Neue EU-Fiskalregeln

Lindners Eigentor

In den Verhandlungen über die Reform der EU-Fiskalregeln hatte Finanzminister Christian Lindner auf mehr Strenge gedrängt. Wie eine neue Studie zeigt, dürfte dies der ohnehin schon angeschlagenen deutschen Wirtschaft noch weiteren langfristigen Schaden zufügen. Ein Beitrag von Sebastian Gechert und Philipp Heimberger.

Bild: Pixabay

Finanzminister Christian Lindner (FDP) betont in der laufenden Haushaltsdebatte, dass auch die neuen EU-Fiskalregeln Deutschland zum Sparen verpflichten. Die kürzlich reformierten EU-Regeln bringen für Deutschland in den kommenden Jahren jedoch zunächst geringe Konsolidierungsanforderungen. Die Sparvorgaben, die andere Euro-Staaten werden erfüllen müssen, sind hingegen teilweise massiv.

Dabei könnten sich die Annahmen der EU-Kommission, wie sich die Sparvorgaben auf das Wachstum und die Schuldenpfade der Mitgliedsländer auswirken, als deutlich zu optimistisch erweisen, wie wir in einer neuen Studie zeigen. Ein Hinterhersparen ähnlich den Eurokrisen-Jahren könnte die Folge sein. So könnte am Ende auch die kriselnde Bundesrepublik zu den großen Verlierern zählen, weil die Budgetkonsolidierung von wichtigen Handelspartnern wie Frankreich, Italien und Spanien das ohnehin schwächelnde deutsche Wirtschaftswachstum weiter dämpft.

Die neuen Regeln

Die reformierten EU-Fiskalregeln, die am 30. April 2024 in Kraft getreten sind, zielen darauf ab, die öffentlichen Finanzen der EU-Mitgliedstaaten zu stabilisieren. Die wichtigsten Kenngrößen der Maastricht-Regeln, ein maximales Budgetdefizit von 3% und eine Staatsschuldenquote von maximal 60% der jährlichen Wirtschaftsleistung, werden zwar als zentrale Referenzgrößen beibehalten. Allerdings wird der Weg zu diesen Zielen mit den neuen Regeln flexibler gestaltet: Die Länder bekommen mehr Zeit eingeräumt und müssen nicht mehr innerhalb von 20 Jahren das 60%-Ziel der Staatsschuldenquote erreichen. Zudem spielen die vielkritisierten Berechnungsverfahren für das Potenzialwachstum und das strukturell zulässige Defizit in Zukunft eine weniger direkte Rolle, wenngleich sie noch immer im Hintergrund wirken.

Neu ist, dass nur noch eine einzige operative Kennzahl maßgeblich ist: Die länderspezifischen Sparvorgaben und deren Einhaltung sind nun mit einer Ausgabenregel verbunden. Diese Ausgabenregel zielt auf die Beschränkung des Wachstums der Nettostaatsausgaben, also der öffentlichen Ausgaben abzüglich Zinszahlungen, diskretionären Steuermaßnahmen, nationalen Ausgaben im Zusammenhang mit EU-Programmen und zyklischen Arbeitslosengeldern. Diese Nettoausgabenpfade werden jedoch, wie bereits aus den alten EU-Fiskalregeln sowie aus der deutschen Schuldenbremse bekannt, aus der Schätzung konjunkturbereinigter Budgetsalden abgeleitet. Diese konjunkturbereinigten Budgetsalden sind durch Steuererhöhungen und/oder Ausgabenkürzungen in einem solchen Maß zu verbessern, dass die Defizit- und Schuldenregeln der reformierten EU-Fiskalregeln eingehalten werden.

Ein zentraler Bestandteil der neuen Regeln ist die sogenannte Schuldentragfähigkeitsanalyse (Debt Sustainability Analysis, kurz DSA). Die DSA untersucht modellgestützt verschiedene Szenarien zur wirtschaftlichen und finanzpolitischen Entwicklung der Mitgliedsländer. Daraus werden Konsolidierungsziele abgeleitet, die mittelfristig das Budgetdefizit unter 3% der Wirtschaftsleistung und die Schuldenquote auf einen sinkenden Pfad in Richtung 60% bringen soll.

