Einwanderungspolitik

Was für die These einer zunehmenden Migration von Afrika nach Europa spricht

Einige renommierte Wissenschaftler bezweifeln, dass die Migration aus Subsahara-Afrika nach Europa künftig weiter zunehmen wird. Allerdings lässt sich anhand von fünf Argumenten zeigen, dass der ökonomische Migrationsdruck und die daraus resultierende Migrationsneigung südlich der Sahara nicht unterschätzt werden sollte. Ein Beitrag von Theo Rauch.

Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos: Wie lässt sich eine gleichermaßen humanistische und realistische Einwanderungspolitik erreichen? Foto: Pixabay

Werden sich immer mehr Afrikaner auf den Weg nach Europa machen, sobald die EU sich im Sinne einer liberalen, humanitären Einwanderungspolitik gegenüber den Menschen auf unserem Nachbarkontinent öffnet? Viele Bewohner Europas befürchten das. Einige Wissenschaftler, unter ihnen renommierte Afrikakenner und Migrationsfachleute bezweifeln das. Unter anderem verweisen etwa Robert Kappel oder Jochen Oltmer auf die vergleichsweise bescheidenen Zahlen der in den vergangenen Jahren an Europas Küsten angekommenen Afrikaner (weniger als 10% der Zuwanderer in die EU kamen 2015 aus Afrika südlich der Sahara), auf deren Präferenz zugunsten heimatnaher afrikanischer Zielregionen und auf Anzeichen für eine bessere wirtschaftliche Zukunft Afrikas. Handelt es sich bei diesen Entwarnungssignalen um mehr als zweckoptimistische Beruhigungspillen gegen rechte Panikmache?

Zunächst einmal müssen wir uns klarmachen: Es geht hier um Prognosen, d.h. Voraussagen über zukünftiges menschliches Verhalten unter nicht hinreichend bekannten Bedingungen. Dabei handelt es sich um ein für Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften unsicheres Terrain. Die verfügbaren Fakten taugen als Indizien – nicht mehr und nicht weniger. Vorsicht ist also geboten,  Zweifel sind angebracht.

Dieser Beitrag will zeigen, welche Fakten, sprich Indizien, dafürsprechen, dass in Zukunft mehr Menschen aus Afrika ihre Chance in Europa suchen werden, sofern ihnen das nicht durch eine restriktive Einwanderungspolitik seitens der EU verweigert wird. Der Fokus liegt dabei auf Arbeitsmigration, wenngleich diese nicht immer eindeutig von Flucht im engeren Sinn, also politisch oder kriegsbedingter Migration zu unterscheiden ist.

Es gibt fünf Hauptargumente für die Hypothese, dass Afrikaner weiterhin und zunehmend ihr Glück in Europa suchen werden:

1

Migrationskosten: Der Verweis auf die bisher niedrigen Zahlen afrikanischer Migranten in Europa ist kein überzeugender Beleg für eine geringe Migrationsneigung oder dafür, dass Europa für Afrikaner kein attraktives Migrationsziel sei. Angesichts der massiven Barrieren der „Festung Europa“ sind derzeit die Migrationskosten – nicht nur monetär, sondern auch in Form von Zeitaufwand, Kraftanstrengung und Risiken – extrem hoch. Sie beziffern sich bei Wahl des informellen Weges über das Mittelmeer auf mehrere Tausend Euro pro Person, auf monatelange, zum Teil mehrjährige Reise- und Wartezeiten, auf ein Todesfallrisiko von über 5% und ein sehr hohes Risiko des Misserfolgs.

Eine Legalisierung der Einwanderung würde allein die monetären Kosten auf einige hundert Euro, den Zeitaufwand auf wenige Tage, das Todesfallrisiko auf nahe Null senken. Bliebe das Risiko des ökonomischen Scheiterns, welches gemessen an jenem in afrikanischen Großstädten sich wohl nicht verschärfen würde. Angesichts des nachgewiesenen Einflusses der Migrationskosten auf Migrationsfähigkeit und -neigung  liegt die Hypothese nahe, dass eine deutliche Reduzierung der Kosten die Entscheidung zugunsten einer Migration und deren Realisierung positiv beeinflussen wird.

