Ökonomische Schulbildung

Ein Plädoyer und vier Szenarien für offene Schulbücher

Urheberrechtliche Probleme und eine wachsende Zahl an tendenziösen Onlinematerialien – das Kontroversitätsgebot der Lehre steht zunehmend unter Druck. Bildungsmaterialien unter freier Lizenz sind ein Weg, diesen Problemen zu begegnen. Ein Beitrag von Maximilian Heimstädt und Leonhard Dobusch.

Bild: Pixabay

Eine Reihe von Studien des Forschungsinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) hat in den letzten dreieinhalb Jahren systematisch den Zustand der Ökonomik in Deutschland untersucht. Dabei wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen: Welche Lehrbücher werden an deutschen Hochschulen verwendet? Wie plural sind sie? Wie sind Lehrstühle besetzt? Und was denkt eigentlich der wissenschaftliche Nachwuchs über sein Fach?

Die Ergebnisse dieser Studien werden in einer Beitragsserie im Makronom veröffentlicht. Insgesamt gibt es elf Beiträge, von denen pro Woche immer einer montags erscheinen wird. In dieser Woche stellen Maximilian Heimstädt und Leonhard Dobusch die Ergebnisse einer Untersuchung der Perspektiven von Open Educational Resources (OER) für die (sozio-)ökonomische Bildung an Schulen vor.

Die (sozio-)ökonomische Bildung an Schulen steht vor zwei großen Herausforderungen: Zum einen verstärkt die zunehmende Digitalisierung der Lernpraxis bestehende urheberrechtliche Probleme. Zum anderen gerät durch eine wachsende Menge an tendenziösen aber kostenfreien Onlinematerialien das Kontroversitätsgebot der Lehre zunehmend unter Druck. Open Educational Resources – Bildungsmaterialien unter freier Lizenz (z.B. Creative Commons) – sind ein Weg, diesen Problemen zu begegnen.

In diesem Beitrag präsentieren wir vier Szenarien zur systematischen Förderung von OER-Lehrbüchern durch die (Bildungs-)Politik der Länder und des Bundes. Die Szenarien basieren auf einer empirischen Untersuchung am Beispiel des Landes NRW, unterstützt vom Forschungsinstitut für Gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW).

Probleme (sozio-)ökonomischer Bildung

An anderer Stelle hat Leonhard Dobusch argumentiert, dass eine Paradigmenvielfalt in der Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses nur durch gelebte Pluralität in der Hochschullehre möglich sein kann. In dieser Konsequenz scheint somit auch ein Interesse an pluraler Ökonomik und entsprechend ausgerichteten Studienangeboten vom Zuschnitt der (sozio-)ökonomischen Schulbildung beeinflusst zu werden. Genau diese steht jedoch vor zwei großen Problemen:

Zum einen hat sich in den vergangenen Jahren das ohnehin angespannte Verhältnis von geltendem Urheberrecht und alltagsdidaktischer Praxis weiter verstärkt. Technologische Entwicklungen machen die digitale Verbreitung, Veränderung und den Remix bestehender Materialien immer einfacher. Aus didaktischer Perspektive können diese neuen Praktiken von großem Vorteil sein. Rechtlich bewegen sich Lehrer*innen und Schüler*innen damit jedoch oft in Graubereichen oder sogar eindeutig außerhalb der Grenzen des für die schulische Bildung geltenden Urheberrechtes. Dieses Problem betrifft die (sozio-)ökonomische Bildung genauso wie andere fachliche Bereiche der schulischen Bildung.

Zum anderen sind Lehrer*innen im Bereich der (sozio-)ökonomischen Lehre seit einigen Jahren einer stetig anschwellenden Flut kostenloser, aber ungeprüfter Onlinematerialien ausgesetzt. Nicht selten sind hierbei vor allem Bildungsmedien wirtschaftsnaher Anbieter tendenziös und von minderwertiger Qualität. Der Annahme, dass Lehrer*innen in der Lage sind, Onlinematerialien einer kritischen Prüfung und angemessenen Kontextualisierung zu unterziehen, stehen immer knappere Ressourcen zur Vorbereitung des Unterrichts gegenüber. Besonders für die (sozio-)ökonomische Lehre ist es notwendig, regelmäßig aktuelles Lehrmaterial zu beschaffen. Je einfacher die Materialien online verfügbar und je deutlicher deren Nutzungsbedingungen geklärt sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Eingang in die schulische Lehre finden. Kostenloses, aber ungeprüftes und oftmals tendenziöses Onlinematerial stellt daher eine Gefahr für das Kontroversitätsgebot in der schulischen Lehre dar.

Lösung: Open Educational Resources

Ein vielversprechender Lösungsansatz für die geschilderten Probleme ist die systematische Förderung von Open Educational Resources (OER) durch die (Bildungs-)Politik der Länder und des Bundes. Als OER verstehen wir nach einer gängigen Definition der UNESCO

„Lehr-, Lern- und Forschungsressourcen in Form jeden Mediums, digital oder anderweitig, die gemeinfrei sind oder unter einer offenen Lizenz veröffentlicht wurden, welche den kostenlosen Zugang, sowie die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Andere ohne oder mit geringfügigen Einschränkungen erlauben“.

