Das Thema der sozialen Ungleichheit spielt im deutschen Wahlkampf eine Nebenrolle. Man mag das überraschend finden. Mir drängen sich jedoch andere Adjektive auf – skandalös etwa, und vor allem: gefährlich.
Der Hintergrund dieser Einschätzung ist ein einjähriger Aufenthalt in den USA, von dem ich gerade nach Deutschland zurückgekehrt bin. Dieser Aufenthalt vermittelte mir eine eindrückliche Warnung vor dem Ausmaß, das soziale Ungleichheit annehmen kann, und vor ihren Folgen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Um brutale soziale Wirklichkeiten zu erfahren, muss man Deutschland nicht verlassen. Dennoch – die USA sind anders.
Der folgende Bericht beruht auf der Prämisse, dass die Lebensverhältnisse in den USA zwar kein notwendiges, aber ein mögliches Zukunftsszenario für Deutschland und Europa darstellen. Manches deutet darauf hin, dass der wirtschaftspolitische Pfad, über den Deutschland zur Exportweltmeisterschaft gelangte und auf dem ihm Macrons Frankreich folgen will und die südlichen Eurostaaten folgen müssen, in jene Zukunft führt, die in den USA seit längerem schon deprimierende Gegenwart ist.
Zwar stieß ich kaum ins Landesinnere („fly-over country“) vor, doch auch die wirtschaftlich erfolgreichen und gesellschaftspolitisch eher liberalen Küstenstaaten bieten ausreichend Ungleichheits-Anschauungsmaterial. Ich lebte in Cambridge, Massachusetts. Dieses kleine Städtchen voller Eliteuniversitäten ist eines der teuersten in den USA. Die Monatsmiete für ein WG-Zimmer beträgt 1.200 Dollar. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung kostet 3.500 Dollar. Das Harvard Dining Hall Servicepersonal erreichte nach einem wochenlangen Streik einen Lohnabschluss, der bei Vollzeitbeschäftigung ein Monatsgehalt von 2.900 Dollar garantierte, vor Steuern wohlgemerkt.
Die Mehrheit der Professorinnen und Professoren in Harvard ist weiß, die allerwenigsten sind schwarz. Dabei ist die dramatische Unterrepräsentation von African Americans im Universitätssystem nur ein Diskriminierungsindikator unter vielen. Mehr als jeder andere sozio-ökonomische Indikator bestimmt auch 150 Jahre nach dem Ende der Sklaverei und 50 Jahre nach dem Civil Rights Act die Hautfarbe über Lebensaussichten. Rassismus ist der entsetzlichste Aspekt der amerikanischen Gegenwart.
Ein besonders medienwirksamer Teil der rassistischen Rhetorik und Politik der Trump-Regierung zielt auf die lateinamerikanische Minderheit. Dennoch richtet sich der systemische Rassismus in erster Linie gegen die 40 Millionen African Americans. Eine schwarze Hautfarbe zu haben heißt allzu oft, Opfer eines seit Beginn der Sklaverei im 17. Jahrhundert institutionalisierten Rassismus zu sein, der sich im 21. Jahrhundert durch Segregation, Jobdiskriminierung, Polizeigewalt und Masseninkarzeration manifestiert.
Das Ausmaß und die Brutalität dieses Rassismus übersteigen die Vorstellungskraft eines weißen Europäers. Ein guter Weg, dieser Vorstellungskraft aus der Ferne auf die Beine zu helfen, sind die Texte von Ta-Nehisi Coates: die Briefe an seinen Sohn, das Plädoyer für Reparationszahlungen, die Analyse von „white supremacy“ nicht als Begleiterscheinung, sondern als Ursache und Wesen von Trumps Präsidentschaft.
Fuhrpark und Trailer Park
Die Ostküste gilt neben Kalifornien als die fortschrittlichste und wohlhabendste Region der USA. Dennoch ist die Kluft zwischen Arm und Reich dramatisch. Die Reichen und Mächtigen leben zwar nicht, wie im dystopischen Science-Fiction Film „Elysium“, auf einem anderen Planeten. Aber sie leben auf ihren eigenen (Halb-)Inseln – Manhattan zu Bürozeiten, die Hamptons auf Long Island am Wochenende, Martha’s Vineyard im Sommer. Wer sich aufs Festland vorwagt, fährt in Sommerhäuser in den Berkshires (Massachussets) oder New Hampshire und zeigt sich betroffen angesichts der dort nicht zu übersehenden Gegensätze zwischen Fuhrpark und Trailer Park.
An der Westküste liegen die andere große Halbinsel, San Francisco, sowie die Bay Area. Facebook, Google, Apple. Obdachlosigkeit, Krankheit, Drogen. Männer (allzu oft sind es Männer), die den Fortschritt der Menschheit vorantreiben, indem sie anderer Leute Daten verkaufen. Männer, die bäuchlings im Schmutz am Straßenrand liegen. Die bei hellem Tageslicht auf einem belebten Fußweg defäkieren. Wer die Augen offen hält, sieht in San Francisco Obdachlosenunterkünfte an jeder Ecke. Die Stadt würde gerne mehr bauen, aber sie kann sich den Grund und Boden dafür nicht leisten, dessen Preise durch Tech-Gehälter in astronomische Höhen getrieben wurden.