Ein großer Teil der politischen Diskussion drehte sich um die sogenannten Schutzklauseln, die Minimum-Anforderungen für die Budgetkonsolidierung festlegen, wenn die Schuldenquote über 60% der Wirtschaftsleistung und das strukturelle Budgetdefizit über 1,5% liegt. Doch diese Schutzklauseln sind in der ersten Anwendung der neuen Fiskalregeln nachrangig, weil die aus der DSA abgeleiteten Konsolidierungsanforderungen strenger sind und damit für fast alle EU-Länder (inklusive Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien) greifen.

Wie sich die neuen Regeln auswirken

Wie für jedes Modell gilt auch für die DSA, dass die Ergebnisse von den zugrundeliegenden Annahmen abhängen. Im vorliegenden Fall gilt das ganz besonders: Denn die Modellergebnisse, also die geforderten Budgetanpassungen für die kommenden Jahre, haben wiederum Rückwirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Schuldenquoten. Folglich beeinflussen sie auch zukünftige Schuldentragfähigkeitsanalysen.

Bereits während der Krise im Euroraum wurden vielen europäischen Ländern gleichzeitig harte Sparauflagen gemacht, die die wirtschaftliche Krise noch verschärften und damit die Erreichung des Ziels tragfähiger Schulden erschwerten. Es ist davon auszugehen, dass die neuen Regeln zu optimistische Annahmen bezüglich der Auswirkung von Sparprogrammen unterstellen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf drei zentrale DSA-Annahmen:

1.

Laut EU-Kommission reduziert eine Einsparung von 1 Milliarde Euro die Wirtschaftsleistung kurzfristig um 0,75 Milliarden Euro (ein Multiplikatoreffekt von 0,75). Dieser Wert ist insbesondere in Krisenzeiten und für ausgabenseitige Konsolidierungen vermutlich zu klein, und er ist auch kleiner als in der Studie, auf die sich die EU-Kommission bezieht.

2.

Mittelfristig geht die EU-Kommission davon aus, dass der Multiplikatoreffekt drei Jahre nach der Anpassung komplett verschwindet und die Wirtschaftsleistung auf ihren alten Wachstumspfad zurückkehrt. Auch hier bleibt die EU-Kommission hinter eigenen Publikationen zurück, die länger nachwirkende negative Wachstumseffekte diskutieren. Die jüngere Literatur geht davon aus, dass finanzpolitische Maßnahmen auch mittelfristig wirksam bleiben.

3.

Die EU-Kommission betrachtet die Auswirkungen der Konsolidierung für jeden Mitgliedstaat einzeln. Jedoch haben Sparmaßnahmen z.B. in Frankreich über die engen Handelsverflechtungen auch erhebliche Auswirkungen auf die exportabhängige deutsche Wirtschaft und somit auf die deutschen Staatsfinanzen. Diese Spillover-Effekte von Sparmaßnahmen werden von der EU-Kommission an anderer Stelle als wichtige Einflussgröße diskutiert, in der DSA aber aktuell ignoriert.

Bremseffekte von Budgetkonsolidierung unterschätzt

Wir zeigen in einer kürzlich erschienenen Studie in der Fachzeitschrift Intereconomics, dass die DSA-Projektionen für das Wirtschaftswachstum und die öffentlichen Schuldenquoten empfindlich auf Änderungen dieser Annahmen reagieren. In der Studie betrachten wir die vier größten Ökonomien des Euroraums (Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien), die rund drei Viertel des Euroraum-BIP ausmachen.

Für unsere Berechnungen gehen wir von den von der EU-Kommission ermittelten Konsolidierungsanforderungen für einen Vierjahreszeitraum (2025-28) aus. Die Mitgliedstaaten können ein Bündel von Investitionen und Reformen vorschlagen, die von der Kommission danach bewertet werden, ob die Maßnahmen wachstumsfördernd sind, mit der Schuldentragfähigkeit vereinbar sind, EU-Prioritäten betreffen (z. B. Investitionen in die Dekarbonisierung oder Digitalisierungsreformen) und den länderspezifischen Empfehlungen der Kommission entsprechen (z. B. Rentenreformen).

