Kommentar

Neoliberalismus-Kritik: Oversold

Mit seiner Kritik am Neoliberalismus hat der Internationale Währungsfonds in der letzten Woche für viel Aufsehen gesorgt. Bei genauerer Betrachtung fasst der IWF aber nur Positionen zusammen, die er schon seit Jahren vertritt.

Der Internationale Währungsfonds hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht besonders viele Freunde gemacht. Foto: Daniel Lobo via Flickr (CC BY 2.0)

Die Publikationen des Internationalen Währungsfonds sind nicht gerade dafür bekannt, im linken politischen Spektrum Kultstatus zu erreichen. Am letzten Wochenende gab es diesbezüglich ein Novum. In der jüngsten Ausgabe der IWF-Quartalszeitschrift Finance & Development (F&D) findet sich auf Seite 38 ein Artikel mit der Überschrift „Neoliberalism: Oversold?“.

Der Text wird in linken Kreisen vielfach als offizielles Eingeständnis für das Scheitern des Neoliberalismus gefeiert – schließlich war es ja der IWF, der in den letzten Jahrzehnten wie keine andere Institution die politische Durchsetzung neoliberaler Ideen verkörpert hat. Verfechter des freien Marktes schlagen dagegen die unsichtbaren Hände über dem Kopf zusammen.

Man sollte sich jedoch die Mühe machen, den Text genauer zu lesen. Denn was der IWF – oder genauer gesagt drei Ökonomen aus der IWF-Forschungsabteilung – schreiben, ist bei weitem nicht so radikal, wie die Überschrift vermuten lässt.

Demnach sind hohe Staatsschulden nicht unbedingt erfreulich, müssen aber auch nicht unbedingt schlecht sein. Eine übermäßige Haushaltskonsolidierung (a.k.a. Austerität) kann manchmal schädlich sein. Freie Kapitalflüsse sind an sich ganz okay, können aber auch negative Folgen haben. Zu viel Ungleichheit kann schädlich für das Wirtschaftswachstum sein. Kurz: Es gibt keine fixe (neoliberale) Agenda, die für jedes Land auf immer und ewig funktioniert. Wer hätte das gedacht.

Revolution klingt jedenfalls anders. Vielmehr wird in dem F&D-Artikel nur zusammengefasst, was in den letzten Jahren schon Gegenstand verschiedener IWF-Forschungspublikationen war. In der internationalen Ökonomenszene haut das niemanden mehr vom Hocker. Dass die Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit die negativen Folgen von Krisen abfedern kann, wurde schon 2012 vom IWF anerkannt. 2013 sorgte der damalige IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard mit einem Papier für Aufsehen, in dem eingeräumt wurde, dass bei der Konzeption der Griechenland-Programme die negativen Auswirkungen der Sparpolitik dramatisch unterschätzt wurden. Und 2014 stellte eine weitere IWF-Studie fest, dass sich eine zu hohe Ungleichheit wachstumsschädigend auswirkt.

Das scheinbare Anti-Neoliberalismus-Manifest enthält also nicht viel Neues – und mit einer weniger spektakulären Überschrift hätte der Text wohl auch kaum für Aufsehen gesorgt. Es scheint fast so, als wenn nicht nur der Neoliberalismus selbst „oversold“ wäre, sondern auch die IWF-Kritik daran. So verwundert es wenig, dass IWF-Chefvolkswirt Maurice Obstfeld am gestrigen Donnerstag höchstpersönlich klarstellte, der Artikel sei „fehlinterpretiert“ worden.

Zudem sollte nicht vergessen werden, dass wie bei jedem privatwirtschaftlichen Unternehmen auch beim IWF die Publikationen der Research- und PR-Abteilung nicht unbedingt aussagekräftig für das operative Geschäft sind. Es soll ja auch schon Autokonzerne gegeben haben, die kreative Lösungen für ihre Abgaswerte fanden und gleichzeitig tolle Energiewende-Prospekte herausbrachten.

Nehmen wir etwa den Fall Griechenland: Obwohl der IWF die negativen Auswirkungen der Sparpolitik selbst festgestellt hatte, drängte er noch im Sommer letzten Jahres sehr aktiv auf weitere Rentenkürzungen. Und dass der IWF in seinen Schuldentragfähigkeitsanalysen darauf hinweist, dass Griechenland einen klaren Schuldenschnitt benötigt, wirkt auch nur deshalb so beindruckend, weil der Rest der Troika-Klasse aus Problemschülern wie Wolfgang Schäuble oder Jeroen Dijsselbloem besteht.

Kapitalismus-Kritiker: Jetzt bloß nicht übertreiben

Dennoch werden künftig sicherlich viele Kapitalismus-Kritiker (die fälschlicherweise oft Kapitalismus und Neoliberalismus gleichsetzen) mit einer Finance & Development-Ausgabe wedeln, wenn mal wieder eine Reform ansteht, die auch nur im Entferntesten neoliberal mieft. Das lässt sich zwar durch den Inhalt wie gezeigt nur bedingt rechtfertigen – aber ein wenig Übertreibung ist für politische Aktivisten erstens legitim und zweitens vielleicht auch notwendig, wenn man bedenkt, wie lange und intensiv der gegen jede Form von Empirie immune Neoliberalismus-Fundamentalismus unsere Gesellschaften und Politiker in die Irre geführt hat.

Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass der (Neo-)Liberalismus auch ein paar gute Ideen hervorgebracht hat. Da wäre etwa die Betonung der Korrespondenz von Freiheit und Verantwortung, aber auch der vielgescholtene Freihandel und die Globalisierung, die alle zusammen nicht ganz unschuldig daran sein dürften, dass sich der weltweite Lebensstandard im letzten Jahrhundert so stark verbessert hat wie noch nie zuvor.

Diese in ihrem Kern vernünftigen liberalen Grundprinzipien sind allerdings über Jahrzehnte hinweg pervertiert worden und haben so viele Verlierer produziert, dass die Versuchung ziemlich groß ist, sie jetzt komplett ad acta zu legen –  was ebenfalls ein Fehler wäre. Nicht jede Deregulierung ist schlecht, nicht jede Privatisierung ein Ausverkauf öffentlichen Eigentums, nicht jede Kürzung von Staatsausgaben ein sozialer Kahlschlag – auch wenn gerade der IWF in der Vergangenheit viel zu oft versucht hat, das Gegenteil zu beweisen.