Nein, der gesetzliche Mindestlohn hat kein leichtes Leben. Schon vor seiner Geburt zu Beginn des Jahres 2015 sah er sich heftigen Angriffen ausgesetzt. Vom „Jobkiller“ war die Rede gewesen, von Hunderttausenden, die wegen dieses schwerwiegenden Eingriffs in die Lohnbildung Lohn und Brot verlieren werden. Nun sind wir schlauer, worauf im Vorfeld auch einige sehr deutlich hingewiesen haben, die noch in der Lage sind, volkswirtschaftliche von betriebswirtschaftlichen Effekten zu trennen.
Umstritten war natürlich auch die Höhe der Lohnuntergrenze – dass wir mit 8,50 Euro pro Stunde gestartet sind, ist ja nun wirklich nicht sachlogisch im engeren Sinne begründbar gewesen, sondern war und ist eine politische Setzung. Einige hätten damals gerne einen noch tieferen Einstiegslohn gesehen, anderen war jeder Betrag unter der zweistelligen Hausnummer 10 Euro deutlich zu niedrig. Ob der gewählte Betrag letztendlich zu niedrig war, darüber kann man erbittert streiten. Aber nicht darüber, wie er sich nun entwickeln wird.
Denn die damals bei der Implementierung dieser Lohnuntergrenze zuständige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat bei der Frage der Anpassung mit der Mindestlohnkommission und dem zugrundeliegenden Regelwerk ganz bewusst einen Mechanismus geschaffen, der verhindern soll, dass der politisch gesetzte Mindestlohn stärker angehoben werden kann. Und Nahles hat wahrhaft deutsche Qualitätsarbeit abgeliefert: Denn auch wenn einige Leute es wollten – es wird mit diesem Regelwerk keinen ordentlichen Schluck aus der Mindestlohnpulle geben können: Die bisherigen Anhebungen des Mindestlohns sind nicht Pi-mal-Daumen festgelegt worden, sondern folgen einer ganz eigenen, zugleich in sich abgeschlossenen Dynamisierungslogik, die jede „politische Übergriffigkeit“ im Sinne einer deutlichen Anhebung verhindert.
Politische Luftballons
Diese Logik dürfte oder sollte zumindest allen bekannt sein, die sich politisch mit dem Mindestlohn befassen – was aber einige Politiker offenbar nicht davon abhält, in regelmäßigen Abständen Vorschlags-Luftballons aufsteigen zu lassen. Der letzte Vorstoß in diese Richtung kam von Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). In den wahrhaft großen Buchstaben der Bild-Zeitung forderte Scholz eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro. Die Forderung und die konkrete Zahl hat Scholz übrigens schon im Sommer vor der damaligen Entscheidung der Mindestlohnkommission in die Debatte geworfen, sie ist also nicht wirklich neu.
Nun sollte Scholz wirklich wissen, dass dies eine wohlfeile Forderung darstellt, wenn sie nicht gleichzeitig mit einer Forderung nach einer Reform der Mindestlohnkommission flankiert wird – worauf der Finanzminister aber verzichtet. Denn ein solcher Sprung ist im bestehenden System schlichtweg nicht möglich.
Warum das so ist, kann man am Beispiel der im Sommer 2018 vorgelegten Empfehlung der Mindestlohnkommission zur Anhebung des Mindestlohns ab 2019 illustrieren. Die Kommission hat das geboren, was zu erwarten war: eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes um 35 Cent auf 9,19 Euro brutto pro Stunde ab dem 1. Januar 2019. Das ist die zweite Anhebung seit der Mindestlohn-Einführung. Die erste wurde vor zwei Jahren beschlossen. Damals hatte die Mindestlohnkommission entschieden, ab dem 1. Januar 2017 eine Anhebung um genau 34 Cent vorzuschlagen, was das Bundesarbeitsministerium dann auch exekutierte.
Wie kommt man aber auf so krumme Beträge? Das erschließt sich nur, wenn man in das für die Kommission maßgebliche Mindestlohngesetz (MiLoG) schaut. In Paragraf 9, Absatz 2 heißt es:
„Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“
Und genau das hat man im Sommer 2016 dem Grunde nach zur Anwendung gebracht: Seinerzeit lag der Tarifindex für den Zeitraum 1. Januar 2015 bis 30. Juni 2016 der Entscheidung zugrunde. Danach hätte der Mindestlohn zum 1. Januar 2017 auf 8,77 Euro steigen dürfen. Moment, es sind doch aber 8,84 Euro geworden? Damals gab es das Problem, dass der kurz zuvor geschlossene Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst, der aber erst zum August 2016 in Kraft getreten ist, formal nicht für die Anpassungsentscheidung berücksichtigt werden durfte – außer, die Kommission trifft eine davon abweichende Entscheidung, was sie auf Wunsch der Gewerkschaftsseite auch getan hat. Resultat: 8,84 Euro.
