Anfang Juni hat Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik, der Welt am Sonntag ein Interview gegeben. Darin kritisiert Wambach auch die studentische Bewegung rund um das Netzwerk Plurale Ökonomik.
Wambach ist der Meinung, dass die plurale Ökonomik für die Wissenschaft keinen methodischen Fortschritt bringe und nicht für eine „ordentliche“ Qualifikation der Studierenden sorgen könne. In Bezug auf Forschung und Wirtschaftspolitik vertritt er die These, dass im Finanzbereich, der Umweltökonomik oder der Finanzwissenschaft „nichts von den Pluralen“ käme und die „Reaktivierung alter Denkschulen“ nicht weiterhelfe. Er erkennt durch plurale Ansätze keinen „methodischen Fortschritt“ für die Wissenschaft und hält sie nicht für das richtige Rüstzeug für einen Job beim Wirtschaftsministerium oder der Europäischen Zentralbank.
Dabei übersieht Wambach jene WissenschaftlerInnen, die produktiv Forschung jenseits des konventionellen Rahmens betreiben – auch durch Anstöße aus „alten“ Denkschulen. Beispielsweise bekannte Adair Turner, der während der Lehman-Pleite Vorsitzender der britischen Finanzmarktaufsichtsbehörde war, dass er erst Jahre später durch die Lektüre des 1898 von Knut Wicksell veröffentlichten Buchs „Geldzins und Güterpreise“ verstanden habe, wie Geld und Geldschöpfung funktionieren. Mitarbeiter der Bank of England sahen sich 2014 motiviert darauf hinzuweisen, dass eben diese Zusammenhänge in den meisten volkswirtschaftlichen Lehrbüchern nicht korrekt wiedergegeben werden. Dieses Beispiel zeigt, wie hilfreich die Lektüre von Klassikern wie Keynes, Schumpeter oder eben Wicksell ganz konkret für die Geld- und Finanzpolitik des 21. Jahrhunderts gewesen wäre.
In der von Wambach angesprochenen Umweltökonomik ist unverkennbar, wie häufig auf Ideen aus der „pluralen“ ökologischen Ökonomik zurückgegriffen wird. Bei Konzepten wie Ecosystem Services, planetaren Grenzen oder der Integration von Energie als Produktionsfaktor in makroökonomische Modelle wurden Impulse aus eben dieser Nische aufgegriffen und weiterentwickelt. Ihre heutige Bedeutung macht deutlich, wie nützlich Forschen jenseits des konventionellen Rahmens sein kann.
Ein weiteres Beispiel ist die Wiederentdeckung von Henry George, der in seinem Werk „Fortschritt und Armut“ bereits vor 150 Jahren auf die sozial und ökonomisch problematischen Bodenrenten hingewiesen hat: Dabei handelt es sich um Einkommen, die den Eigentümern von Grundstücken „in guter Lage“ ohne Gegenleistung zufließen. Es sind die Investitionen des Staates und anderer Menschen gewesen, die diese Grundstücke wertvoll gemacht haben. Ottmar Edenhofer und KollegInnen vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung, das arbeitgeberfinanzierte Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) oder das gewerkschaftsfinanzierte Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) haben diese „Denkschule“ reaktiviert und bringen sie in die aktuelle finanzwissenschaftliche Diskussion um die Reform der Grundsteuer ein. In den makroökonomischen Modellen, die Wambach als vereinfachende „Landkarten“ bezeichnet, kommt Land im Sinne von Boden hingegen meist gar nicht vor.
Blinde Flecken
Natürlich kann ein Modell nicht beliebig komplex sein und je nach Kontext müssen Dinge vereinfacht werden. Im üblichen makroökonomischen Modellrahmen wird davon ausgegangen, dass Preisanpassungen Angebot und Nachfrage rasch und unfehlbar immer wieder in ein Gleichgewicht bringen. Abgesehen von unvorhersehbaren, mit korrekten Wahrscheinlichkeiten prognostizierbaren Schocks gibt es keine Unsicherheit über die Zukunft. Warum die dezentrale Koordination über Märkte meistens zuverlässig funktioniert und manchmal gravierend schief geht, kann in diesem Rahmen aber weder gefragt noch beantwortet werden.
