelle VWL aufgrund ihrer Einseitigkeit kein zufriedenstellendes Instrumentarium für die Vorbeugung weiterer Finanzkrisen bereitstellt.
Lehre
Doch selbst die positiven Entwicklungen in der Forschung, die Themen wie begrenzte Rationalität oder Herdenverhalten vermehrt ins Blickfeld nehmen, spielen in der Lehre nach wie vor nur eine Nebenrolle. In fortgeschrittenen Master- und PhD-Seminaren werden derartige Ansätze durchaus behandelt, in der ökonomische Grundausbildung sind sie jedoch kaum vertreten.
Die internationalen Standardlehrbücher wie „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ von Greogory Mankiw und Mark Taylor wurden nach 2008 zwar um Abschnitte zur Finanzkrise ergänzt. Diese beschränken sich in den allermeisten Fällen aber auf rein deskriptive Schilderungen und werden nicht in die fundamentalen Modelle integriert. So bleiben die Autoren beispielsweise davon überzeugt, dass man bei möglichen Reformen „jedoch sehr vorsichtig und wohlüberlegt vorgehen [sollte]. Es könnten ja auch positive Motivationen und erwünschte Resultate zerstört werden. Vielleicht genügen die vorhandenen Regeln ja tatsächlich, sofern alle Beteiligten sich danach richten […].“
Aufbauend auf solchen Lehrbüchern werden viele zentrale Fragen des Finanz- und Bankensystems fahrlässig vereinfacht und zum Teil sogar im Widerspruch zu den realen Gegebenheiten erklärt. Dies trifft etwa auf den Fall der Theorie des „highly powered central bank money“ (Geldschöpfungsmultiplikator) zu, die von der Bank of England als realitätsfern bezeichnet wurde.
Die Rolle des Geldes beispielsweise bleibt systematisch unterbeleuchtet: Zumeist wird es als neutrales Tauschmittel betrachtet, ohne theoretischen Raum für seine kaum zu kontrollierenden Eigendynamiken und Machtasymmetrien zu lassen. In einer solchen Betrachtung wird der Finanzmarkt auf sein theoretisches Idealbild eines reinen Dienstleisters reduziert, wodurch Spekulationsblasen, Crashs und darauffolgende Krisen kaum adäquat verstanden werden können.
Tatsächlich basiert die Darstellung des Finanzsystems in der Lehre immer noch grundlegend auf einer verkürzten Version der Effizienzmarkthypothese. Trotz der historischen Evidenz immer wiederkehrender Finanzmarktkrisen, die schon in der 1970er Jahren von Hyman Minsky umfassend systematisiert wurde, werden weiterhin Modelle gelehrt, die auf der fundamentalen Annahme einer vollständig rationalen Einpreisung aller verfügbaren Informationen basieren. Zum Verständnis von ständig wechselnden Strategien, gegenseitig abhängigen Erwartungen oder adaptiven Märkten wird Wirtschaftsstudierenden kein funktionierendes Instrumentarium dafür an die Hand gegeben.
Implikationen für die wirtschaftspolitische Praxis
Wie schon Donald MacKenzie nachweisen konnte, hat ökonomische Theorie eine unmittelbare und mittelbare Auswirkung auf ökonomische Praxis: Wirtschaftliche Akteur*innen als soziale Wesen bleiben nicht nur passive Objekte einer Theorie, sondern richten ihr Handeln regelmäßig auch an neuen theoretischen Erkenntnissen aus. Weil Ökonom*innen einerseits oft Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft innehaben, andererseits aber auch für die wirtschaftliche Ausbildung künftiger Eliten hauptverantwortlich sind, entfaltet die Volkswirtschaftslehre zwangsläufig einen mittel- und langfristigen Einfluss auf tatsächliches ökonomisches Handeln.
