Europäische Union

Was es bedeutet, in Europa arm zu sein

Fast ein Viertel der europäischen Bevölkerung – oder etwa 113 Millionen EuropäerInnen – ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies hat nicht nur negative Auswirkungen auf den Lebensstandard, sondern auch auf die soziale Integration.

Um im Vorfeld der Europawahl durch lebensnahe und facettenreiche Perspektiven auf bekannte soziale Probleme und Herausforderungen zu einem besseren Verständnis der – oft sehr unterschiedlichen – Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa beizutragen, haben die Bertelsmann-Stiftung und das Jacques Delors Institute Berlin im Rahmen des „Repair and Prepare: Strengthening Europe“-Projekts eine gemeinsame Studie durchgeführt. „How are you doing, Europe? Mapping social imbalances in the EU“ konzentriert sich auf sechs soziale Herausforderungen, die anhand verschiedener Indikatoren und konkreter Fallbeispiele beleuchtet werden.

Die sechs Einzeldossiers der Studie werden im wöchentlichen Rhythmus im Makronom veröffentlicht. Alle bisher erschienenen Beiträge der Serie finden Sie hier. In dem folgenden Beitrag geht es um den Teil der europäischen Bevölkerung, der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist.

2010 setzten sich die Mitgliedstaaten der EU zum Ziel, die Zahl der Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, bis zum Jahr 2020 um 20 Millionen zu reduzieren. Bis vor kurzem hat man sich jedoch eher von diesem Ziel entfernt als sich ihm angenähert: 2016 gab es noch mehr von Armut bedrohte Menschen als im Referenzjahr 2008. Erst 2017 sank die Zahl um rund vier Millionen unter den Referenzwert von 2008, wobei weiterhin mehr als jede/r fünfte EuropäerIn von Armut bedroht ist.

Zu der Frage, wer arm ist und aus welchen Gründen, gibt es zahlreiche Statistiken und Berichte – weniger Aufmerksamkeit wird jedoch der Frage gewidmet, was es für die Betroffenen eigentlich konkret bedeutet, arm zu sein. Nach einem kurzen Überblick darüber, wie sich die Armut in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten während der Wirtschaftskrise entwickelt hat, wechseln wir deshalb die Perspektive und werfen einen Blick auf einige der alltäglichen Probleme und Herausforderungen, mit denen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Menschen konfrontiert sind. Dazu gehört etwa die Schwierigkeit, unerwartete finanzielle Ausgaben zu stemmen oder sich eine Mietwohnung leisten zu können. In diesem Dossier wollen wir zeigen, dass diese Probleme nicht nur Menschen unterhalb der festgelegten Armutsgrenze betreffen, sondern in vielen Mitgliedstaaten weit in die Bevölkerung hineinreichen.

Armut nimmt in der EU unterschiedliche Formen an

Das Risiko, von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht zu sein (die sogenannte „AROPE“-Rate – at risk of poverty or social exclusion) ist der offizielle Indikator für die von den EU-Institutionen verwendete Messung von Armut. Gemäß dieser Definition ist eine Person von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn mindestens eines der folgenden drei Kriterien zutrifft:

1.

Armutsgefährdung nach Sozialtransfers: Menschen, die (nach Transferleistungen) mit weniger als 60% des nationalen verfügbaren Medianeinkommens leben, gelten als armutsgefährdet. Dies wird auch als Einkommensarmut bezeichnet.

2.

„Schwere materielle Deprivation“: Eine solche liegt vor, wenn ein Haushalt nicht in der Lage ist, sich mindestens vier von neun vordefinierten Ausgaben leisten zu können (dazu gehören beispielsweise unerwartete finanzielle Aufwendungen, die Beheizung der Wohnung oder regelmäßig vollwertige Mahlzeiten zu sich nehmen zu können).

3.

Leben in einem Haushalt mit sehr geringer Arbeitsintensität: Dies ist der Fall, wenn die erwerbsfähigen Personen in einem Haushalt zusammengerechnet innerhalb des letzten Jahres zu weniger als 20% ihres Vollzeitpotentials beschäftigt waren.

Der folgende Chart zeigt, wie hoch die „AROPE“-Rate 2017 in den einzelnen Mitgliedstaaten war (im EU-Durchschnitt lag sie bei 22,5%):

Quelle: Eurostat

Angesichts der enormen Unterschiede im Lebensstandard, den wohlfahrtsstaatlichen Traditionen und der Einkommensungleichheit sind die verschiedenen Formen der Armut in Europa sehr unterschiedlich ausgeprägt. Diese Unterschiede lassen sich anhand eines Vergleichs der beiden ersten Indikatoren veranschaulichen: die Gefahr von Einkommensarmut und schwerer materieller Deprivation.