Durch den Einsatz von OER löst sich der hochgradig unsichere Status Quo, in dem Lehrer*innen und Schüler*innen entweder auf das wohlwollende „Weggucken“ der Verlage bei alltäglichen Urheberrechtsverletzungen angewiesen sind oder innovative Praktiken und den digitalen Austausch von Lernunterlagen einfach unterlassen. Gleichzeitig stellen sich öffentlich-finanzierte und, je nach Bundesland, qualitätsgeprüfte OER-Schulbücher als qualitativ hochwertiges und ebenfalls kostenloses Onlinematerial der Flut an mangelhaftem kostenlosen Onlinematerial entgegen.

Der Umstieg von klassischen, proprietär lizenzierten Schulbüchern auf OER-Schulbücher erfordert eine Reihe von Veränderungen entlang der Wertschöpfungskette, um auch weiterhin die Qualität der Lehrmaterialien sicherstellen zu können. Zentrale Stellschraube der (Bildungs-)Politik ist hierbei die Entwicklung neuer Finanzierungsmodelle, bzw. eine Änderung der Rahmenbedingungen um zu ermöglichen, dass Schulen ihr Lernmittelbudget nicht mehr nur für die Refinanzierung proprietärer Bücher, sondern auch für die Vorfinanzierung von OER-Schulbüchern verwenden können.

Szenarien zur Förderung von OER-Schulbüchern

Die folgenden vier Szenarien wurden am Beispiel von NRW als einem Bundesland mit zentraler Schulbuchzulassung durch das Bildungsministerium entwickelt. In diesem Beitrag werden sie jedoch in einer Form präsentiert, die ihre Umsetzbarkeit auch in Bundesländern ohne zentrale Schulbuchzulassung (z.B. Berlin) verdeutlichen sollen. (In unserer ausführlichen Untersuchung haben wir noch zwei weitere Szenarien entwickelt, die jedoch Extremausprägungen und somit nicht sonderlich handlungsleitend sind).

Öffentliche Ausschreibung von Pilot-OER-Schulbüchern

In diesem Szenario fördert die (Bildungs-)Politik des Landes gezielt Pilotprojekte zu OER-Schulbüchern. Im klassischen Modell der Schulbuchfinanzierung übernehmen Schulbuchverlage die Vorfinanzierung der Bücher, um anschließend über den Verkauf der Schulbücher die entsprechenden Ausgaben, (u. a. für Marketing) zu decken bzw. einen Gewinn zu erzielen. Zur Förderung von Pilotprojekten zu OER-Schulbüchern kann in einem klar definierten Vergabeverfahren dem Anbieter mit dem besten Projektvorschlag (vom Ministerium und/oder Experten zu bewerten) der Auftrag für ein OER-Schulbuch erteilt werden.

Dieser Anbieter kann ein bestehender Bildungsmedienverlag, aber auch ein neuer Marktteilnehmer sein. Vergleichbare Verfahren sind z. B. bei öffentlichen Bauten oder Forschungsprojekten der Bundesministerien zu finden. Durch den öffentlichen Auftrag hat der Bildungsmedienverlag Planungssicherheit und trägt weniger Risiko als bei der Vorfinanzierung eines OER-Schulbuches mit unklaren Refinanzierungsmöglichkeiten. Um von den Erfahrungen der Auftragnehmer zu lernen und systematisch auf den Pilotprojekten aufzubauen, sind wissenschaftliche Begleitstudien unerlässlich.

Vorbild für dieses Szenario ist unter anderem Norwegen, wo seit 2006 ca. 20% des Schulbuch-Budgets, das sind 8,2 Millionen Euro, in die Entwicklung von OER-Materialien investiert werden und damit sukzessive der OER-Bestand erhöht wird. Eine Machbarkeitsstudie zu OER-Schulbüchern in Österreich schätzt den Umfang einer solchen Ausschreibung auf 60.000 bis 300.000 Euro pro Schulbuch. Dieser ist vor allem abhängig vom Umfang des Projektes (vom Themenheft für ein Modul bis zum Kompendium mit dem Stoff mehrerer Klassenstufen), dem Fach selbst (mathematisch-naturwissenschaftliche Inhalte sind günstiger und mit weniger Lizensierungskosten zu erstellen als (sozio-)ökonomische Inhalte), sowie der technischen Gestaltung (als einfaches PDF, oder als multimediale digitale Lernumgebung).

Entwicklung von OER-Schulbuch-Rohlingen

In diesem Szenario sollen keine finalen OER-Schulbücher gefördert werden, sondern „Rohlinge“, deren Inhalte den Minimalanforderungen der zentralen Qualitätsprüfungen in mehreren Bundesländern zu genügen haben. Bildungsmedienanbieter könnten dann durch Ergänzen von (multimedialen) Inhalten mit relativ geringem Aufwand ein deutlich hochwertigeres OER-Schulbuch für ein spezifisches Bundesland erstellen und müssen sich nicht mehr um die offene Lizenzierung der grundlegenden Inhalte kümmern.

