Seit Monaten streiten sich die Eurostaaten mit dem IWF darum, wie es mit Griechenland weitergehen soll. Der IWF will sich nur am aktuell laufenden dritten Rettungspaket beteiligen, wenn Griechenland ein signifikanter Schuldenerlass gewährt wird. Ansonsten glaubt der Währungsfonds nicht, dass die Tragfähigkeit der griechischen Schulden gewährleistet sei.
Die Eurogruppe und vor allem der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble sind dazu aber nicht bereit. Nach Wunsch der Europäer soll es höchstens geringfügige Schuldenerleichterungen etwa in Form von verlängerten Tilgungsfristen geben – und das auch erst ab dem Jahr 2018, wie Schäuble einem Bericht des Handelsblatts zufolge in einem vertraulichen Schreiben an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages geäußert haben soll.
Die Datengrundlage für diese Meinungsverschiedenheit liefern die sogenannten Schuldentragfähigkeitsanalysen (debt sustainability analysis, DSA). Dabei geht es primär um die Frage, ob Griechenland in der Lage sein wird, unter Annahme verschiedener Parameter seine Schulden zurückzahlen. Bereits in der vergangenen Woche wurde das DSA-Papier der Eurogruppe geleakt. Am Freitag gelangte auch die als „streng vertraulich“ eingestufte Analyse des IWF an die Öffentlichkeit.
Der IWF rechnet in seiner DSA zwei Szenarien durch: Das Basisszenario prognostiziert die Entwicklung ohne Schuldenerlass, im zweiten Szenario wird eine deutliche Reduzierung des Schuldendienstes angenommen (etwa durch Zahlungsaufschübe, Laufzeitverlängerungen und günstigere Zinskonditionen). Die Eurogruppe bietet insgesamt vier Szenarien an. Für unseren Vergleich haben wir nur das Worst-Case- und das Basisszenario verwendet (außerdem gibt es noch ein Best-Case-Szenario und eines, das zwischen Worst-Case- und Basisszenario angesiedelt ist).
Die wichtigste Kennziffer in den beiden DSAs ist natürlich die erwartete Entwicklung der Staatsschuldenquote. Hier die Projektionen:
Der Vergleich zeigt, dass das IWF-Basisszenario sogar eine schlechtere Entwicklung prognostiziert als die Europäer in ihrem Worst-Case-Szenario erwarten – die griechische Staatsschuldenquote wird demnach bis zum Jahr 2060 auf fast 300% des BIP steigen. Andersherum geht die Eurogruppe in ihrem Basisszenario von einer Entwicklung aus, die der Prognose des IWF im Falle eines Schuldenerlasses entspricht – wobei die Europäer allerdings natürlich einen solchen nicht annehmen.
Wie lassen sich diese extrem unterschiedlichen Prognosen erklären? Jedenfalls nicht über unterschiedliche Wachstumsannahmen. Sowohl IWF als auch Europäer gehen auf lange Sicht von einem jährlichen BIP-Wachstum von real 1,3% aus. Auf kurze Sicht erwartet der IWF sogar leicht höhere Wachstumsraten als die Eurogruppe.
Die Unterschiede beim BIP-Wachstum sind aber in keinem Szenario groß genug, um die stark abweichenden Prognosen zur Schuldenquote zu erklären. Der Hauptgrund dafür liegt vielmehr in den Annahmen für die Entwicklung des Primärsaldos (Haushaltssaldo ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes).
Die Eurogruppe hat ihre Forderung eines Primärüberschusses von 3,5% des BIP in beiden hier gezeigten Szenarien fest eingepreist. Im Basisszenario wird dieser erst bis zum Jahr 2040 auf 1,5% sinken. Der IWF hält das offenbar für vollkommen realitätsfremd – tatsächlich wäre eine so lange Phase mit einem derart hohen Primärüberschuss ein Novum in der modernen Wirtschaftsgeschichte. Auch auf kurze Sicht ist der IWF wesentlich pessimistischer.
Aus diesen unterschiedlichen Annahmen leitet sich der Bruttofinanzierungsbedarf ab. Der Chart erinnert naturgemäß sehr stark an die Prognosen für die Entwicklung der Staatsschuldenquote.
Die Europäer gehen in ihrem Basisszenario also davon aus, dass der griechische Schuldendienst auch nach Auslaufen der Rettungskredite zwar sehr hoch sein wird, aber wohl nicht untragbar. Der IWF sagt dagegen über diese Zahlenreihe indirekt das, was viele Kritiker der Griechenland-Rettungspolitik schon seit Jahren argumentieren: Nämlich dass das Schuldenproblem über die Hilfskredite nur vorläufig überdeckt und früher oder später wieder auf der Tagesordnung stehen wird, wenn es nicht zu einem erheblichen Schuldenerlass kommt.
Bemerkenswert ist außerdem, dass der IWF in seiner Tragfähigkeitsanalyse ausdrücklich fordert, der Schuldenerlass müsse größtenteils „upfront“, also jetzt, durchgeführt werden – obwohl der IWF selbst in seinem Schuldenschnitt-Szenario bis zum Jahr 2030 keine größeren Abweichungen vom von der Eurogruppe erwarteten Schuldenverlauf prognostiziert. Ob die Schuldenerleichterungen also jetzt oder 2018 durchgeführt werden, macht für die Verbesserung der Schuldentragfähigkeit während der nächsten 15 Jahre auch für den IWF eigentlich überhaupt keinen Unterschied, zumal Griechenland laut der momentanen Planung bereits 2024 den IWF vollständig ausbezahlt haben soll.
Übrigens erwartet der IWF genau wie die Europäer in den nächsten fünf Jahren eine deutliche Verbesserung der Lage in Griechenland, seine Prognose für das Wachstum des BIP ist wie gezeigt sogar optimistischer – egal ob mit oder ohne Schuldenschnitt.
Beide DSAs sollten natürlich grundsätzlich mit höchster Vorsicht genossen werden – nicht nur aufgrund des extrem langen Prognosezeitraums. Angesichts der derzeitigen Verhandlungen dürften sowohl der IWF, als auch die Europäer zumindest versucht sein, ihre jeweiligen Annahmen etwas in die gewünschte Richtung zu dramatisieren – da kann die Wissenschaftlichkeit schon mal aus Versehen auf der Strecke bleiben.
Aber klar ist bereits, dass eine Einigung angesichts dieser erheblichen Differenzen zwischen den Gläubigern weiterhin alles andere als ausgemachte Sache ist. Am kommenden Dienstag will die Eurogruppe bei einer weiteren Sitzung den Deal mit Griechenland besiegeln – aber selbst wenn es dann zu einem Kompromiss kommen sollte, ist nach wie vor offen, ob der IWF diesen auch mitträgt.