2

Arbeitsmarkt: Trotz eindrucksvoller Wachstumsraten von mehr als 5% bleibt der Zuwachs an Beschäftigungsmöglichkeiten in Subsahara-Afrika weit hinter dem Zuwachs des Arbeitskräfteangebots zurück. Jährlich 15 Millionen zusätzlichen jungen Arbeitssuchenden stehen gerade einmal zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze gegenüber. Auch wenn in diesen Zahlen die informellen Einkommensmöglichkeiten nicht erfasst sind, so ist doch zu berücksichtigen, dass etwa 70% dieser informellen wirtschaftlichen Tätigkeiten extrem unproduktiv (und entsprechend schlecht vergütet) und unsicher sind. Man kann also davon ausgehen, dass zur ohnehin großen Zahl von Unterbeschäftigten jährlich 10 Millionen junge Arbeitsuchende hinzukommen. Die Hoffnungen auf einen Strukturwandel in Afrika, der zu einer Zunahme von außerlandwirtschaftlichen Einkommensmöglichkeiten führen könnte, erweisen sich als trügerisch. Wächst auch der Anteil der städtischen Bevölkerung, so bleibt doch die Dynamik der nicht-landwirtschaftlichen Sektoren sehr bescheiden.

3

Migrationskultur: Unabhängig von individuellen Präferenzen für ein Leben in der Heimat, in der Stadt oder in der Fremde hat sich im postkolonialen Afrika eine ausgeprägte Migrationskultur im Rahmen eines ökonomischen Zwangs zu translokalen Familienstrukturen herausgebildet. Junge Menschen, insbesondere Männer, in dörflichen Haushalten sind gefordert, ihre Existenz zumindest temporär selbst zu sichern und möglichst auch zum Familieneinkommen beizusteuern. Über 50% der ländlichen Bevölkerung leben in translokalen Haushalten, während ca. 70% der Stadtbewohner noch Teil dörflich-städtischer Existenzsicherungsgemeinschaften sind.

Meist liegt das daran, dass weder die Landwirtschaft allein, noch die städtischen bzw. nicht-landwirtschaftlichen Einkommensquellen allein zum Überleben reichen. Gehen wir von etwa 100 Millionen ländlichen Haushalten mit durchschnittlich je einem migrierendem Haushaltsmitglied aus, so kommen wir auf eine grob geschätzte Größenordnung von 100 Millionen migrationsbereiten bzw. migrationserfahrenen Afrikanern, die zumindest temporär bereit sind, Einkommenschancen anderswo zu nutzen. Der Großteil dieser Migrationsbereitschaft ist der Not geschuldet, der kleinere Teil der Suche nach neuen Möglichkeiten auf einer einigermaßen gesicherten Existenzgrundlage. Gute Gründe also, die Migrationsbereitschaft der Afrikaner – bei aller Präferenz für ein Leben in der Heimat – nicht zu unterschätzen.

4

Migrationsziele: Es deutet vieles darauf hin, dass afrikanische Migranten die räumliche und kulturelle Nähe zu ihrer Herkunftsregion schätzen. Auch erfolgreiche Migranten kehren gerne im fortgeschrittenen Alter in die Heimat zurück, um dort mit dem Ersparten eine Farm zu eröffnen. Die innerafrikanischen Destinationen verfügen aber über eine begrenzte Absorptionskapazität und eine sehr selektive Absorptionsbereitschaft. Selbst in wirtschaftlich boomenden Ländern wie Südafrika und Süd-Nigeria gibt es viele unterbeschäftigte arme Bevölkerungsgruppen, die sich in Konkurrenz zu den meist niedriger entlohnten Zuwanderern sehen. Gewaltsame Konflikte und Massenausweisungen sind oft die Folge. Die etwa 30.000 in Guangzhou, meist ohne Aufenthaltsgenehmigung auf Basis eines Touristenvisums lebenden afrikanischen Händler und Gewerbetreibenden sind kein Indiz für eine zunehmende Attraktivität Chinas für Arbeitsmigranten, sondern Manifestation eines afrikanischen Handelsstützpunktes auf dem chinesischen Festland.