Vorteil dieser Idee ist es, dass sie staatliche Förderung mit den qualitätsfördernden Mechanismen des Wettbewerbs kombiniert. Dieses Szenario bietet zudem die Möglichkeit die Förderung von OER-Schulbüchern auf Landesebene mit den Interessen und Mitteln des Bundes zu verzahnen. Solch ein OER-Schulbuch-Rohling könnte daher auch von auf Bundesebene angesiedelten Stellen mit OER-Erfahrung, beispielsweise der Bundeszentrale für politische Bildung, erstellt werden.

Nutzungsbasierte Refinanzierung von OER-Schulbüchern

In diesem Szenario ist die öffentliche Förderung von OER-Schulbüchern nicht durch eine komplette Vorabfinanzierung, sondern teilweise nutzungsabhängig gestaltet. Die (Bildungs-)Politik des Landes setzt hierbei einen finanziellen Anreiz für die Erstellung von OER-Schulbüchern, die erfolgreich die Schulbuchzulassung durchlaufen haben und in der schulischen Praxis auch tatsächlich zum Einsatz kommen. Die Höhe des Anreizes bemisst sich anhand der Ergebnisse von Nutzungserhebungen der OER-Bücher im Unterricht. Die (Bildungs-)Politik des Landes reserviert hierbei einen Gesamtbetrag für OER-Vergütung und entwirft ein Verfahren, das regelt, unter welchen Bedingungen und zu welchen Konditionen Bildungsmedienverlage und andere Anbieter von OER-Schulbüchern eine nutzungsbasierte Vergütung erhalten können. Ähnliche Verfahren der Nutzungserhebung gibt es bereits, z. B. bei den Befragungen unter Radio-Hörer*innen, durch die Zählpixel der Verwertungsgesellschaften oder durch Onlinedienste wie Patreon.

Einführung einer OER-Klausel in den Zulassungsprozess

Kern dieses Szenarios ist die Einführung einer OER-Klausel in die Schulbuchzulassung des Bundeslandes. Wollen Anbieter von Schulbüchern diese für ein Bundesland zulassen, müssen sie sich vertraglich verpflichten, die Schulbücher nach einer Phase des kommerziellen Vertriebs als OER zur Verfügung zu stellen. Die Phase könnte entweder zeitlich (z. B. nach fünf Jahren) oder sachlich (z. B. wenn beim Verkauf ein gewisser Schwellenwert an Exemplaren erreicht wurde) beschrieben werden.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich in diesem Szenario die Qualität der Schulbücher nach einer gewissen Anlaufphase erhöht. Sind erst einmal alle konkurrierenden Bücher frei lizensiert, kann in der nächsten „Welle“ der proprietären Angebote von allen Anbietern auf die besten Inhalte aufgebaut werden. Gleichzeitig können parallel sehr leicht aktualisierte OER-Bücher entstehen, die ebenfalls auf dem gesamten Materialspektrum aufbauen. Die Kopplung der zentralen Schulbuchzulassung an eine OER-Klausel ist jedoch nur in Ländern mit zentraler Schulbuchzulassung möglich.

Fazit

Plurale Ökonomik in der akademischen Forschung und Lehre setzt die kontroverse Auseinandersetzung mit (sozio-)ökonomischen Themen bereits in der schulischen Bildung voraus. Um diese Vielfalt auch angesichts einer wachsenden Zahl qualitativ minderwertiger bis tendenziöser Gratisonlinematerialien zu wahren, scheint der Umstieg auf staatlich geprüfte OER-Schulbücher sinnvoll. Die Förderung von OER-Schulbüchern durch die Bildungspolitik der Länder und des Bundes könnte entlang der in diesem Beitrag skizzierten Szenarien verlaufen, die alle um die Entwicklung neuer Finanzierungsmodelle bemüht sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Szenarien keineswegs nur alternativ, sondern durchaus auch kumulativ Anwendung finden können: Wie bereits vereinzelt geschehen, können einzelne OER-Schulbücher durch öffentliche Ausschreibungsverfahren vorfinanziert werden.

 

Zu den Autoren:

Maximilian Heimstädt ist Betriebswirt und Postdoktorand am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung der Universität Witten/Herdecke. Er forscht zu neuen und offeneren Organisationsformen sowie zu digitalen Transformationen im öffentlichen Sektor. Auf Twitter: @heimstaedt

Leonhard Dobusch ist Betriebswirt und Jurist und forscht als Universitätsprofessor für Organisation an der Universität Innsbruck u.a. zum Management digitaler Gemeinschaften und transnationaler Urheberrechtsregulierung. Als Experte für Open Educational Resources bloggt er zudem seit Jahren für netzpolitik.org. Auf Twitter: @leonidobusch