Im Falle des „neoliberal turn“ wirkte sich so die eindimensionale Betrachtung von Menschen als rationale Akteure auf effizienten Märkten (Effizienzmarkthypothese) aus der Wirtschaftstheorie auch auf die wirtschaftspolitische Debatte aus. Zahlreiche der bedeutendsten Ökonom*innen der Welt, wie zum Beispiel Milton Friedman, Robert Lucas und Adam Greenspan, sprachen sich ab den 1980er Jahren dafür aus, wirtschaftliches Geschehen weitgehend den Selbstregulierungskräften des Marktes zu überlassen. Diese Überzeugung lieferte die Blaupause für die Lobbyanstrengungen von Finanzakteur*innen weltweit, die eine immer umfassendere Deregulierung, insbesondere des Finanzmarktes, durchsetzen konnten. Dies ermöglichte den Handel mit immer komplexeren Finanzprodukten gepaart mit exzessiver Kreditvergabe, was sich schlussendlich als die explosive Mischung für den Crash der Subprime-Blase erwies, die in der Folge die Weltwirtschaft ins Chaos stürzte.
Plurale Ökonomik
Eine solche Entwicklung hätte durchaus verhindert werden können, wenn die Volkswirtschaftslehre auf eine breite Auswahl an Theorien und Analysemethoden zurückgegriffen hätte. Die monoparadigmatische Fokussierung der Ökonomik auf Modelle rationaler Individuen auf frei funktionierenden Märkten führte in der Konsequenz zu einer immer weiteren Deregulierung der Finanzmärkte. Um sich nicht erneut in eine solche Sackgasse zu begeben, brauchen wir eine Vielfalt an theoretischen Herangehensweisen und empirischen Untersuchungen.
Eine plurale Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre schafft den Raum für eine derartige Vielfalt. So bietet etwa die Komplexitätsökonomik für die Analyse von Herdenverhalten und Interdependenzen eine deutlich bessere Modellierung als finite Gleichgewichtsmodelle mit einem repräsentativen Agenten. Die Feministische Ökonomik hingegen wirft das Schlaglicht auf die stereotypisch männlichen Verhaltensweisen an den Finanzmärkten, wie übermäßige Risikobereitschaft, Konkurrenzdenken und Eigennutz. Der Postkeynesianismus andererseits beschäftigt sich mit der adäquaten Integration des Finanzmarkts in die ökonomische Theorie: Die Rolle fundamentaler Unsicherheit, öffentliche und private Schulden sowie Friktionen auf dem Finanzmarkt sind Kernelemente seiner systemischen Perspektive.
Theorieschulen wie diese können zu einem umfassenderen theoretischen Verständnis von Wirtschaft beitragen. Durch Theorien-, Methodenvielfalt und Interdisziplinarität und die daraus resultierenden gehaltvolleren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen kann die Wahrscheinlichkeit kollektiver Irrwege reduziert werden. Eine pluralistische Herangehensweise kann sicherstellen, dass die Wirtschaftswissenschaft ihr gesamtes Potenzial ausschöpft, um eine weitere weltweite Finanzkrise zu antizipieren und zu bewältigen. Sie ermöglicht ein breiteres und umfassenderes Verständnis wirtschaftlicher Prozesse, ein Verständnis, welches der Realität näherkommt.
Zu den AutorInnen:
Joscha Krug absolvierte an der Universität Tübingen einen Doppelbachelor in International Economics und Soziologie und studiert derzeit im Master Economics an der London School of Economics (LSE). Seine Schwerpunkte liegen in der empirischen Sozialforschung an der Schnittstelle zwischen Soziologie und Ökonomik.
Julia Schmid studiert im Master International Business and Economics an der Universität Hohenheim. Ihre Schwerpunkte sind Ungleichheit und Finanzwissenschaft. Neben ihrer Tätigkeit beim Institut für Ungleichheit und wirtschaftspolitische Analysen (INEPA) engagiert sie sich ehrenamtlich unter anderem als Vorstandsmitglied beim Netzwerk Plurale Ökonomik.
Henri Schneider studiert seit 2015 Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften im Bachelor an der Leuphana Universität Lüneburg. Er interessiert sich für Makroökonomie, insbesondere für Finanzmärkte, Krisen und Institutionen, und ist Mitbegründer der pluralen Initiative MÖVE in Lüneburg.
Hinweis:
Weitere Beiträge zur Pluralismus-Debatte in der Volkswirtschaftslehre finden Sie hier.