Während der Finanz- und Wirtschaftskrise sind beide Indikatoren europaweit gestiegen. Seit 2012 ist dann das durchschnittliche Niveau der materiellen Deprivation stetig zurückgegangen, das Risiko der Einkommensarmut jedoch trotz der wirtschaftlichen Erholung bis 2017 weiter leicht angestiegen.

Veränderung des Bevölkerungsanteils mit Erwerbsarmutsrisiko bzw. schwerer materieller Deprivation zwischen 2008 – 2017 (in Prozentpunkten)

Der allgemeine Trend verdeckt dabei große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten der EU, insbesondere in Bezug auf materielle Deprivation: So sind etwa in Schweden nur 0,8% der Bevölkerung von materieller Deprivation betroffen, während sich dieser Anteil in Bulgarien auf 30% beläuft. Betrachtet man die Veränderungen im Laufe der Zeit, so waren nur wenige Länder wie Lettland und Polen in der Lage, beide Indikatoren im Vergleich zu 2008 zu verbessern. In krisengeschüttelten Ländern wie Spanien und Italien ist dagegen bei beiden Messgrößen eine Verschlechterung im Vergleich zum Vorkrisenniveau sichtbar. Griechenland wiederum ist das einzige Land, in dem das Level von materieller Deprivation deutlich zugenommen hat, ohne dass wesentliche Veränderungen bei der Einkommensarmut zu verzeichnen wären. Dies deutet darauf hin, dass große Teile der Gesellschaft während der Krise Einkommensverluste erlitten haben.

Die Realität der materiellen und soziale Deprivation

Die materielle Deprivation hat in Europa im Durchschnitt abgenommen und betrifft weitaus weniger Menschen als Einkommensarmut. Dank zweistelligen prozentualen Rückgängen in Polen, Bulgarien und Rumänien ist es sogar der am schnellsten fallende Armutsindikator in Europa. Mit dem Kriterium, sich vier von neun Basisgüter oder Ausgaben des täglichen Lebens nicht leisten zu können, ist die Schwelle, um als „schwerwiegend materiell depriviert“ zu gelten, allerdings auch hoch angesetzt. Konkret wird dabei abgefragt, ob es sich ein Haushalt leisten kann, seine Miet-, Hypotheken- oder Stromrechnungen zu bezahlen, sein Haus ausreichend zu beheizen, unerwartete Aufwendungen zu tragen, regelmäßig Fleisch oder Proteine zu essen, in den Urlaub zu fahren oder einen Fernseher, eine Waschmaschine, ein Auto und ein Telefon zu besitzen.

Quelle: Eurostat

Diese europaweit erhobenen Daten gewähren einen Einblick, vor welchen materiellen Schwierigkeiten viele EuropäerInnen tagtäglich stehen. Auffallend ist, dass bei einigen dieser Ausgabenposten in vielen Ländern nicht nur von Armut gefährdete Personen betroffen sind. Beispielsweise gab 2017 eine deutliche Mehrheit der von Armut bedrohten EuropäerInnen an, es sich nicht leisten zu können, einmal im Jahr einen einwöchigen Urlaub außerhalb der eigenen vier Wände zu verbringen. Bemerkenswert ist aber, dass das auch auf immerhin 25% der nicht von Armut gefährdeten EuropäerInnen zutrifft (nicht in der Abbildung dargestellt). Dies gilt insbesondere für mittel- und osteuropäische sowie für südeuropäische Länder: In Rumänien konnten sich fast 60% derjenigen, die nicht von Armut bedroht sind, keinen Urlaub leisten. Eine Studie zeigt zudem, dass dies auch der erste Ausgabenposten ist, auf den ein Haushalt bei wirtschaftlicher Belastung verzichten würde.

Nahaufnahme

Armut und der Verlust sozialer Netzwerke

Eine unerwartete finanzielle Aufwendung, wie beispielsweise den Austausch oder die Reparatur einer kaputten Waschmaschine stemmen zu können, kann viele von Armut bedrohte Haushalte in Schwierigkeiten bringen – fast 70% der armutsgefährdeten Haushalte gaben an, sich eine solche außerplanmäßige Ausgabe nicht leisten zu können. Selbst in reichen Ländern wie Schweden ist jeder zweite arme Haushalt betroffen. Es ist damit das am weitesten verbreitete Maß der Deprivation und demonstriert, dass viele Haushalte mit niedrigem Einkommen über keinen finanziellen Puffer verfügen. Darüber hinaus war während der letzten Jahre kaum ein Rückgang der Zahl der Betroffenen zu verzeichnen, was im Gegensatz zum allgemeinen Rückgang der materiellen Deprivation steht. Welche Folgen dies konkret für die Betroffenen hat, haben wir in einer Nahaufnahme beleuchtet.