Wenn die Kommission die Investitionen und Reformen akzeptiert, kann der Zeitraum für die Haushaltsanpassung von vier auf maximal sieben Jahre verlängert werden, wodurch sich der jährliche Konsolidierungsbedarf etwas verringert. Der kumulierte Konsolidierungsbedarf (über die gesamte mehrjährige Periode) ändert sich jedoch in der Regel bei einer Verlängerung nicht substanziell, es sinkt nur die jährliche Konsolidierungserfordernis. Zudem greifen im Fall eines längeren Anpassungszeitraums zum Teil die oben erwähnten strengeren Schutzklauseln, die wiederum eine schnellere Konsolidierung erzwingen.

Für den Vierjahreszeitraum 2025-2028 betragen die jährlichen Konsolidierungsanforderungen, gemessen als erforderliche Verbesserung im strukturellen (das heißt: konjunkturbereinigten) Primärsaldo (Maastricht-Saldo abzüglich Zinszahlungen), 1,08 Prozentpunkte des BIP für Italien; 0,94 Prozentpunkte für Frankreich; 0,89 Prozentpunkte für Spanien und 0,11 Prozentpunkte für Deutschland (Darvas et al. 2024). Wir nehmen in den DSA-Simulationen an, dass die fiskalische Konsolidierung von jeder Regierung gemäß den Anforderungen der EU-Kommission umgesetzt wird. Diese Anforderungen sind für Italien, Frankreich und Spanien im historischen Vergleich groß.

Nach der Konsolidierungsphase unterstellt die EU-Kommission einen gleichbleibenden Budgetüberschuss für die kommenden zehn Jahre. Am Beispiel Spaniens soll demnach von 2029 bis zum Jahr 2038 ein Primärüberschuss von 2,7% des BIP aufrechterhalten werden. Derartig lange Phasen hoher Überschüsse sind historisch ungewöhnlich. Die erwarteten steil fallenden Schuldenquoten im Basisszenario der EU-Kommission bis zum Ende des Betrachtungszeitraums sind daher ohnehin als unrealistisch einzustufen. Wir verwenden sie dennoch, weil wir vor allem den Unterschied bezüglich der oben diskutierten DSA-Annahmen herausarbeiten wollen.

In unserem wichtigsten alternativen Szenario verändern wir die Annahmen der DSA wie folgt:

1.

Der kurzfristige Multiplikatoreffekt beträgt nicht 0,75 sondern 0,9 (konservative Schätzung auf Basis der internationalen Literatur).

2.

Der Multiplikatoreffekt baut sich erst nach fünf (statt drei) Jahren nach der Konsolidierungsphase vollständig ab (konservative Schätzung auf Basis der internationalen Literatur).

3.

Die gleichzeitige Konsolidierung in den EU-Mitgliedsstaaten vermindert über die Handelsbeziehungen die Wirtschaftsleistung (angelehnt an die empirische Evidenz in der internationalen Literatur), was in der Folge noch Zweit- und Drittrundeneffekte nach sich zieht und die Staatsbudgets negativ beeinflusst. Aus deutscher Sicht bedeutet das etwa, dass Budgetkürzungen bei Handelspartnern wie Frankreich oder Italien durch eine Reduktion der Nachfrage nach deutschen Erzeugnissen das deutsche Wachstum dämpfen.

Mit diesen eher konservativen, aber notwendigen Anpassungen zeigt sich, dass die simulierte inflationsbereinigte Wirtschaftsleistung während des Konsolidierungszeitraums 2025-2028 niedriger ausfällt als unter den Baseline-Annahmen der EU-Kommission (siehe Abbildung 1). Obwohl das BIP in allen Ländern bereits 2033 auf den ursprünglichen potenziellen BIP-Pfad zurückkehrt, führt die zwischenzeitliche Wachstumsschwäche zu deutlich höheren öffentlichen Schuldenquoten im Jahr 2038: +3,9 Prozentpunkte des BIP in Frankreich und in Italien, +3,1 Prozentpunkte in Spanien und +1,7 Prozentpunkte für Deutschland (siehe Abbildung 2).

Abbildung 1: DSA-Simulationen der inflationsbereinigten Wirtschaftsleistung

Quelle: Heimberger et al. (2024).