Aber zugleich wurde im 2016er Beschluss der Kommission ausdrücklich vereinbart, dass die ursprünglich aus dem Tarifindex abgeleiteten 8,77 Euro die Basis für die nächste Mindestlohnerhöhung sein sollen, um die es im Sommer 2018 ging. Insofern hatte sich damals an der engen Regelbindung nichts geändert.
Für die Erhöhungsentscheidung 2018 konnte man auf dieser Grundlage folgende einfache Rechnung aufmachen: Nach dem Tarifindex des Statistischen Bundesamts, der aus 700 Tarifverträgen gebildet wird, stiegen die Löhne in relevanten Zeitraum um durchschnittlich 4,8%. Der gesetzliche Mindestlohn müsste demnach zum 1. Januar 2019 um ebenfalls 4,8% für die darauffolgenden zwei Jahre angehoben werden. Das Ergebnis dieser Regelbindung unter Berücksichtigung des alten eigentlich richtigen Mindestlohnes liest sich dann so:
8,77 Euro + 4,8 Prozent (= 42 Cent) = 9,19 Euro
Aber erneut meldeten die Gewerkschaften Bedenken an – verständlicherweise, denn im Frühjahr 2018 gab es einige Tarifabschlüsse mit durchaus attraktiven Steigerungsraten, die ansonsten keine Berücksichtigung gefunden hätten. Zudem argumentierte die Arbeitnehmerseite, dass der Tarifindex ohnehin nicht das einzige Kriterium für die Festsetzung des Mindestlohns sei. Denn im bereits erwähnten § 9 Abs. 2 MiLoG steht sogar noch vor der nachlaufenden Orientierung an der Tarifentwicklung dieser Satz: „Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden.“ Einen „angemessenen Mindestschutz“ der Arbeitnehmer – das wäre doch bei Konkretisierung der richtige Ansatz für alle Befürworter einer kräftigen Erhöhung des Mindestlohnes.
Und täglich grüßt das Murmeltier
Wie dem auch sei – in diesem Sommer gab es insofern eine „Überraschung“, als dass die Mindestlohnkommission nicht bei dem beschriebenen Automatismus einer aus dem Tarifindex abgeleiteten Erhöhung des Mindestlohnes für die nächsten zwei Jahre (ab Januar 2019) stehen geblieben ist: Der 9,19 Euro-Mindestlohn wird bereits nach einem Jahr auf dann 9,35 Euro ab dem 1. Januar 2020 erhöht.
Ganz offensichtlich wollte man den Gewerkschaften mit dieser Regelung ein wenig entgegenkommen, denn diese hatten ja neben einer allgemeinen Forderung nach einem höheren Mindestlohn wenigstens die Berücksichtigung der Tarifabschlüsse aus dem Frühjahr 2018 für den neuen Mindestlohn ab 2019 gefordert. Das bekommen sie nun (nicht), denn das Formel-Ergebnis von +35 Cent auf 9,19 Euro bleibt, wird allerdings nach einem langen Jahr Laufzeit durch die angesprochene weitere Erhöhung um überschaubare +16 Cent pro Stunde etwas aufgeweicht.
Die Kommission schreibt dazu in ihrem Beschluss vom 26. Juni 2018: „Die zweite Stufe berücksichtigt auch die Abschlüsse im ersten Halbjahr 2018.“ Aber gemäß dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“ lesen wir in dem Beschluss auch, dass für die nächste Anhebung, die bis zum 30. Juni 2020 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 erfolgen muss, von einem Betrag in Höhe von 9,29 Euro auszugehen ist, dann angereichert um die Tariflohnsteigerungen der Jahre 2018 und 2019.
Ein gesichtswahrender Beschluss
Die erneute, wenn auch diesmal um ein Jahr gestreckte Berücksichtigung der aktuellen Tarifabschlüsse können die Gewerkschaften jetzt als gesichtswahrenden Erfolg verkaufen – gesichtswahrend deshalb, weil sie im Vorfeld der heutigen Entscheidung massiv Druck in Richtung einer deutlich stärkeren Erhöhung des Mindestlohnes aufgebaut hatten. So sollte ein zweistelliger Betrag erreicht werden, wie ihn auch Olaf Scholz fordert.