Der Kampf um bezahlbares Wohnen

Hohe Wohnkosten können die Finanzen der Haushalte belasten: Die Berücksichtigung der Wohnkosten treibt den durchschnittlichen Anteil der von Einkommensarmut gefährdeten EuropäerInnen deutlich nach oben – von 16,9 auf 31,1% im Jahr 2017. In zehn EU-Mitgliedstaaten verdoppelt sich das Armutsrisiko mindestens unter Berücksichtigung der Wohnkosten: Dies betrifft sowohl reiche Länder wie Dänemark, Deutschland und Großbritannien als auch ärmere wie Ungarn und Griechenland. Im Jahr 2017 gaben 10% der EU-Haushalte an, mehr als 40% ihres verfügbaren Einkommens für Wohnkosten auszugeben, was als Schwellenwert für eine sogenannte „Wohnkostenüberbelastung“ definiert ist. Während diese Quote für die europäische Bevölkerung insgesamt relativ konstant blieb, stieg sie für Haushalte, die bereits von Armut gefährdet waren, von rund 35% im Jahr 2009 auf rund 40% im Jahr 2014 an. Im gleichen Zeitraum hat sich auch die Wohnkostenüberbelastung bei der Gruppe junger Menschen vergrößert, die in der Regel stärker von der Krise betroffen waren.

Dass weite Teile der Bevölkerung unter einer Überlastung durch Wohnkosten leiden, kann unterschiedliche Gründe haben. Die beiden Länder mit den höchsten Raten sind Griechenland und Bulgarien, wo jeweils 40 beziehungsweise 19% der Gesamtbevölkerung betroffen sind. In beiden Ländern scheint dies mit der Wirtschaftskrise zusammenzuhängen, da ab 2010 ein starker Anstieg zu beobachten war. Auf den Plätzen drei und vier folgen Dänemark (16%) und Deutschland (15%). In beiden Ländern lassen sich die hohen Raten durch den höheren Anteil von MieterInnen im Vergleich zu EigentümerInnen erklären: EU-weit sind 25% der MieterInnen, deren Wohnung zu Marktpreisen vermietet wird, überlastet, während dies nur bei 4,6% der HausbesitzerInnen mit Hypotheken der Fall ist. Sowohl in Dänemark als auch in Deutschland gehört aber der Anteil der MieterInnen zu den höchsten in der EU, während die Verbreitung von Wohneigentum im Vergleich zum EU-Durchschnitt eher niedrig ausfällt.

Obwohl die Wohnkostenüberbelastung insgesamt in der EU rückläufig ist, bleibt das Problem in einigen Ländern sehr dringlich. Dies betrifft insbesondere bestimmte Gruppen, wie zum Beispiel Menschen mit niedrigem Einkommen, die Wohnungen in städtischen Gebieten zum Marktpreis mieten.

Abschließend lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse dieses Dossiers wie folgt zusammenfassen:

Key Facts
  • Im Jahr 2017 waren 113 Millionen EuropäerInnen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, was 22,5% der europäischen Bevölkerung entspricht.
  • Zwischen 2008 und 2017 ist die Armutsgefährdungsquote in elf EU-Ländern gestiegen, darunter in Italien, Spanien, den Niederlanden und Schweden.
  • Mehr als jede/r fünfte EuropäerIn gibt an, entweder Schwierigkeiten oder große Schwierigkeiten zu haben, über die Runden zu kommen (Zahlen von 2017).
  • 34% der EuropäerInnen geben an, nicht in der Lage zu sein, unerwartete finanzielle Aufwendungen tragen zu können.

 

 

Zu den AutorInnen:

Sylvia Schmidt ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung im Programm Europas Zukunft, wo sie sich mit Sozialpolitik und dem europäischen Binnenmarkt beschäftigt. Auf Twitter: @_sylvia_schmidt

Philipp Ständer ist Policy Fellow am Jacques Delors Institute Berlin im Forschungsbereich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Twitter: @P_Staender

 

Hinweis:

Hier finden Sie die vollständige Studie, auf der diese Serie basiert.