Als Analogie könnte man hier ÖkonomInnen mit GeologInnen vergleichen: Würden letztere eine Theorie der Plattentektonik verwenden, in der die Erdplatten reibungsfrei aneinander vorbeigleiten, wäre diese zur Beschreibung von Erdbeben nutzlos. Ähnlich konnten sich Zentralbanken während der Finanzkrise nicht auf ihre volkswirtschaftlichen Modelle verlassen. Wissenschaftler, die Geldströme und Kreditbeziehungen modellierten, waren bei der Krisenprognose erfolgreicher, was auch die Bank of England anerkennt. Vereinfachungen können hilfreich sein, aber man sollte nicht nur Modelle nutzen, die alle die gleichen blinden Flecken haben.
Anders als von Wambach nahegelegt, sind zahlreiche wissenschaftliche Fortschritte durch eine plurale Herangehensweise zustande gekommen. Trotz des Potenzials, neue Erkenntnisse zu gewinnen, findet die inhaltliche Auseinandersetzungen recht einseitig statt: Während viele Beiträge außerhalb des Mainstreams letzteren kritisieren und zitieren, gibt es den umgekehrten Bezug nur selten – und das obwohl die Bezugnahme in den wenigen Fällen durchaus zu einflussreicheren Beiträgen geführt hat. Dies sorgt wiederum für strukturelle Hindernisse: Die aktuellen Rankingmethoden sind nachweislich nicht geeignet, wissenschaftliche Qualität zu messen, aber benachteiligen alternative Forschung strukturell.
Bei Berufungen in der VWL liegt ein starker Fokus auf den Top-5-Journals, sodass sich plurale Professuren nur selten finden. Wir erfahren im Netzwerk immer wieder, dass wissenschaftlicher Nachwuchs wenig Inspiration und Unterstützung spürt, sondern viel mehr Konformitätsdruck, wenn gewisse Grundhaltungen in Frage gestellt werden. Für die Weiterentwicklung der Volkswirtschaftslehre sollte man pluralen Perspektiven eine echte Chance geben und sie stärker in der Forschung und Lehre der Universitäten verankern, statt sie für irrelevant zu erklären.
Eine plurale Ausbildung mit Raum für Diskussion und Reflexion an Universitäten ist wichtig, um die Ökonomik für theoretische und methodische Vielfalt zu öffnen und den Diskurs zu liberalisieren. Diese Forderung darf nicht so verstanden werden, dass sie sich auf die Vermittlung der Geschichte des ökonomischen Denkens reduziert. Genauso wenig wendet sich das Netzwerk Plurale Ökonomik gegen eine „ordentliche“ ökonometrische Ausbildung und ein fundiertes Verständnis von Mathematik, Ökonometrie und Modellierung, wie Wambach es andeutet.
Sind diese Teile der Ausbildung aber zu dominant, besteht die Gefahr, dass die blinden Flecken der heutigen Theorien unerkannt bleiben. Doch gerade dort finden sich offene und grundlegende Forschungsfragen für WissenschaftlerInnen auf der Suche nach einer sozial gerechten, nachhaltigen und ökonomisch stabilen Wirtschaftsordnung. Dauerhaft können selbstverwaltete Ringvorlesungen da keine Abhilfe schaffen – es muss sich grundlegend etwas an den Bedingungen in Forschung und Lehre ändern.
Zu den Autoren:
Hannes Vetter hat in Mannheim und Heidelberg Wirtschaftsmathematik und Volkswirtschaftslehre studiert. Neben seiner Tätigkeit für den Bundestagsabgeordneten Danyal Bayaz (Grüne) promoviert er derzeit zum Thema „ökologische Steuerreform“ an der Universität Heidelberg.
Oliver Richters hat in Oldenburg seinen Master in Physik absolviert und promoviert am Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität Oldenburg zu dynamischen Nicht-Gleichgewichtsmodellen und mathematischen Analogien zwischen Physik und Volkswirtschaftslehre.
Hinweis:
Weitere Beiträge zur Pluralismus-Debatte in der Volkswirtschaftslehre finden Sie hier.