5

Kaskadenmigration: Die Migrationsforschung hat empirische Belege dafür geliefert, dass die Migrationsentfernung von Migranten mit deren Einkommensniveau steigt. Nach Europa kommen also nicht die extrem Armen, sondern aufgrund der höheren Migrationskosten nur die etwas bessergestellten Schichten. Demzufolge würde eine erfolgreiche armutsmindernde Entwicklungspolitik nicht Migrationsursachen bekämpfen, sondern sogar Menschen erst die Möglichkeit zur Migration nach Übersee verschaffen.

Dieses Argument übersieht jedoch das Migrationssystem als Ganzes, das gekennzeichnet ist durch das Phänomen stufenweiser Migration: Die ganz Armen wandern vom Dorf in die nächste Stadt. Dort erhöht sich – bei begrenzten wirtschaftlichen Chancen – der Migrationsdruck auf die bereits über etwas größere Migrationspotenziale verfügenden Stadtbewohner. Diese begeben sich auf die Suche nach besseren Möglichkeiten, z.B. im wirtschaftlich dynamischeren Nachbarland. Kämpfen dort zu Viele um begrenzte Einkommensmöglichkeiten, wächst der Druck, den Sprung hin zu überseeischen Destinationen zu wagen. Diese Kombination von sich räumlich fortpflanzendem Migrationsdruck und wachsenden Migrationspotenzialen führt tendenziell dazu, dass mangelnde Existenzmöglichkeiten für die Armen in den Dörfern sich kaskadenförmig auch auf interkontinentale Migrationsströme auswirken. Umgekehrt gilt: Armutsminderung in den Herkunftsregionen der Armen kann den Migrationsdruck im Gesamtsystem zu reduzieren.

Was hilft gegen Panikmache und Mauerbauphantasien?

Diese auf Indizien basierenden Argumente bieten keinen Anlass zur Befürchtung, dass nach einem Abbau der Festung Europa anderntags 100 Millionen migrationsbereite Afrikaner für ein Arbeitsvisum für Europa Schlange stehen werden. Sie mahnen aber zur Skepsis gegen Einschätzungen, die den ökonomischen Migrationsdruck und die daraus resultierende Migrationsneigung südlich der Sahara unterschätzen – Wunschdenken ist keine angemessene Antwort auf rechtspopulistische Panikmache und entsprechende Mauerbauphantasien.

Eine gleichermaßen humanistische wie realistische Einwanderungspolitik muss der fortwährenden ökonomischen Existenznot in großen Teilen Afrikas und dem daraus resultierenden Bestreben zum Aufbau translokaler (notfalls auch interkontinentaler) Überlebenssysteme Rechnung tragen. Hierzu gehört die Notwendigkeit einer bei den Nöten der Menschen ansetzenden Migrationsursachenbekämpfung: Jobs bzw. Existenzmöglichkeiten in den Herkunftsregionen zu schaffen durch eine fairere Handelspolitik, eine beschäftigungsförderliche (statt -vernichtende) Investitionssteuerung, eine arbeitsmarktorientierte Infrastrukturpolitik und eine armutsmindernde Entwicklungspolitik sind Antworten auf diese Herausforderung.

Eine weitere Antwort könnte darin liegen, dem Streben vieler Afrikaner nach temporären Erwerbsmöglichkeiten jenseits der Landesgrenzen durch Schaffung von Angeboten für temporäre Wanderarbeit vor allem für Geringqualifizierte entgegenzukommen. Niedrigschwelliger, legaler und zeitlich befristeter Zugang zu europäischen Arbeitsmärkten für Viele anstelle eines teuren, gefährlichen, illegalen und dauerhaften Zugangs für die Wenigen, die stark genug sind, die Festungsgräben zu überwinden – das sollte das Motto für die zu führenden Debatten um eine gleichermaßen humanistische wie realistische Migrationsursachenbekämpfungs- und Einwanderungspolitik sein.

 

Zum Autor:

Theo Rauch ist Volkswirt und Honorarprofessor am Zentrum für Entwicklungsländer-Forschung des Geographischen Instituts der FU Berlin.

 

Hinweise:

Dieser Beitrag ist zuerst in einer früheren Form auf dem Blog Weltneuvermessung erschienen.

Hier finden Sie einen Beitrag von Robert Kappel, in welchem dieser argumentiert, was gegen die These einer zunehmenden Migration von Afrika nach Europa spricht.