Doch leider muss man es allen, die mit irgendwelchen Forderungen hausieren gehen, noch einmal ganz klar sagen: Die Regelbindung der Mindestlohnanpassung erweist sich mit Blick auf das Ziel von 12 Euro pro Stunde als Sackgasse. Bei einer jährlichen Steigerung um 2,5% dauert es bis zum Jahr 2030, bis die 12-Euro-Marke erreicht wird. Die Mechanik des bestehenden Systems sei an dieser Stelle nochmals in aller Deutlichkeit beschrieben: Man hat bewusst im Mindestlohngesetz fixiert, dass die Frage der Anpassung der Lohnuntergrenze eben nicht „von der Politik“ gemacht werden soll, sondern hat diese Aufgabe an eine Kommission outgesourct, in der neben Wissenschaftlern am nicht stimmberechtigten Katzentisch die beiden Tarifparteien, also Arbeitgeber und Gewerkschaften, paritätisch vertreten sind, plus einen „unparteiischen“ Vorsitzenden für alle Fälle.
Und um ganz sicher zu gehen, hat man dann die Handlungsspielräume der Kommission durch detaillierte Verfahrensvorgaben (Orientierung an der Tarifbindung) einbetoniert. Das bedeutet: Mit den regelmäßigen, nachlaufenden prozentualen Anpassungen des Mindestlohns in Höhe der allgemeinen Tarifentwicklung vergrößert sich langfristig der in harten Euros gemessene Abstand zu anderen Tarifeinkommen.
Eine (sklavisch) enge Geschäftsordnung
Leider sticht auch nicht die Argumentation, dass im Gesetz doch nur von einer „Orientierung“ die Rede ist. Man könnte an dieser Stelle ein wenig Gesetzesexegese betreiben und tatsächlich zu dem Befund kommen, dass die Formulierung des Gesetzgebers der Kommission zwar eine „Orientierung“ an der Tarifentwicklung mit auf dem Weg gegeben hat, diese aber nicht absolut gesetzt hat, sondern auf eine „Gesamtabwägung“ hinweist.
Aber die Mindestlohnkommission hat das sehr eng – manche Kritiker würden sagen: sklavisch eng – ausgelegt und sich in der eigenen Geschäftsordnung eine im Ergebnis rigide Selbstbindung an die als Orientierungsgröße gedachte Bezugnahme auf die Tarifentwicklung der Vergangenheit gegeben. In Paragraf 3, Absatz 1, Satz 2 der Geschäftsordnung heißt es, dass die Anpassung des Mindestlohns ab dem Jahr 2018 „im Regelfall gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf der Basis der Stundenverdienste in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren“ festgesetzt wird.
Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags schreibt, „kann die Mindestlohnkommission davon nur abweichen, „wenn besondere, gravierende Umstände aufgrund der Konjunktur- oder Arbeitsmarktentwicklung vorliegen und die Kommission daher im Rahmen der in § 9 Abs. 2 MiLoG beschriebenen Gesamtabwägung zum Ergebnis kommt, dass die nachlaufende Orientierung am Tarifindex in dieser Situation nicht geeignet ist, die Ziele des § 9 Abs. 2 MiLoG zu erreichen.“ Für eine solche „Abweichung“ ist zudem eine Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder erforderlich – was den Arbeitgebern eine strukturelle Veto-Position sichert, vor allem, solange die Wissenschaftsvertreter kein Stimmrecht haben.
Schall und Rauch
Es tut mir leid, der Überbringer schlechter Nachrichten für alle zu sein, die auf kräftigere Schlucke aus der Mindestlohn-Pulle hoffen. Aber so stellt sich nun einmal das bestehende System dar. Und das muss Olaf Scholz, der übrigens selbst auch mal Bundesarbeitsminister war, kennen. Und wenn er das kennt, dann muss er wissen, dass seine markige Forderung nach 12 Euro Mindestlohn ohne eine grundlegende Reform des Mindestlohngesetzes sowie der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission auf lange Zeit das bleiben wird, was sie heute ist: Schall und Rauch.
Auf keinen Fall aber sollte man glauben, dass diese Irreführung des Publikums anderen nicht auffällt. Und wie Luftballons bekannterweise platzen, so platzen auch die Illusionen, die manche Politiker offensichtlich bewusst in die Welt setzen. Das kann und wird sich dann an anderer Stelle bitter rächen.
Zum Autor:
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist. Auf Twitter: @stefansell