In Italien und Frankreich wird das BIP bereits im Basisszenario der EU-Kommission von 2025 bis 2028 nahezu stagnieren. In unserem Alternativszenario schrumpft die Wirtschaftsleistung sogar über diesen vierjährigen Zeitraum. Die Schuldenquoten werden aufgrund dieser Effekte trotz der starken Sparmaßnahmen zunächst weiter zunehmen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass im politischen Prozess unter diesen Bedingungen die Konsolidierungsziele verfehlt werden und dass Regierungen deshalb dem Wirtschaftsabschwung hinterhersparen werden müssen.

Abbildung 2: DSA-Simulationen der Staatsschuldenquote

Quelle: Heimberger et al. (2024)

Ein klassisches Eigentor

Auch wenn die Bundesrepublik selbst nur geringe Sparauflagen zu erwarten hat, um die reformierten EU-Fiskalregeln einzuhalten, versetzen in unserer Simulation die Kürzungen in den anderen EU-Staaten der konjunkturell schwächelnden deutschen Wirtschaft einen weiteren Schlag. So könnte das deutsche BIP aufgrund der Spillover-Effekte laut unserer Simulation mittelfristig bis zu 0,7% niedriger ausfallen als in der Projektion der EU-Kommission.

Die deutsche Wirtschaft stagniert bereits seit einiger Zeit. Ein tieferer Abschwung mit stärker wegbrechenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben dürfte die Schuldenquote entsprechend um 1,7 Prozentpunkte höher ausfallen lassen als von der EU-Kommission erwartet. Das geschieht laut unseren Simulationen, obwohl Deutschland über die kommenden vier Jahre gemäß den Kommissionsberechnungen den strukturellen Primärsaldo kumuliert um lediglich 0,4 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung verbessern muss, während von Italien der zehnfache Wert und von Frankreich der achtfache Wert verlangt wird. Es ist abzusehen, dass die aufgrund der schwächeren Wirtschaftsentwicklung geringeren Konsolidierungserfolge weitere Sparrunden nach sich ziehen – mit negativen Spillovers auf die deutsche Wirtschaft aufgrund bestehender Handelsverflechtungen.

Das Drängen des deutschen Finanzministers Christian Lindner auf strengere Regeln in den Verhandlungen könnte sich also als ein klassisches Eigentor erweisen. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Diskussion über die negativen Wachstumseffekte der anstehenden Sparpolitik und die Rückwirkungen auf die öffentlichen Haushalte jedenfalls dringend erforderlich ist. Wenn viele Regierungen in der EU gleichzeitig den Rotstift ansetzen, wird das die Wirtschaft länderübergreifend stärker bremsen als erwartet. Das wird auch Deutschland hart treffen, welches sich diesmal in einem schwierigen Umfeld aus Kriegen und Handelskonflikten wohl nicht über eine Ausweitung der Exporte an Nicht-EU-Länder aus seinen Wachstumsproblemen befreien wird können. Die DSA-Annahmen sind ein wichtiger Faktor in den reformierten EU-Fiskalregeln und sollten nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch diskutiert werden.

Mit dem neuerlichen Fokus auf Budgetkonsolidierung rückt eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen, um den Herausforderungen zur Erneuerung der Infrastruktur, des Klimawandels und der europäischen Souveränität zu begegnen, in weite Ferne. Dass öffentliche Investitionen in den EU-Mitgliedsländern nach wie vor grundsätzlich aus den laufenden Einnahmen zu finanzieren sind und Finanzminister Lindner Mario Draghis Vorschlag einer großen Investitionsoffensive ablehnt, die eine gemeinsame europäische Kreditfinanzierung für einen Teil der Investitionen einschließt, könnte der deutschen Wirtschaft auch langfristig schaden. Es ist also höchste Zeit für eine Diskussion über die gesamtwirtschaftlichen Effekte von Sparpolitik. Eine Ausweitung der Investitionsspielräume im Rahmen der europäischen und deutschen Schuldenregeln sowie weitere Schritte zur gemeinsamen EU-Finanzierung sind angezeigt.

 

Zu den Autoren:

Sebastian Gechert ist Professor für Makroökonomie an der TU Chemnitz.

Philipp Heimberger ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), wo er die Arbeitsgruppe Makroökonomik leitet.