Die US-Wirtschaft und der Arbeitsmarkt laufen auf Hochtouren. Dennoch ist die amerikanische Gegenwart für die große Mehrheit der Menschen düster. Die verfügbaren Einkommen der unteren 80 Prozent der Haushalte blieben in den vergangenen 34 Jahren hinter dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum zurück. Der durch das Wachstum der Wirtschaft geschaffene Wohlstand wurde weitgehend von der Oberschicht abgeschöpft. 28,6 Millionen Amerikaner hatten 2016 keine Krankenversicherung. Ärzte leisten im reichsten und mächtigsten Land der Welt Armutshilfe, indem sie an Wochenenden kostenlose Behandlungsstationen in strukturschwachen Regionen improvisieren. Tausende Kranke kommen und warten tagelang in der Sommerhitze, um eine Ärztin zu sehen. Psychische und physische Schmerzen treiben immer mehr Menschen in die Abhängigkeit von Opiaten und synthetischen Substituten. 2016 starben 64.000 Amerikaner an einer Überdosis.
Je nach Perspektive kann man den amerikanischen Kapitalismus als einen „Kapitalismus 0.2“ oder gar als einen „Kapitalismus 0.01“ bezeichnen, also als ein System, von dem vorrangig die oberen 20 oder das oberste eine Prozent der Bevölkerung profitieren, während der Rest bestenfalls Krümel des wachsenden Kuchens abbekommt.
Don´t try this at home
Mancher Leser mag diese Beschreibungen und die folgenden Ableitungen für Deutschland als allzu düster und alarmistisch empfinden. Wozu dieser Bericht, wenn Deutschland im direkten Vergleich mit den USA doch wie eine Insel der Toleranz und der sozialstaatlichen Solidarität wirkt? Die Gefahr liegt in der Kombination von unmerklich langsamen sozio-ökonomischen Veränderungsprozessen und einer Systemträgheit, die ein frühes Gegensteuern erforderlich macht. Die entscheidende Frage lautet daher weniger, wo unsere Gesellschaft heute steht, sondern vielmehr, wohin sie sich bewegt.
In Deutschland hat die Arbeitslosigkeit ein Rekordtief erreicht, doch die Ungleichheit der Arbeitseinkommen ist angestiegen. Zwar heißt das Wahlprogramm der SPD „Zeit für mehr Gerechtigkeit“, und auch von Ungleichheit ist dort die Rede. Doch die Sprache ist verhalten und entbehrt jeglicher Dringlichkeit, was bezeichnend ist für die politische Stimmungslage in Deutschland. „Armut“ gibt es im SPD-Programm nur als Kinderarmut oder Altersarmut. Dabei liegt die Armutsrisikoquote für junge Single-Haushalte bei 30%. Vollzeit zu arbeiten und dennoch in Armut zu leben ist in einem reichen Land wie Deutschland nicht erst dann ein Skandal, wenn die Überdosen Überhand nehmen. Die verfügbaren Einkommen der unteren 40% der Bevölkerung sind seit der Wiedervereinigung hinter dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum zurückgeblieben. In Westdeutschland haben die unteren 20% heute weniger als 1991.
Gleichzeitig rücken geopolitische Veränderungen und neue Migrationsmuster den Umgang mit Minderheiten in den Mittelpunkt. Die Zeiten, in denen Wirtschaftspolitik und Gesellschaftspolitik durch diskursive Tricks (Stichwort „Gastarbeiter“) auseinandergehalten werden können, sind unwiederbringlich vorbei. Die Bekämpfung von Rassismus wird auch in Deutschland zu einer zentralen politischen Herausforderung.
Die Agenda-Politik der Schröder-Regierung verfolgte das ausdrückliche Ziel, den deutschen Arbeitsmarkt nach anglo-amerikanischem Modell zu liberalisieren. Trotz ihres mäßigen Erfolgs wurde und wird diese Politik zum Vorbild für ganz Europa hochstilisiert und in Deutschland selbst kaum angezweifelt. Die Botschaft dieses Berichts lautet hingegen, dass das „Modell USA“ für große Teile der US-amerikanischen Gesellschaft ganz augenfällig krachend gescheitert ist. Und wir sollten uns dringend davor hüten zu glauben, dass es Rassismus, Massenarmut und Klassenkampf von oben in Deutschland nicht (mehr) geben kann.
Die Sediertheit unserer politischen Gegenwart mag im Vergleich mit dem Trump’schen Wahnsinn wie ein Segen erscheinen. Doch sie wird zum Fluch, wenn sie Warnzeichen unterdrückt und so einer amerikanischen Zukunft Vorschub leistet.
Zum Autor:
Benjamin Braun forscht am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln zu Fragen der Geld- und Finanzmarktpolitik. Das akademische Jahr 2016/17 verbrachte Braun als John F. Kennedy Memorial Fellow am Center for European Studies der Harvard University. Auf Twitter: @BJMBraun